Innovationismus
Ralf Georg Bogners Einführung in die Literatur des Expressionismus
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
"[D]ie Wirklichkeit des Imperialismus, die Epoche der Weltkriege [sic!] und der Weltrevolution vom Standpunkt des bürgerlichen Intellektuellen aus gedanklich und künstlerisch zu bewältigen", dies und nichts anderes war der "konkrete Klasseninhalt" des Expressionismus. Kurz gesagt: Er war "die literarische Ausdrucksform der USP-Ideologie in der Intelligenz". Diese Auffassung vertrat zumindest Georg Lukács. Nun muss man hinter seinen 1934 verfassten Sätzen nicht gleich erste Anzeichen der von Adorno angesichts der von Lukács zwanzig Jahre später unter dem Titel "Die Zerstörung der Vernunft" veröffentlichten Generalabrechnung mit der 'bürgerlichen' Philosophie der vorangegangenen 100 Jahre konstatierten Zerstörung der Vernunft Lukacs' vermuten. Dennoch ist seine krud-marxistische Verortung einer der bedeutendsten literarischen Epochen des 20. Jahrhunderts weit davon entfernt, überzeugend zu sein.
Mit sehr viel feiner geschliffenem Instrumentarium nähert sich ihr der Rostocker Germanist Ralf Georg Bogner in seiner "Einführung in die Literatur des Expressionismus", wobei er zunächst einmal den Epoche-Begriff selbst kritisch beleuchtet. Ein konziser Forschungsbericht von den Anfängen der Expressionismus-Debatte bis hin zu den aktuellen Erkenntnissen und Standpunkten der Forschung schließt sich an. Sodann geht Bogner verschiedenen "Kontexte[n]" expressionistischer Literatur, wie etwa der zeitgenössischen politischen und sozialen Geschichte, der damaligen philosophischen und ideologischen Diskurse, dem seinerzeitigen Druck- und Verlagswesen oder auch der "Sozialisation der Autoren" nach, kommt auf die theoretischen Grundlagen, die zentralen Themen und die Gestaltungsweisen des literarischen Expressionismus zu sprechen und beschließt seine Einführung mit fünf Einzelanalysen "repräsentativer Werke".
Bogner stellt den Expressionismus als eine Epoche der Literaturgeschichte vor, die sich um 1910 von allen bisherigen Strömungen und Ausprägungen der Moderne ästhetisch und ideologisch absetzte, wobei sich die Bezeichnung Expressionismus in der "kulturellen Öffentlichkeit" zwar noch nicht zu Beginn der Bewegung abgezeichnet, sich jedoch schon während ihres Fortdauerns eingebürgert hatte. Dies allerdings, ohne dass sich die Vertreter der expressionistischen Epoche den Namen je "völlig konsensuell" zu eigen gemacht hätten.
Die Jahre zwischen 1910 und 1925 - in diesem Zeitraum verortet Bogner den Expressionismus - waren eine Zeit des "Nach- und Nebeneinander[s]" unterschiedlicher, "schwer von einander abgrenzbarer" literarischer Bewegungen und Tendenzen, die bei allen Differenzen gemein hatten, dass sie ausnahmslos die Innovation zum Prinzip erhoben - und sich eben darum in allem anderen unterschieden. Ein Umstand, der die Vermutung nicht ganz abwegig erscheinen lässt, nach hinreichendem historischen Abstand - vielleicht noch im 21., vielleicht aber auch erst im 22. Jahrhundert - könnten künftige Generationen die Epoche unter der literaturhistorischen Bezeichnung Innovationismus führen.
Heute jedoch werden die verschiedenen Stilrichtungen der Zeit noch getrennt, wenn auch nicht fein säuberlich, was angesichts der 'Sach'lage auch kaum möglich sein dürfte. Lassen sich einzelne Werke doch oftmals nur schwerlich bestimmten der einander überschlagenden und -kreuzenden Stilrichtung der anderthalb Dezennien, in denen nicht nur der Expressionismus Furore machte, zuordnen. Dennoch lassen sich Merkmale des literarischen Expressionismus festlegen. Nach Bogner sind dies etwa die "brüsk[e]" Zurückweisung eines naturwissenschaftlich-technisch fundierten Weltbilds als Grundlage von Dichtung, die "radikale Abkehr" von der "bürgerlichen Kunst", die "fast durchgängig negative Weise" der Darstellung des Bürgertums, das "typische Personal" expressionistischer Dichtung mit den "Gegensatzpaar[en]" des Bürgers und des Artisten sowie des Vaters und des Sohnes. Hinzu kommt die Literarisierung von "Verlierer[n], Außenseiter[n] und Ausgestoßene[n]" jeglicher Couleur. Als weitere Merkmale nennt Bogner die "Dissoziation des Ich", das "Gefühl der Instabilität bei der Verarbeitung sinnlicher Eindrücke", den Anspruch, "eine gänzlich neuen Deutung der gegenwärtigen Welt zu leisten", die "demonstrative Sprengung eingespielter sprachlicher und ästhetischer Normen", die "Tendenz zur Abstraktion", "rationalismusfeindliche und modernekritische Affekte", ein "drängendes Interesse an der Vormoderne", einen "fast adorativ-neidische[n] Blick auf die außereuropäischen, vorzivilisatorischen Kulturen", die "Utopie von einem neuen, ganz anderen Menschen" und, wie Bogner sich einmal erlaubt vage zu formulieren, "bestimmte rhetorische Strategien".
Mit alldem befindet er sich durchaus im Einklang mit den gegenwärtigen Erkenntnissen der Expressionismusforschung. Ebenso hinsichtlich der von ihm konstatierten "Hinwendung" des Expressionismus zu einer "Ästhetik des Hässlichen". Hier hätte eine kurze Bemerkung zu der Frage erhellend sein können, inwieweit der Expressionismus ein 1853 von dem Hegelianer Karl Rosenkranz publiziertes Werk rezipierte, dessen Titel den Topos von der "Ästhetik des Hässlichen" allererst populär machte, wenn nicht gar schuf. Rosenkranz allerdings kommt bei Bogner überhaupt nicht vor. Dafür jedoch umso ausführlicher Friedrich Nietzsche und dies, was dessen Einfluss auf den Expressionismus betrifft, sicherlich auch zu Recht.
Wie Bogner ausführt, muss ein Text nicht jedes der von ihm genannten Merkmale aufweisen, um dem Expressionismus zugerechnet zu werden, sondern nur "hinreichend viele". Zudem können die Merkmale auch in zeitgenössischen Texten zu finden sein, die nicht dem Expressionismus zuzurechnen sind. Dieses Kriterium der - bei Bogner allerdings nicht auf den Begriff gebrachten - Familienähnlichkeit expressionistischer Texte ist einleuchtend. Nur unterlässt es der Autor, ein Kriterium dafür zu nennen, wann ein Text hinreichend viele Merkmale aufweist, um als expressionistisch klassifiziert werden zu können.
In augenfälligem Kontrast zum umstürzlerischen Selbstverständnis der expressionistischen Bewegung stehen deren literarisierte Frauenfiguren, die, wie Bogner bemerkt, meist "ziemlich konservativ nach traditionellen symbolischen Kodierungen von Weiblichkeit definiert" werden. Als Grund hierfür macht er "die geringe tatsächliche Präsenz von Autorinnen innerhalb der expressionistischen Bewegung" aus. Er selbst behandelt denn auch nur eine Autorin etwas näher: Else Lasker-Schüler. Außerdem erwähnt er beiläufig Claire Goll und Emmy Hennings, die neben Lasker-Schüler die einzigen gewesen seien, die überhaupt "[e]inigermaßen bekannt" geworden seien. Dazu, dass sich dies ändern könnte, trägt sein Buch allerdings nichts bei. Dabei wären einige der Autorinnen schon Wert, dem Vergessen entrissen zu werden. Erinnert sei hier nur an Bess Brenk Kalischer, Henriette Hardenberg, Mechtilde Lichnowsky, Paula Ludwig und Margarete Susman.
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