Gründervater und Geheimbündler

Madeleine Grawitz porträtiert Michail Bakunin

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die französische Politologin Madeleine Grawitz hat eine Biografie Michail Bakunins geschrieben. Dies mutet angesichts der Tatsache, dass linke und schon gar revolutionäre Inhalte in der europäischen Sozial- und Politikwissenschaft momentan out sind, fast exotisch an. Doch steht sie mit ihrem Versuch, eine neue Darstellung eines der Überväter der Linken zu schaffen, nicht allein da; 1999 veröffentlichte der Engländer Francis Wheen eine erfolgreiche Biografie von Bakunins Zeitgenossen und Erzrivalen Karl Marx. Im Unterschied zu Wheen schafft Grawitz es aber nur teilweise, ihren "Gründervater" für die Leser des 21. Jahrhunderts relevant erscheinen zu lassen. Die ersten 48 Lebensjahre Bakunins sind faszinierend erzählt, aber diese Jahre sind auch der Stoff, aus dem linke Legenden sind.

Michail Alexandrowitsch Bakunin wurde im Mai 1814 als Sohn adliger Grossgrundbesitzer in der russischen Provinz geboren. Er bricht die vom Vater gewünschte Offizierslaufbahn ab und geht 1836 nach Moskau an die Universität, wo sich ihm eine vollkommen neue Welt erschließt, die Grawitz anschaulich und lebhaft schildert. Voll Begeisterung entdeckt er die Philosophie von Kant, Fichte, Schelling und schließlich Hegel sowie die Literatur der deutschen Romantik. Er entwickelt sich zum unkonventionellen Feuerkopf, dessen Herzenswunsch es ist, in Berlin Philosophie zu studieren, was ihm durch die finanzielle Hilfe des Freundes Alexander Herzen 1840 schließlich ermöglicht wird.

In Berlin findet er schnell Zugang zu den Intellektuellenzirkeln, er verkehrt in den Salons von Varnhagen-Ense und Bettina von Arnim; politisch einflußreich ist der Kontakt mit dem Kreis um Arnold Ruge. 1842 beschließt er, sich von Russland und der Universitätsphilosophie zu verabschieden und sich der Politik zuzuwenden. Aufgrund publizistischer Tätigkeiten bekommt er in Preussen bald Schwierigkeiten, woraufhin er in die Schweiz ausweicht. Hier trifft er seinen Freund Herwegh wieder und verliebt sich in die verheiratete Johanna Pescatini. Die Liebe bleibt unerfüllt, sie ist eine seltene Episode in Bakunins Leben, das zwar voll von Leidenschaft aber arm an Liebe war. Grawitz hält die in der Forschung vorgebrachte These, dass er impotent gewesen sei, für nicht sehr wahrscheinlich, auch die Hypothese, dass er homosexuell gewesen sei, lehnt sie ab. Sicher ist jedenfalls, dass er sein Leben lang ausgesprochen schwärmerische und enge Männerfreundschaften gepflegt hat.

1844 zieht Bakunin nach Paris, wo er sich langsam vom Hegelianer zum französischen Sozialisten wandelt. 1848 nimmt er an der Pariser Februarrevolution teil. Danach ist er in Frankfurt, sein Besuch der Paulskirchen-Versammlung macht ihn zum Feind des Parlamentarismus. Seine nächste Station ist Prag, wo er am Slawenkongress und dem nachfolgenden Aufstand teilnimmt. Als er nach dessen Ende nach Deutschland zurückkehrt, konzentriert er seinen revolutionären Eifer nun auf Osteuropa, sein "Aufruf an die Slawen" versucht die unfreien Völker Mittel- und Osteuropas zur Rebellion aufzustacheln. Grawitz bezeichnet es als Ironie der Geschichte, dass, während Bakunin im Mai 1849 in Dresden saß und über das Ausbleiben der slawischen Revolution grübelte, dortselbst der Aufstand ausbrach. Bakunin konnte der revolutionären Versuchung nicht widerstehen, obwohl die Ziele der Dresdner ihm ziemlich fern standen. Einer seiner Mitkämpfer war Richard Wagner, dessen Aufzeichnungen Quelle für Grawitz` Darstellung von Bakunins unermüdlichem revolutionärem Mut und seinem Ausharren bis zur Niederschlagung des Aufstandes sind.

Was folgte, war Festungshaft und ein Todesurteil, das schließlich in lebenslängliche Haft umgewandelt wurde, die Auslieferung an Österreich, ein neues Todesurteil, Begnadigung und Auslieferung an Russland. In der russischen Festungshaft verliert er seine Gesundheit, seine Zähne und seinen rebellischen Geist, berichtet Grawitz und erklärt damit Bakunins berühmte "Beichte an den Zaren". In diesem Dokument legt Bakunin seinem Herrscher gegenüber Rechenschaft ab und bereut seine Taten. Die Beichte ist verschieden interpretiert worden: als Verrat an der Revolution oder als geschickte List, um die Freiheit wiederzuerlangen. Grawitz widerspricht beiden Einschätzungen, sie hält die Beichte für eine genuine aber geschickte Darstellung des eigenen Lebens.

Hat anfangs Bakunins Schicksal noch ganz Europa bewegt, war er, als er 1857 auf Grund der Bemühungen seiner Mutter zu sibirischer Verbannung begnadigt wurde, fast vergessen. Sibirien erwies sich für Bakunin als überraschend angenehmer Ort: Gesinnungsgenossen gab es in Gestalt anderer Verbannter, er wurde Hauslehrer bei einer polnischen Familie, verliebte sich in seine Schülerin Antonia und heiratete sie 1858.

1861 gelingt ihm eine abenteuerliche Flucht über Japan und die USA nach London, wo er mit Alexander Herzen und anderen Freunden zusammentrifft. Im damaligen Europa finden sich für Bakunin allerdings wenig revolutionäre Betätigungsmöglichkeiten. Aktivitäten wie Herzens Herausgabe des Journals "Kolokol", interessieren ihn wenig, so verlegt er sich auf das Gründen von Geheimorganisationen, deren konspirativer Charakter ihm deutlich Freude bereitet, so Grawitz. Unglücklicherweise teilt sie diese Neigung und beschränkt sich in der zweiten Hälfte der Biographie fast ausschließlich auf diesen Aspekt, wobei die theoretischen Positionen Bakunins vernachlässigt werden. Auch nach seiner Flucht war Bakunin, mehr noch als Marx, eine Gestalt der europäischen Revolution. 1863 engagierte er sich für die polnische und finnische Sache. Ärgerlich ist, dass Grawitz es nicht für nötig hält, den Lesern die politischen Konstellationen, in denen Bakunin sich engagierte, zu erläutern. Dies gilt auch für Bakunins wichtige Rolle für die italienische Linke. 1864 siedelt Bakunin mit Ehefrau Antonia nach Florenz über, wo er einer Freimaurerloge beitritt und eine Geheimgesellschaft gründet. Wer aber nicht in Risorgimentogeschichte belesen ist, wird die Ausführungen über Bakunin in Italien, die zudem Ungenauigkeiten enthalten, kaum verstehen können. Während Grawitz die bekannte Auseinandersetzung mit Marx ausführlich und kaum unparteiisch darstellt, berichtet sie häufig, dass er auch mit Mazzini und Garibaldi Kontroversen hatte. Sie erwähnt aber nicht, worum es sich inhaltlich handelte, dafür erfährt der Leser, woher Garibaldi seine berühmten roten Hemden hatte. Dabei hat Bakunin mit den beiden Italienern einiges gemein, mit Garibaldi die Neigung zum Abenteuerlich-Revolutionären, mit Mazzini die Liebe zur Geheimbündelei. Alle drei verkörpern fast idealtypisch den Revolutionär des 19. Jahrhunderts.

Seit er 1868 in die Schweiz übergesiedelt war, kümmerte sich Bakunin vor allem um seine Organisationen und die "Internationale", in der die Konflikte mit Marx immer schärfer wurden, bis der Russe und seine Anhänger 1872 ausgeschlossen wurden. Direkt in revolutionäre Entwicklungen mischte er sich nur noch zweimal ein: 1870 beim Aufstand in Lyon, den Grawitz auf 60 Seiten schildert, und 1874, als er trotz fortschreitender Gebrechlichkeit am Aufstand von Bologna teilnimmt, dem Grawitz gerade sechs Zeilen widmet. Langatmig ergeht sie sich dagegen in der Beschreibung von Bakunins finanziellen Schwierigkeiten, denn der Revolutionär war fast immer pleite und lebte, ähnlich wie Marx, meist auf Kosten seiner Freunde. Im vorletzten Kapitel stellt Grawitz noch einmal Marx und Bakunin einander gegenüber, wobei Marx als Intrigant, Lügner, ordnungsbesessener Kleinbürger und unproduktiver Schwächling erscheint. Bakunin wird dagegen als freiheitsliebender Menschenfreund und locker antiautoritärer Bohemien beschrieben. Selbst offensichtliche Schwächen, wie sein Antisemitismus, werden von Grawitz recht nachsichtig behandelt.

Die mangelnde Distanz zu ihrem Helden bekommt der Biografie schlecht. Grawitz konzentriert sich in der Darstellung des späten Bakunin so ausschließlich auf ihn, dass sie dabei die Gesellschaft, die intellektuellen Konstellationen der Zeit und auch den Anarchismus als theoretische und politische Bewegung aus den Augen verliert.

Titelbild

Madeleine Grawitz: Bakunin. Ein Leben für die Freiheit.
Edition Nautilus, Hamburg 1999.
600 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3894013397

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