Das Spurenlesen der Antike

Eine Anthologie versammelt "Kunerts Antike"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In vielen Texten prominenter DDR-Literaten verschränkt sich eine Analyse der Gegenwart im Rahmen sozialistischer Ordnung mit einer Rezeption antiker Mythen und Motive. Kaum ein anderer Autor hat sich jedoch so kontinuierlich und intensiv mit der Antike auseinandergesetzt wie der 1929 geborene Günter Kunert. Etwa dreihundert seiner Gedichte und Prosatexte greifen auf antike Themen zurück, schreiben mythische Erzählungen weiter bzw. um, setzen sich mit der Kunst der Antike und ihren städtebaulichen Überresten auseinander oder thematisieren Ereignisse der griechischen und römischen Geschichte in ihrer Relevanz für die Gegenwart des Schreibenden. Eine von Bernd Seidensticker und Antje Wessels jüngst zusammengestellte Anthologie präsentiert einige exemplarische Topoi von "Kunerts Antike": geographische Orte, deren antiken Überresten der Schriftsteller auf seinen Reisen begegnet ist und die - in produktiver Auseinandersetzung mit den antiken Prätexten - 'Text' geworden sind, Kunst bzw. Architektur, Ereignisse der antiken Mythologie, Philosophie und Literatur sowie ausgesprochen illustre theoretische Texte, in denen Kunert auf verschiedene antike Bausteine rekurriert, um sein eigenes poetologisches Programm zu formulieren.

Anfänglich ist in Kunerts Texten noch eine affirmative Geste gegenüber dem Sozialismus unüberhörbar, die sogar von utopisch-überschwänglichen Zügen nicht frei war. "Ikarus 64" etwa bekennt sich zu den kühnen Taten des Helden, der durch die stürmische technische Entwicklung im 20. Jahrhundert besondere Aktualität gewonnen hat, spart problematische Züge zwar nicht aus, betrachtet sie aber als im historischen Prozess aufgehoben: "Denn Tag wird. / Ein Horizont zeigt sich immer. / Nimm einen Anlauf." Die beiden Herausgeber weisen in ihrem Nachwort-Essay darauf hin, dass "[d]ie spannungsreiche Verbindung von Kühnheit und Maßlosigkeit, stürmischem Aufbruch und kläglichem Sturz, Streben und Gefährdung [...] diese Gestalt zu einem einzigartigen Sinnbild der Moderne werden [läßt], in der Intelligenz, experimentelle Neugier und Risikobereitschaft zu einem ungeahnten zivilisatorischen Höhenflug geführt, zugleich aber auch nie dagewesene Gefährdungen und Katastrophen gebracht haben".

Diesen frühen bekenntnishaften Texten Kunerts folgen seit etwa Mitte der sechziger Jahre in verstärktem Maße mahnende, resignative Töne. Ansichtig werden Texte, in deren Zentrum 'gebrochene' Helden und düstere Motive stehen: Vergänglichkeit, Vergeblichkeit und Inhumanität erscheinen als allgemeine, diachrone Invarianten geschichtlicher Prozesse - ein Umstand, der auch das Verständnis von Kunst stark beeinflusst. In dem Prosa-Text "Nach der Lektüre Homers" (1973) distanziert Kunert sich von den sozial-bedenklichen Zügen des Odysseus, der seine Gefährten auf der gemeinsamen Irrfahrt unbarmherzig dem Untergang preisgibt, während er selbst "dank seinen Beziehungen, seinen Tricks, seiner völligen Charakterlosigkeit, die sich allem und jedem anpasst, durchkommt".

Und weiter heißt es: "Hinter dem Wort 'göttlicher Dulder' rauchen die Kamine und menschliche Erdgruben von Orten, deren Name kaum klassische Schönheit in der Phantasie erstehen lassen werden". Die für Kunerts Antike-Rezeption insgesamt so markanten Wandlungen lassen sich auch an den permanenten Um-Schriften der Figur des Prometheus beobachten. Hat der Autor 1975 in der Prosa-Skizze "Am Anfang und Ende: Prometheus" dessen Befreiung als ein unwahrscheinliches Wunder dargestellt, so lässt er den Titanen 1981 in "Prometheus II" "zu Recht von den Göttern bestraft" werden, weil er den Menschen dem "Geschenk des Feuers" auch die "Gabe der Vorausschau" genommen habe, und in "Durchblick II" (1988) trägt er die Schuld an den brennenden Städten.

Immer wieder begegnen in den späteren Texten Kunerts zerstörte Lebenswelten, die den hoffnungsfrohen U-Topoi der frühen Texte diametral entgegengesetzt sind. 1990 heißt es über die einstmals bedeutende Handelsstadt Milet: "Ärmliche Trümmer / fruchtlos ausgesät. / Hier sprach die Stimme rechtens: / 'wüst und leer!'".

Zu Recht heben die beiden Herausgeber hervor, dass es ein zentrales Anliegen der Texte Kunerts ist, "[d]ie toten Überreste zerstörter Lebenswelten zum Sprechen zu bringen und gegen das langsame Verschwinden ihrer Spuren anzukämpfen. Das Spurenlesen und 'Schattenentziffern' ist vielmehr seit langem schon ein zentrales Motiv seines Schreibens". Dementsprechend heißt es in Kunerts Text "Tagträume in Berlin und andernorts" (1964) vielsagend: "Solange man schreibt, ist der Untergang gebannt, findet Vergänglichkeit nicht statt, und darum schreibe ich: um die Welt, die pausenlos ins Nichts zerfällt, zu ertragen". Von der Illusion, durch das 'Anschreiben' gegen den Zerfall der Dinge auch der Korrosion der Geschichte entgegenwirken zu können, hat sich Kunert früh verabschiedet. In den Berlin-Skizzen liest man: "Diese Gemäuer haben ihre eigene unverwechselbare Ausdünstung, eine körperhafte Losung, durch die sie zu erkennen geben, daß das viele und vieldeutige Leben, welches Epochen hindurch in ihre Mauern gezogen, sie selber verlebendigt hat".

Ähnlich wie Walter Benjamin in seinem Projekt der "Städtebilder" versucht Kunert in seinen Berliner Ortsbeschreibungen nach Ansicht der Herausgeber die "Rekonstruktion vergangener Wirklichkeiten [...] mit dem Appell zu verbinden, sich der Aktualität des Vergangenen bewußt zu werden und aus der geschichtlichen Katastrophe zu lernen: Kunert kann weder die während des Holocaust noch die in den Zeiten des Stalinismus und real existierenden Sozialismus gemachten Erfahrungen vergessen, und er ist davon überzeugt, daß sich nur im Bewusstsein der Vergangenheit die von ihr durchdrungene Gegenwart verstehen lässt".

Eine wichtige Rolle spielt für Kunert auch die Gestalt des Orpheus. In einem Zyklus von sechs Gedichten aus den sechziger Jahren thematisiert der Schriftsteller die Funktion der Kunst und wendet sich gegen oberflächliche Lebenshaltungen und illusionären Optimismus. Die Hoffnung, dass Orpheus und Eurydike "aus verstorbenem Gestern" heraus schreiten ("Hinter der Kunst kommt / die Zukunft voran"), wird von der Wirklichkeit eindeutig widerlegt; Künste, die den Hades rühren, "bedeuten eine ernstliche Gefahr" und haben zur notwendigen Folge, dass Orpheus von den Mänaden zerrissen wird. Sobald er aber selbst einer Illusionskunst huldigt und den Hörer nicht nur "von seinen Leiden", sondern auch von "Gerechtigkeit und / eigenem Leben" ablenkt, trifft ihn Kunerts sarkastischer Spott.

Bereits Mitte der sechziger Jahre - also noch vor seiner Übersiedelung in den Westen am 10. Oktober 1979, bezieht Kunert sein in den Texten thematisiertes pessimistisches Geschichtsbild auf die Wirklichkeit in beiden deutschen Staaten. Sinnbild der Fehlentwicklung vor allem auch des westlichen Kapitalismus ist die Gestalt des Sisyphos. In dem Prosatext "Traum des Sisyphos" (1968) ist dieser auch ein Symbol der Entfremdung, deren Aufhebung nur im Traum möglich ist. Der Sieg des Menschen über die Natur ist jedoch immer nur um den Preis seiner Menschlichkeit möglich, und zwar nachdem der Stein zu Sisyphos, Sisyphos aber zu Stein ("hart und unerbittlich") geworden ist, der "mitleidlos, zornlos" den "lebendigen Brocken sisyphosgesichtigen Fleisches" in den Abgrund stößt. Nicht Sisyphos wird frei von der Mühe des nutzlosen Emporbringens, sondern der Stein von der Last des kontinuierlichen Emporgebrachtwerdens. So gipfelt "Sisyphos 1982" in der unumkehrbaren Aufforderung, den Stein zurückrollen zu lassen und freiwillig auf jeglichen Fortschritt zu verzichten. Die wechselseitige Metamorphose, die der Text gestaltet, führt nach Meinung der Herausgeber folgerichtig "zur rettenden Selbstentfremdung des ehemals an der Arbeit Verzweifelnden, der sich zwar in dem 'lebendigen Brocken sisyphosgesichtigen Fleisches' nun nicht mehr wieder erkennen kann, aber genauso wie das einstige Objekt seiner vergeblichen Arbeit gerade dadurch von den Qualen erlöst wird".

Diese Position, die seit den siebziger Jahren vermehrt zum Ausdruck kommt, verfestigt sich in den nachfolgenden Jahrzehnten. So verklingt der die Anthologie einleitende Text Kunerts "Alles begann mit Gustav Schwab" mit melancholisch-resignativen Untertönen: "Das Altertum ist nahezu versunken, die Götter sind vergessen, und Pan ist seit langem tot. Unser Schicksal ist ärmlich geworden, eingetauscht gegen eine Warenwelt, für die wir unsere Seele geopfert haben. Wir sind den Funktionen verfallen, und das ergibt am Ende einen Höllensturz".

Die Einsicht in die Sinnlosigkeit der Geschichte, die "unheilbare Hoffnung" auf einen zivilisatorischen Fortschritt aufzugeben und eine eigene, neu Sprache hierfür zu finden, können als die wichtigsten Aufgaben des Schriftstellers Günter Kunert benannt werden. Dass die Antike auf diesem mühevollen Weg eine stets kontroverse Begleiterin, neben "einem Instrument der Artikulation auch ein Refugium" war, belegt die mustergültig edierte und kommentierte Anthologie.

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Bernd Seidensticker / Antje Wessels (Hg.): Kunerts Antike. Eine Anthologie.
Rombach Verlag, Freiburg 2004.
283 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3793093867

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