Geste der Verabschiedung

Paul Celans frühe Gedichte im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Sommer 1940 lernte der junge Romanistikstudent und angehende Dichter Paul Antschel eine Schauspielerin kennen, die an dem von den Sowjets neu gegründeten jiddischen Staatstheater in Czernowitz debütierte. Er schickte ihr in rascher Folge, mit Blumen und Briefen, seine Gedichte - früher entstandene, vor allem aber solche, die er eigens für sie geschrieben hatte. "Ein leichtes war mir, darin wiederzulesen, was uns Stunden zuvor bewegt hatte", erinnert sich die Freundin und fährt fort: "So sammelte und bewahrte ich, Blatt um Blatt, die mir kostbaren handschriftlichen Gedichte. Später, als die Deutschen Rumänien besetzt hatten, schickte er mir seine Gedichte aus dem Arbeitslager Tabaresti, eines von vielen, wo militärpflichtige Juden, anstatt eines Militärdienstes, Zwangsarbeit leisten mußten. Die Zeiten waren in höchstem Maße ungesichert".

Nüchtern, fast lakonisch bilanziert Ruth Lackner - oder Ruth Kraft, wie sie dann später bis zu ihrem Tod am 31. März 1998 hieß - das Schreckliche, das sie und ihren Freund Paul Celan im folgenden Jahr betraf. Nach Einmarsch einer deutschen Einsatztruppe der SS im Juli 1941 wurden sofort mehrere tausend Juden ermordet, für drei Tage waren die Czernowitzer Juden vogelfrei. Aus dem anschließend errichteten Ghetto wurden sie systematisch deportiert. Celans Vater wurde im Herbst 1942 ermordet, seine Mutter im Winter, durch Genickschuss. Um der drohenden Deportation zu entgehen, hatte Celan sich, auf Anraten Ruths, zum Arbeitsbataillon gemeldet und überlebte unter elenden Bedingungen.

Im Februar 1944 konnte Paul Celan nach Czernowitz zurückkehren, und im Herbst begann er - in Erweiterung des Lager-Notizbuchs mit Datierungen aus dem Jahr 1943 ('Notizbuch 1943') und des durchpaginierten, broschierten Typoskripts mit dem Titel "Gedichte" von 1944 ('Ts 44') -, eine handschriftliche Sammlung seiner Gedichte anzulegen ('Ms 44'). In winziger kalligraphischer Schrift, die Titel rot abgesetzt, schrieb er 97 Gedichte in einen in schwarzes Leder gebundenen Reklamekalender aus der Vorkriegszeit - ein Geschenk für Ruth. Dieses kleine schwarze Buch brachte Celans dichterische Laufbahn in Gang. Ruth Lackner legte es Alfred Margul-Sperber vor, dem Mentor der deutschsprachigen Literatur in Rumänien, woraufhin dieser Celan jenen nachmalig berühmt gewordenen Empfehlungsbrief an Otto Basil, den Chef der Wiener Literaturzeitschrift "Plan", mit auf den Weg gab - jenen Brief, der Celans Poesie als "das einzige lyrische Pendant des Kafkaschen Werkes" bezeichnet. Und Frau Sperber war es, die den Namen Celan vorschlug, das Anagramm von Antschel, zu Ancel rumänisiert.

1985 wurde das kleine schwarze Buch, das die Schwelle zum späteren Werk Celans markiert, im Rahmen einer einmaligen nummerierten Auflage von 1000 Exemplaren bei Suhrkamp veröffentlicht. Zu dem Faksimile des Notizbuchs gab es einen Transkriptionsband, der neben dem Vorwort Ruth Krafts, einem frühen Foto Celans das Corpus der 97 Texte nebst Datierungsversuchen, Erläuterungsvorschlägen und dem Nachweis einzelner bereits publizierter Gedichte enthielt. Die Ausgabe der Gedichte 1938-1944 versammelte gewissermaßen - in der Auswahl des Dichters - das Werk vor dem Werk, das heißt vor dem Punkt, als Paul Antschel sich entschloss, sich als Paul Celan in die deutsche Literatur einzuschreiben. Das Notizbuch, als Geschenk an die Freundin, spart Verfassernamen und Titel der Sammlung aus. Der Transkriptionsband setzt vor den Abdruck der Texte die Bezeichnung "Gedichte", so Celan wie in dem Brief aus dem Arbeitslager vorgeschlagen hatte.

Mit der Publikation des ersten Bandes des Bonner Celan-Ausgabe haben alle in den genannten Gedichtsammlungen enthaltenen Texte und außerdem diejenigen Gedichte aus der Bukarester Sammlung von 1946 ('SU 1946'), die nicht in Celans erste Anthologie "Der Sand aus den Urnen" ('SU 1948') aufgenommen wurden, einen neuen Aufbewahrungsort gefunden; weitere, in keiner der genannten Sammlungen zu findende frühe deutschsprachige Texte kommen hinzu. Damit wird das von Ruth Kraft vorgegebene Datierungsraster nur unwesentlich verändert, da die frühesten Texte aus dem Jahr 1938 stammen, fast alle aber bis 1945, spätestens wahrscheinlich bis 1946 entstanden sind. Nur 39 der 129 Gedichte sind durch Datums- und Jahresangaben Celans aus der Entstehungszeit durch Manuskript- und Briefdatierungen zeitlich zuverlässig markiert. Die späteren Datierungshinweise Celans (insgesamt 32) müssen weiterhin als unsicher gelten, da sie mit den Manuskript-Datierungen aus der Entstehungszeit oft nicht übereinstimmen. Der Herausgeber dieses Bandes der Celan-Ausgabe, Andreas Lohr, hat sich mit einigem Recht für die Orientierung an einer möglichst verlässlichen, auch möglichst umfänglichen und zudem textgeschichtlich möglichst weit gediehenen Leitsammlung entschlossen. Damit konnte die Wahl einer solchen von Celan vorgegebenen Reihenfolge der Texte nur auf das 97 Texte umfassende 'Ms 44' fallen. Der kritische Vergleich der drei wegen ihres Umfangs in Betracht zu ziehenden Sammlungen hatte die editorische Entscheidung zur Folge, im Textband zunächst das 'Ms 44' - unter Einschluss der 11 später verändert in 'SU 1948' übernommenen Gedichte - vollständig wiederzugeben. Auf die Gedichte des 'Ms 44' folgen die Texte, die weder dort noch im Buch von 1948, aber in 'SU 1946' enthalten sind, auch wenn sie bereits in 'Ts 44' standen. Dann erst schließen sich die nur im 'Ts 44' zu findenden Gedichte an. Ergänzt werden diese drei Sektionen schließlich um die beiden einzigen nur im Notizbuch von 1943 vorliegenden Gedichte sowie sieben in keiner Sammlung platzierte Texte aus sehr unterschiedlichen, teilweise ungesicherten Überlieferungszusammenhängen.

Namenlos, titellos, und doch auf ein Du bezogen - so vermittelt die Sammlung schon durch ihre Anlage etwas vom Wesen Celanscher Lyrik, die Hermetik und Öffnung, das Dunkle und das Dialogische zu einem Gewebe verknüpft. Vor allem aber sind die frühen Gedichte Dokumente des Überlebens, nicht bloß ihres Verfassers, sondern der Poesie selbst in extremis. Und nicht zuletzt präfigurieren sie jene Denk- und Sprachfiguren, die Celan in seinen späten Texten ausfalten sollte. Gewiss sind nicht alle Arbeiten der Jahre 1938-1945/46 große Poesie, aber selbst die recht konventionellen Verse der ersten drei Jahre zeigen zumindest das frühe handwerkliche Vermögen Celans, dem Konventionelles wie das Sonett, wie die surrealistische Metapherntechnik zur Verfügung steht. Gewählt und schön - in Klang- und Bildwelt sind alle Gedichte; auch die aus dem Arbeitslager, gerichtet an die "Schwester im Dunkel".

Der Ton des von Celan verehrten Rilke ist im Frühwerk unüberhörbar: "Kein ankerloses Tasten stört die Hand / und nachts verstreutes Heimweh trägt die Not / gefalteter Gebete zitternd hin vors Rot / im Bangen deiner Züge dunkeler gespannt". Der "Tau", die "Schwester", das Gold, Schwarz und Blau, die Schwermut und Angst Trakls begegnen immer wieder (etwa in "Die Wiese im Wald"), aber auch Reminiszenzen an die Lektüre von Tausendundeiner Nacht ("Sindbad"), ein auf die vergebliche Liebe zu Ruth Lackner übertragenes, gleichsam modernisiertes mittelhochdeutsches Tagelied, und Volksliedhaftes wie der "Fackelzug", der auf das Leben im Arbeitslager beziehbar ist: "Kamerad, die Fackel heb / und den Fuß setz' stramm. / Ferne ist nur Drahtgeweb, / Und die Erde Schlamm".

Aber neben den mitunter spätromantisch gefärbten Liebes- und Vergeblichkeitsgedichten für Ruth, deren elegischer Ton des Verzichts der frühen Lyrik das Traumhaft-Jenseitige verleiht, finden sich schon bald Texte, die zeigen, dass die Voraussetzung von Celans Schreiben spätestens seit Winter 1942/43, nachdem er von der Ermordung der Mutter erfahren hatte, der Tod war. Der Tod vor allem der Mutter. Das Gedicht "Winter" beginnt: "Es fällt nun, Mutter, Schnee in der Ukraine ... / Des Heilands Kranz aus tausend Körnchen Kummer ... / Von meinen Tränen hier erreicht die keine. / Von frühern Winken nur ein stolzer stummer ...". Es mündet in die Rechenschaft des Sohnes, die das eigene Dichten und damit auch das eigene Überleben in Zweifel zieht: "Ich blieb derselbe in den Finsternissen: / erlöst das Linde und entblößt das Scharfe? / Von meinen Sternen nur wehn noch zerrissen / die Saiten einer überlautern Harfe ... / Dran hängt zuweilen eine Rosenstunde. / Verlöschend. Eine ... Immer eine ... / Was wär es, Mutter: Wachstum oder Wunde - / versänk ich mit im Schneewehn der Ukraine?" Das Gedicht sieht die "Rosenstunde" als mystische Vereinigung mit der Mutter, die der Tod bekräftigte. Und sein Titel, was vielleicht auch nicht mehr als eine ästhetische Nuance ist, ist als einziger in schwarzer Tinte geschrieben.

Von heute aus gelesen, stellt das Gedicht eine Frage, die erst spätere Texte Celans beantworten: dass sich das poetische menschliche "Wachstum", das Wort (hebr. milah), der "Wunde" (hebr. mijlah) verdankt, die sich für Celan niemals schloss. Das Bewusstsein, überlebt zu haben, machte die Toten zur Instanz, die Mutter allen voran, die "Nähe der Gräber" zum Mnemotop schlechthin. In "Nähe der Gräber", einer Vorstufe zu dem Gedicht "Espenbaum", heißt es: "Kennt noch das Wasser des südlichen Bug, / Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug?" Am Bug lag das Arbeitslager, in dem Celans Eltern ermordet wurden, deren Gräber er nicht einmal kannte und die ihm auch deshalb so unausweichlich nah waren. Am Ende des Gedichts aber stellt das lyrische Ich die Frage, die auf den Antrieb jener poetischen Transformationsarbeit verweist, bei der im Lauf von Celans Schreiben sich alles noch Überkommene in Sprache und Form immer mehr auflösen musste, das Gedicht immer ausschließlicher zum Mittel wurde, um sich von der Last und Lüge des schon Gesagten auf die Suche nach dem noch Sagbaren zu machen: "Und duldest du, Mutter, wie einst daheim, / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?" Mit dieser Frage beginnt Celans Weg, der immer tiefer in den Schmerz, das Geheimnis der Sprache, ins Schweigen führte.

Celans Jugendgedichte wurden zumeist als epigonale Fingerübungen gelesen. Nur selten haben sich Interpreten der Mühe unterzogen, die Strukturen und Schwerpunkte dieser Texte vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit zu untersuchen und jene Elemente herauszuarbeiten, die auf Celans späteres Werk verweisen. Die Bedeutung der frühen Gedichte liegt aber vor allem darin, dass sie dort, wo sie die überlieferten Sprachbilder und -figuren aufgreifen, eine Geste der Verabschiedung vollziehen, die auch für spätere Texte Celans konstituierend ist. Es sind nicht nur deutschsprachige, sondern der deutschen Tradition entsprungene Gedichte, die gleichzeitig in sie zurückkehren und sich mit ihr auseinandersetzen. Angesichts der Gräuel der Shoah sind die Gedichte Dokumente einer schwindenden Hoffnung, das Erfahrene in den überlieferten Bildern, Rhythmen und Gesängen zum Ausdruck bringen zu können. Es sind Dokumente einer endgültigen Trennung von der unreflektierten Freude an der lyrischen Sprache und der poetischen Phantasie. Es sind Dokumente der Schwermut und der Sehnsucht, Dokumente des Scheiterns dieser Worte angesichts der Vernichtung des Traums von einer heilen Welt.

Celans Lyrik beginnt innerhalb der traditionellen lyrischen Sprechweise, doch tritt sie dann bereits jenen Weg an, den Celan später im "Meridian" die "Absicht des Gedichts" nennt, die überlieferten "Tropen und Metaphern ad absurdum" zu führen. Nach 1940 öffnet sich, inmitten noch scheinbar der Tradition verpflichteter Gedichte, die Zäsur zwischen der versprachlichten Phantasie und Musikalität der tradierten Lyrik und ihrer Unzugänglichkeit gegenüber den Ereignissen einer mörderischen Jetzt-Zeit. Mit dem von Celan gewünschten Titel "Gedichte" kommt auch ein Hinweis auf die dialektisch verstandene poetologische Perspektive des Gedichtbands insgesamt zum Ausdruck: als Bestandsaufnahme und Revision lyrischer Möglichkeiten sowie als Bewusstsein dichterischer Kontinuität. In der wiederholten Anzweiflung der überlieferten Weltbilder stellen Celans frühe Gedichte einen Bruch zu der in der damaligen Dichtung angelegten Tendenz zum Euphemismus und zur ästhetisierenden Verharmlosung dar. Sie haben vor allem den überlieferten "Tropen und Metaphern" der Lyrik die "Schrunde" dieser Zeit auf den Text/Leib geschrieben und damit die späteren Gedichttexte antizipiert.

Das gilt vor allem für die bereits in den frühesten Gedichten zu beobachtende Ausrichtung auf die Sprache. Aus dem dichterischen Augenmerk für die Feinheiten der Sprache, aus den mimetischen Kadenzen der Verse und den beschwörenden Lautverbindungen der Worte, aus der Polyvalenz der Bedeutungen und der Entfaltung verborgener Korrespondenzen entstehen schon hier Momente dessen, was Winfried Menninghaus die "Magie der Form" in den Texten Celans genannt hat. Indem diese Sprache über ihren reinen Mitteilungscharakter hinausgeht, konstituiert sie in einem performativen Akt eine poetisch gewonnene Wirklichkeit, deren Beziehung zur außersprachlichen Welt bewusst gemacht und problematisiert wird. In den frühen Gedichten wie auch im späteren Werk Celans befragen die Texte, wie Vivian Laska überzeugend nachweisen konnte, vor allem ihre eigenen Mittel, Möglichkeiten und Implikationen, Lyrik in "finsteren Zeiten" zur Darstellung zu bringen.

Nicht ob, sondern wie angesichts von Auschwitz noch Gedichte zu schreiben sind, wird zunehmend zur zentralen Frage der Selbst-Reflexion. Dabei ist schon in diese frühen Texte die scheinbare Unvereinbarkeit der Bilder und Bezüge als Zeichen der Inkommensurabilität mit einer zersplitterten Welt eingeschrieben. Klaus Voswinckel zufolge bedient sich die Schreibweise Celans als Ausdrucksmittel der "Entpoetisierung": "Nicht poetisieren, heißt darum bei Celan auch immer, die Poetisierung wieder aufheben, sie dekomponieren und gegen sie anschreiben [...]. Die Dichtung stellt sich zunehmend selbst in Frage, eben weil sie Dichtung ist". Schon die frühen Gedichte Celans bieten viel Platz für ihre "Partikelgestöber": Raum für den Sinn zwischen den Wörtern.

Titelbild

Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Band 1: Frühe Gedichte.
Herausgegeben von Andreas Lohr, unter Mitarbeit von Holger Gehle in Verbindung mit Rolf Bücher.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
511 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-10: 3518414852

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