Dreierlei Indienbilder, brav abgearbeitet
Carmen Ulrichs Dissertation zu Fichte, Grass und Winkler
Von Christoph Schmitt-Maaß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZunächst mag es befremdlich erscheinen, Hubert Fichte, Günter Grass und Josef Winkler in einem Atemzug zu nennen, vor allem, wenn es um deren Indienrezeption geht. Carmen Ulrichs Dissertation geht von Marcel Prousts Reisevergnügen aus, das in Abreise und Ankunft bestehe. Die Verknüpfung "von zwei deutlich unterschiedenen Ortsindividualitäten" begründet für ihn den Reiz des Reisens. Ulrichs Untersuchung setzt an diesem Punkt ein: Zwischen erlebter Wirklichkeit und der Einbildungskraft bilde sich ein Raum, den sie mit Walter Benjamins Metapher der Schwelle als "ein Drittes" fasst.
Das autorenzentrierte Vorgehen Ulrichs bietet den Vorteil, konzentriert auf ausgewählte Texte zugreifen zu können und deren Charakteristika herauszuarbeiten: im Falle Fichtes "Wolli Indienfahrer", im Falle Grass' "Der Butt" und "Kopfgeburten" und im Falle Winklers "Domra". Die Autorin hat sich auch der Mühe unterzogen, an den Ort des Geschehens zu reisen und Kontakt mit indischen Philologen - etwa Anil Bhatti - aufzubauen. Ein durchaus produktiver Ansatz - weniger produktiv scheint er für die Autorin gewesen zu sein. All zu konventionell ließt sich ihre Untersuchung, all zu wenig finden die Stimmen der indischen Ratgeber Eingang in den Text. Das ist verschenktes Potenzial, denn statt am Ganges über deutschen Idealismus zu meditieren, hätte sich ein produktiver und auch der eigenen Forschung gegenüber kritischer Ansatz angeboten.
Störend zudem die Häufung rhetorischer Fragen und der gleich nachgelieferten Antworten. Sie wirken wie eine Kompensation der Fragwürdigkeit der eigenen literaturwissenschaftlichen Praxis, die von Fragen der politischen Interaktion gänzlich unbeleckt scheint (postcolonial studies). Folgerichtig mündet das Günter Grass-Kapitel in eine Apologie des Nobelpreisträgers. Dabei ist die Fallhöhe der Grass'schen Texte gegenüber denen Fichtes oder Winklers nahezu unübersehbar. Überhaupt wirkt Ulrichs Winkler-Deutung am überzeugendsten; Grass, aber vor allem Fichte fungieren da nur als gezwungener Maßen eingeführte Antipoden. Unbefriedigend bleibt hingegen auch der Versuch, Josef Winklers Texte mit Gadamers dialogischen Hermeneutik-Konzept aufzuschließen - dazu setzt "Domra" all zu ostentativ auf Erkenntnisverweigerung.
Insgesamt hat Ulrich ein spannendes Thema verschenkt, zumal sie durch ihre Begegnung mit Indien alle Möglichkeiten der Interaktion und Ausweitung des wissenschaftlichen Diskurses hatte. Was herauskommt, ist zu sehr befangen in den Beschränkungslinien einer akademischen Philologie - mit etwas mehr Mut zum kritischen Widerspruch hätte die Arbeit sicherlich ein weiteres Interesse verdient.