Neues von der Gegenkultur

Der dritte Band des Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft treibt die Grenzöffnung der Disziplin voran

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie seine Vorgänger bietet auch der dritte und letzte Teil der seit 1997 erscheinenden Neubearbeitung des "Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte" (RLW) unter der Federführung von Harald Fricke, Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Klaus Weimar und Friedrich Vollhardt neben einer recht umfassenden und systematischen Bestandsaufnahme des literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs auch einen repräsentativen Querschnitt durch die in den letzten Jahr(zehnt)en neu entstandenen Theoriebildungen. Damit trägt das RLW dem Umstand Rechnung, dass kein Teilbereich der Literaturwissenschaften in den letzten Jahren einen ähnlichen Boom erlebt hat wie die Literaturtheorie. Etliche Artikel bieten einen kompakten und gut lesbaren Überblick über die Vielfalt der literaturwissenschaftlichen Ansätze, so etwa die zum Teil ausgezeichneten Artikel zur Phänomenologischen Literaturwissenschaft, Philologie, Poesie, Poetik, Postmoderne, Postrukturalismus, Psychoanalytischen Literaturwissenschaft, Rezeptionsforschung, Statistischen Literaturanalyse, Strukturalismus, Systemtheorie, Übersetzung, Wirkungsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte.

Zudem wird neben traditionellen Methoden auch in diesem Band wieder eine Vielzahl von kontextorientierten Ansätzen in einem internationalen und interdisziplinären Zusammenhang vorgestellt. Dies hat zur Folge, dass eine ganze Reihe von Amplifikationen des 'Literarischen' diskutiert werden. So findet sich ein Eintrag zur 'Pop-Literatur', in dem Moritz Baßler die literarischen Formen zusammenfasst, die sich im Gegensatz zur Tradition an der Ästhetik der kommerziellen Jugendkultur, Medien- und Warenwelt orientieren und intertextuell auf diese bezogen bleiben. Wie eng diese erst seit den 1980er Jahren zu beobachtenden Gattung mit anderen aktuellen Modewellen des Entertainments und elitären Zirkeln postmoderner Kunst zusammenhängt, lässt sich beobachten, wenn man dem artikelinternen Link zu dem multimedialen Genre der 'Videoclips' folgt, unter dem Jan-Oliver Decker und Hans Krah die Medien Musik und Sprache sowie Film so miteinander verzahnt sehen, dass "neue Kohärenzen und damit ein neuer Sinn entsteht". Der Videoclip mutiert spätestens mit Sendebeginn des weitgehend auf die Ausstrahlung bzw. Thematisierung von Musik-Clips spezialisierten Fernsehkanals MTV am 1.8.1981 in den USA "vom Werbetext zur autonom vermarkteten Ware, die Kunstcharakter annehmen kann und zum Sammelobjekt wird. Dem entspricht eine inhaltliche Loslösung vom reinen, abgefilmten Gesangsauftritt und der Ausbildung einer eigenen Ästhetik".

Damit verlässt die Literaturwissenschaft ihre engen Grenzen und gerät in die Nähe der 'cultural studies', die das Musikvideo als Kommunikationsform der Pop-Kultur hinsichtlich seiner soziokulturellen Gebrauchs- und Funktionskontexte analysiert. Die nächste denkbare Verknüpfung liegt nicht nur nahe, sondern wird dem interessierten Leser - wieder über ein Link - auch angeboten: zur 'Underground-Literatur'. 'Underground', so erfährt man in dem entsprechenden Artikel von Walter Erhart, "gilt in der 2. Hälfte des 20. Jhs. als Sammelbegriff für literarische und künstlerische Bewegungen, die sich in formaler, inhaltlicher und distributionstechnischer Hinsicht von jeder etablierten Literatur und Kultur abgrenzen". Die Bezeichnung, so wird schnell deutlich, sucht Anschluss an moderne ästhetische 'Subkulturen' und gesellschaftliche Protestbewegungen - analog und in Konkurrenz zu Phänomenen wie der 'Pop-Kultur'.

Diese kurze Stippvisite macht deutlich, dass sich die Suche nach verschütteten Traditionslinien in den letzten Jahren nicht nur intensiviert hat, sondern es im Rahmen der Re-Lektüre und Neubewertung von literarischen Texten auch zu einer Korrektur des herrschenden Kanons, zur Erweiterung des Literaturbegriffs und zu einer Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Methoden der Literaturwissenschaft gekommen ist. Mögliches Zentrum dieser gegenstrebigen Fügung ist das, was Hans Ulrich Gumbrecht in einem Artikel für den ersten Band unter dem Lemma 'Gegenkultur' rubriziert hat - "[d]as Ensemble jener symbolischen Handlungen und ihrer Manifestationen, welche sich - kritisch und oft als Angebot einer Alternative - mit einer 'offiziellen' oder 'herrschenden' Kultur auseinandersetzen". Gumbrecht benennt auf der Grundlage dreier verschiedener Typen der Negation von offiziellen Kulturen drei Funktionen des Begriffs 'Gegenkultur'. So kann der Terminus "auf die provokantesten Positionen innerhalb von Bewegungen historischer Erneuerung bezogen werden ('asymmetrische Negation')", er kann Spiel-Welten bezeichnen, die sich "als Umkehrungen von oder Gegenwelten zu offiziellen Kulturen inszenieren ('symmetrische Negation')" oder "jene oft in Anarchie mündenden Situationen charakterisieren, in denen die von der offiziellen Kultur gesetzten Tabus und Erfahrungsgrenzen überschritten werden, ohne daß neue Tabuierungen und Grenzziehungen als Gegenbewegung auftreten ('rein rekursive Negation')".

Gumbrechts Ausführungen zur Gegenkultur führen in den dritten Band zurück, und zwar zu einem der gelungensten und lesenswertesten Beiträge: dem Artikel über Pornografie, unter der Niklaus Largier die "Darstellung sexueller Akte in Wort, Bild oder Ton [versteht], die darauf abzielt, den Rezipienten sinnlich zu erregen oder durch die Obszönität der Darstellung zu provozieren". Während die konservative Kulturkritik die Explizitheit pornografischer Darstellungen anklagt und negative Auswirkungen auf den kulturellen Wertekonsens behauptet, weist die feministische Kritik auf die sexistische Natur und den patriarchalische Strukturen bejahenden impliziten oder expliziten Gewaltcharakter pornografischer Darstellungen hin. Im Gegensatz dazu hat die Pornografie, wie Largier mit Recht unterstreicht, vor allem in Bereichen post-feministischer, lesbischer, homosexueller und sadomasochistischer Kulturen eine neue Bedeutung erhalten, in der sich radikale Kulturkritik mit expliziter pornografischer Darstellung und dem Votum für uneingeschränkte Meinungsfreiheit verknüpft. Im Anschluss an die Sexualwissenschaft seit den 1960er Jahren, die diskursgeschichtlichen Arbeiten Michel Foucaults und die Gender studies ist ein neues Interesse an der Geschichte der Pornografie erwachsen, wobei sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht nach Largier vor allem die Frage stellt, "wie anhand der neuzeitlichen pornografischen Literatur die Sexualität als charakteristisches Moment menschlicher Subjektivität und historischer Machtkonstellationen zu begreifen und von anderen historischen und kulturellen Ausdrucksformen abzugrenzen ist". Dass hierbei noch erheblicher Spiel-Raum für die wissenschaftliche Forschung besteht, verdeutlicht der Umstand, dass erotische und pornografische Lust von Largier offenkundig in keinem Zusammenhang mit dem Begehren der Texte selbst gesehen wird.

Hier ließe sich die von Thomas Anz ("Literatur und Lust", München 1998) aufgeworfene Frage, was das Vergnügen an Literatur mit erotischer Lust gemeinsam habe, um die Frage erweitern, welche Interdependenz es zwischen erotischer und der 'Lust am Text' gibt, von der Roland Barthes so eindrücklich gesprochen hat. Gerade in diesem Punkt kristallisiert sich das von Gumbrecht beschriebene Phänomen der Gegenkultur.

Insgesamt bestätigt auch der abschließende Teil des RLW den Eindruck, den die beiden vorangehenden Bände erweckt haben: ein Lexikon als Echoraum vielstimmiger Ansätze, das in seiner Kompaktheit und seinen unendlich vielen klugen Beobachtungen für Lehrende und Studierende aller literaturwissenschaftlichen Disziplinen fortan ein unentbehrliches Hilfsmittel sein wird.

Titelbild

Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band III. Neubearbeitung. P-Z.
Mitherausgegeben von Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar.
De Gruyter, Berlin und New York 2003.
912 Seiten, 158,00 EUR.
ISBN-10: 3110156644

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