Alle Arten unstillbarer Trauer

Susanne Heinrichs "In den Farben der Nacht" perfektioniert die Befindlichkeitsprosa

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie schön, dass es Susanne Heinrich gibt! Eine Zwanzigjährige mit pechschwarzem Haar und finsterem Blick, die pausenlos zu rauchen scheint und so viel Eyeliner benutzt, dass sie aussieht wie ein Panzerknacker. Eine Zwanzigjährige, die am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert und technisch perfekte Kurzgeschichten produziert, die mit Sätzen beginnen wie: "Zwei Zigaretten später liege ich auf ihm und weiß nicht, wie ich dahin gekommen bin". Eine Zwanzigjährige, die im Juni mit bemerkenswerter Professionalität in Klagenfurt las, in Interviews mit ebenso bemerkenswerter Eloquenz über ihre Kopfgeburten urteilt und die in den Feuilletons mit erstaunlicher Regelmäßigkeit nicht besprochen, sondern angehimmelt wird - ihr Vorstellungsfilmchen beim Bachmann-Preis bestand aus einer endlosen Serie von Nahaufnahmen ihrer tieftraurigen Kulleräuglein. Irgendwo zwischen Lolita-Fantasie und Stummfilmstar, verruchter Chansonette und gothic killer doll bewegt sie sich, und bleibt dabei eben immer auch: eine Zwanzigjährige. Mit "In den Farben der Nacht" legt sie jetzt ihren ersten Erzählband vor.

Wie schön, dass es Susanne Heinrich gibt! Aber vielleicht wäre es für die Kritik einfacher, wäre in "In den Farben der Nacht" plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, ganz ohne Autorin und Foto im Einband, ganz ohne Altersangabe und sinnlichem Klagenfurt-Einspieler, sprich: ganz ohne Personendiskurs. Die junge deutschsprachige Literatur braucht nicht noch ein richtungweisendes Debüt, nicht noch ein Buch, über das alle sprechen und deren Autorin man dann bei ihrem Zweitling vorwerfen wird, man könne das alles doch schon längst nicht mehr hören. Was die Feuilletonisten allerdings dringend bräuchten, wäre ein Standardwerk, ein Buch, das in alle Schubladen passt und sich bei jeder Diskussion als schlagkräftiges Argument anführen ließe. Denn das heftigst herbei geschriebene Fräuleinwunder-Phänomen ist wie der gläserne Schuh aus "Cinderella": er will keiner der Damen so recht passen. Judith Hermann ist zu nüchtern, Juli Zeh zu politisch, Alexa Hennig von Lange zu alt, Mariana Leky zu leicht. Enter Susanne Heinrich. "In den Farben der Nacht" ist das Buch, das viele erwartet und noch mehr befürchtet haben: the Fräuleinwunderbuch to end all Fräuleinwunderliteratur.

Wie schön, dass es Susanne Heinrich gibt! Zwölf Texte umfasst "In den Farben der Nacht", es könnten auch drei sein oder dreiundzwanzig, es spielt keine Rolle, denn alle klingen sie gleich. Jeder, der in den letzten zehn Jahren ein Buch eines jungen deutschen Autors in die Hand genommen hat, wird sich sofort heimisch fühlen in diesen Geschichten. Jedes Mal irrt eine latent verstörte Ich-Erzählerin durch die Betten diverser schlicht gestrickter Kerle, zwischendurch gibt es Parties, "The Notwist"-Konzerte und Reisen nach Venedig oder Rom, und immer wechseln sie sich ab, hammerhart-urban-unterkühlte "Wir rauchen beim Ficken"-Sätzchen, schwülstige Licht- und Landschaftsbeschreibungen ("Als ich zu Hause bin, hat sich der Mond wie ein Loch ins Finstere gefressen, ein Himmel wie ein Sieb fährt über die Siedlungen") und bittere, lebenskluge Reflexion: "Ich habe eine Frau erfunden, die lieben muss. Ich habe eine Frau erfunden, die eine Künstlerin ist und eine Rebellin und eine, die sich immer selbst austrickst und die sich am Ende nur zuguckt beim Unglücklichsein, beim Unglückverlängern. Ich habe die Frau ad absurdum geführt."

Wie schön, dass es Susanne Heinrich gibt! Denn derart sauber hat es bisher noch niemand hinbekommen, sämtliche Klischees junger Befindlichkeitsprosa aneinanderzureihen. "In den Farben der Nacht" scheint nicht eine Figur, nicht eine Wendung und kaum einen Satz zu enthalten, den man nicht schon irgendwo bereits gelesen hat. Aber noch nie so dicht, so schnell, so operettenhaft. Die auswechselbaren Ich-Erzählerinnen krepieren beinahe an einer Sehnsucht, so übersteigert, dass sie nur noch weh tut, jeder Mann ist der Falsche und jede vermeintlich glückliche Moment wird so lange hinterfragt, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Als Roman wäre es spannend gewesen, eine Figur zu verfolgen, die sich so rücksichtslos ihrer Lebenslügen entzwiebelt, Hülle für Hülle als Selbsttäuschung von sich wirft, dass irgendwann nichts mehr von ihr übrig ist. "In den Farben der Nacht" setzt allerdings zwölf mal wieder von vorne an, schildert Geschichten, die nirgendwo hinführen, über Figuren, die sich nur im Kreis drehen. Anfangs- und Endpunkt der Texte wirken fast willkürlich gesetzt, das Lebensproblem lässt sich nicht wegficken, wegrauchen, weglächeln, wegreden, und ist endlich mal ein fragiler Glücksmoment erreicht, kann man sich sicher sein: Susanne Heinrich blendet eiskalt über ins böse Erwachen am nächsten Morgen.

Wie schön, dass es Susanne Heinrich gibt! Andere Autoren sind wütend über den Lauf der Welt und schildern deren kaputte Mechanismen mit aller Leidenschaft. Heinrich dagegen scheint wütend zu sein auf die Literatur der Jetztzeit, die ewiggleichen Fräuleinwunder-Texte, ihre Geschichten sind ein einziger monotoner Alptraum. Über 200 Seiten hinweg scheinen sich alle Beteiligten ständig verschwörerisch zuzuwinkern: die neunmalklugen, aber ratlosen Figuren, die versierte, aber ebenso ratlos wirkende Autorin, und der Leser, der das schon tausendmal Gesagte durchaus als das wahrnehmen soll, was es ist: in jeder Hinsicht abgedroschen.

Wenn sich Heinrichs Erzählerinnen auf die Welt einlassen, dann immer so, als müssten sie sich für einen Moment zwingen, dümmer zu sein, als sie sind. Nur dann kann der Zauber auf sie wirken. Auch der Leser zwingt sich immer wieder, mitzumachen, das Geschilderte als originell oder lesenswert zu betrachten. Bis Susanne Heinrich um die nächste Ecke biegt, die Welt und sogar den eigenen Text als fade Ansammlung von Zitaten und pubertären Sehnsuchtsmotiven entlarvt. Würde man Heinrich vorwerfen, ihr Buch sei unerträglich nervig, die Sprache prätentiös und die Geschichten flach, vielleicht würde sie freudig zustimmen: "Was denn sonst?" Man könnte weiter gehen und sagen, diese literarische Selbstverstümmelung sei eine einzige Zumutung, ergo: brillant.

Warum nicht? Weil "In den Farben der Nacht" zwischen sämtlichen Extremen pendelt, in einem mörderischen Tempo, und weil deshalb jede Festlegung, jedes verbindliche Urteil nur eines wäre: kurzsichtig. Mit "In den Farben der Nacht" bekommt die junge deutsche Literatur endlich genau das, was sie verdient. Und es ist noch viel besser, noch viel scheußlicher als man je erwartet hätte. Clever gemacht, Frau Heinrich! Außerdem finde ich deine Haare schön!

Titelbild

Susanne Heinrich: In den Farben der Nacht.
DuMont Buchverlag, Köln 2005.
213 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3832179372

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