Provokation modernen Denkens

Die erste vollständige Übersetzung von Cyrano de Bergeracs utopischen Romanen "Reise zum Mond und zur Sonne"

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sich Savinien de Cyrano de Bergerac 339 Jahre nach seinem Tod zusammen mit seiner schottischen Freundin Jennifer Wilson in der Pariser Bibliothèque Nationale über die von seinem Freund Henri Le Bret 1657 und 1662 herausgegebenen Ausgaben seiner utopischen Romane "Les états et empires de la Lune" bzw. "Les états et empires du Soleil" beugt, stellt er voller Zorn fest, dass der Freund sie aus Angst vor der Zensur oder vor Beleidigungsklagen an vielen Stellen verändert oder verstümmelt hatte. Diese schmerzliche Erkenntnis überlebt der untote Dichter nicht lange... So jedenfalls erzählt es die 1965 geborene Schriftstellerin A(lison) L(ouise) Kennedy in ihrem Roman "So I am Glad" (1995; auf deutsch in der Übersetzung von Ingo Herzke unter dem Titel "Also bin ich froh" 2004 im Wagenbach-Verlag erschienen).

Wahrscheinlich hätte sich Cyrano nicht die Originalausgaben in den Lesesaal bestellen sollen. Denn im 20. Jahrhundert tauchten zumindest für die "Reise zum Mond" drei inzwischen edierte Manuskripte auf, die heute in München, Sidney und Paris aufbewahrt werden und im Vergleich zur Erstausgabe das Ausmaß der Bearbeitung durch Le Bret zeigen. So fehlten gleich am Anfang gut zehn Seiten Text, in denen sich der Prophet Elias unter anderem über Adam, Eva und die Schlange auslässt und sich der Ich-Erzähler einige Respektlosigkeiten erlaubt, die zu seinem Rauswurf aus dem Paradies führen. Und es fehlte eine spannende Widerlegung der Unsterblichkeit der Seele, die ihren Ausgang nimmt von einem kannibalistischen Fall (für die damaligen Moraltheologen war die damit verbundene "Konfusion der Leiber" ein in der Tat kniffliges Problem, das Cyrano noch zuspitzt, indem er auch die Seele für materiell erklärt).

Zwischen 1910 und 1998 erschienen vier Ausgaben der "Reise zum Mond", die auf den genannten Manuskripten beruhen, was Cyrano vielleicht hätte versöhnlicher stimmen können. Von der "Reise zur Sonne" aber hat sich bis heute kein Manuskript auffinden lassen, so dass wir hier nach wie vor den von Le Bret bearbeiteten Text lesen müssen. Der des Französischen mächtige Leser hat also seit einiger Zeit die Möglichkeit, wenigstens Cyranos "Reise zum Mond" in einer nicht verstümmelten Fassung zu lesen. Auf deutsch allerdings lässt sich das Hauptwerk des Freigeists Savinien Cyrano, zugenannt De Bergerac, geboren am 6. März 1619 in Paris, gestorben an den Folgen eines Unfalls (oder war es ein Attentat?) am 28. Juli 1655 auf dem Landgut seines Cousins in der Rue du Puits Mi-Ville des Pariser Vororts Sannois, allerdings erst jetzt lesen.

350 Jahre nach Cyranos Tod erschien nun "erstmals eine vollständige, der heutigen Quellenlage entsprechende Übersetzung beider Romane" im Eichborn Verlag. Übersetzer und Herausgeber Wolfgang Tschöke hofft, dass damit auch in Deutschland der Weg geebnet sei, dem "großartigen Erzähler" und "kompromisslosen Kritiker" den Platz in der Geschichte der Frühaufklärung zuzuweisen, der ihm zustehe.

Den meisten wird Cyrano de Bergerac vor allem durch die Verfilmung des nach ihm benannten Erfolgsstücks von Edmond Rostand aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein Begriff sein, die Jean-Paul Rappeneau 1990 vorlegte, mit einem großartigen Gérard Depardieu in der Hauptrolle. Allerdings hat der dort vorgestellte Cyrano nur entfernt etwas mit dem historischen zu tun. Immerhin: Dichter und Haudegen war dieser auch. Während seiner Zeit bei den Gascogner Garden erwarb er sich den Spitznamen eines "Démon de la Bravoure". Doch wesentlicher für sein Werk waren die Studien, die Cyrano nach seinem Abschied vom Militär in Paris trieb. Er hörte Vorlesungen bei dem französischen Naturforscher und Philosophen Petrus Gassendi (1592-1655), der vehement gegen die aristotelische Scholastik auftrat und im Anschluss an Lukrez und Epikur ein mechanistisches Weltbild vertrat, das damals, trotz Gassendis Bemühungen, seine Theorie mit der kirchlichen Lehre in Übereinstimmung zu bringen, vielen als gotteslästerlich galt. Auch Cyrano erwarb sich schnell den Ruf eines Libertins und Atheisten, den sein Denken noch eher als seine Syphilis in die Hölle führen würde.

In seinen Romanen verpackte Cyrano sein materialistisches, jeder Metaphysik und Bigotterie abholdes Weltbild in eine vergnüglich zu lesende Science Fiction-Geschichte, in der der Ich-Erzähler zwei Reisen in außerirdische Welten unternimmt, eine auf den Mond und eine auf die Sonne. 'Science'-'Fiction' sind die beiden Romane im Wortsinn: Cyrano verpackte die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts in eine unterhaltende Geschichte. Darin diskutiert der Ich-Erzähler mit den Bewohnern des Mondes und der Sonne über damals noch so heikle Fragen wie das heliozentrische Weltbild, die psychosomatische Konstitution der Körper, die geleugnete Unsterblichkeit der Seele, die Absurdität der Schöpfungsgeschichte oder die doch sehr zweifelhafte Existenz Gottes. Dass der Ich-Erzähler dabei durchaus die tradierten Positionen vertritt, für Gott und den überkommenen Aristotelismus eintritt, hindert nicht, dass damalige und heutige Leser leicht die eigentliche Meinung des Autors herauslesen können, auch wenn Cyrano den schlimmsten Freidenker unter den Mondbewohnern am Ende der "Reise zum Mond" vom Teufel in die Hölle abholen lässt.

Während die naturwissenschaftlichen Erörterungen noch notdürftig mit einem Mantel des möglicherweise Unglaubhaften kaschiert werden, wird der Moraldiskurs ziemlich unverblümt geführt. Der biblische Prophet Elias, der dank der Äpfel des paradiesischen Lebensbaumes schon seit Jahrhunderten auf dem Mond überlebt, erklärt dem Ich-Erzähler, dass Gott nach dem Sündenfall die Schlange "zur Strafe in den Körper des Menschen" verbannt hätte. "Ihr nennt sie Gedärm", erläutert Elias. Der Ich-Erzähler aber assoziiert anderes: "Tatsächlich", meint er, "ich habe bemerkt, dass man die Schlange, da sie immerzu aus dem Leib des Mannes entschlüpfen will, mit Kopf und Hals aus unserem Unterleib hervordrängen sieht. Gott hat aber auch nicht erlaubt, dass der Mann allein davon gequält werde, er wollte, dass sie sich gegen die Frau aufrichtet, um ihr das Gift einzuspritzen, und dass diese Schwellung, nachdem sie gebissen wurde, neun Monate dauere...". Damit verbunden wird dann noch eine blasphemische Auslegung einer auf Jesus zielenden Prophezeiung der Bibel. Elias schweigt erst einmal konsterniert. Nachdem sich der Ich-Erzähler im Folgenden dann noch despektierliche Bemerkungen über den Evangelisten Johannes und die Vergesslichkeit Gottes erlaubte, fliegt er hochkant aus dem Paradies.

Der Ich-Erzähler war nämlich bei seiner Ankunft auf dem Mond direkt in dem dort befindlichen Paradies gelandet und hatte den Aufprall vor allem deswegen unbeschadet überstanden, weil er im Lebensbaum und mit dem Gesicht direkt auf einem Apfel gelandet war, dessen Brei ihm das Leben rettete. Nachdem der Ich-Erzähler aus dem Paradies geworfen wurde, lebt er unter den 'normalen' Mondbewohnern, die sich in puncto Sittlichkeit denn doch ziemlich von den Erdbewohnern unterscheiden.

"Die hiesigen Weibchen sind ebensowenig wie die Männchen so undankbar, beim Anblick dessen zu erröten, was sie fabrizierte", wird ihm erklärt. Männer und Frauen schämen sich auf dem Mond der "Wonnen der Liebe" nicht. Einem Mondbewohner oder einer Mondbewohnerin ist auch völlig unverständlich, warum es eine Sünde sein sollte, "wenn ich mich an der Stelle in der Mitte anfasse, und nicht, wenn ich mich am Ohr kratze oder an der Ferse": "gibt es denn an unserem Körper eine Stelle, die heiliger oder verdammter wäre als eine andere?" Daher tragen ausgezeichnete Würdenträger des Mondreichs auch die bronzene Nachbildung eines Penis am Gürtel und kein Schwert wie die irdischen Würdenträger, was der Ich-Erzähler verwundert bemerkt. "O, kleiner Mann!" verwundert sich der Mondbewohner seinerseits: "Dass die Großen Eurer Welt so toll sind, mit einem Instrument zu prunken, das den Henker kennzeichnet, das nur geschmiedet wurde, uns zu vernichten; und im Gegensatz dazu ein Glied zu verbergen, ohne das wir im Stande dessen wären, was nicht existiert": Absurd! "Unglücklich das Land, in dem die Zeichen der Zeugung schimpflich sind und die der Vernichtung ehrenwert."

Nicht nur in ihrem Verhältnis zur Sexualität unterscheiden sich die Mond-Menschen von den irdischen. Auch der Respekt vor Tier- und Pflanzenwelt gehört dazu. Der Roman bietet vermutlich erstmals in der Geschichte der neuzeitlichen europäischen Literatur auch eine philosophische Begründung des Vegetariertums (das allerdings auch als Mord an den möglicherweise ebenso wie wir Menschen oder sogar überlegen denkenden und fühlenden Pflanzen sogleich relativiert wird) oder präludiert sogar das in der herkömmlichen Logik als paradox zu bezeichnende Lebensgefühl der Postmoderne, die "die Wahrheiten eines jeden Gegensatzes vereinigen kann, wie zum Beispiel dass Weiß Schwarz ist und Schwarz Weiß, dass man gleichzeitig sein kann und nicht sein kann".

Dies sei die Quintessenz der Sonnen-Philosophie, wird behauptet. Auf die Sonne gelangt der Ich-Erzähler auf der Flucht vor klerikalen Verfolgungen in seiner Heimat Toulouse. Seine Erlebnisse dort werden allerdings etwas weniger skurril in den Einzelheiten beschrieben als die auf dem Mond. Das mag daran liegen, dass wir hier nur Le Brets Bearbeitung kennen. Allerdings scheint der zweite Roman von vornherein konventioneller angelegt als der erste, etwa wenn das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe mittels der gängigen Beispiele aus der antiken Mythologie verhandelt wird. Das Verfahren, bestimmte Episoden aus Ovids "Metamorphosen" in interessierter Zuspitzung neu zu erzählen, ist ein im 17. Jahrhundert durchaus übliches. Am Ende des nicht vollständig überlieferten Romans wird die Erzählweise sogar allegorisch, womit gleichsam automatisch im Vergleich mit der realistisch-fantastischen Erzählung des ersten Romans die Spitze der Kritik stumpfer erscheint.

Immerhin ist aber auch hier die Satire auf Staat und Kirche so harmlos nicht. Gegenüber der Erde zeichnen sich manche Sonnenstaaten etwa dadurch aus, dass sie nicht den Gewalttätigsten, sondern den Friedfertigsten und das auch nur auf kurze Zeit zum König erklären; oder dass nicht die Differenz, sondern die Gleichheit das Grundprinzip der Gesellschaft ist.

Besonders ausführlich wird aus dem Reich der Vögel berichtet, wo dem Ich-Erzähler der Prozess gemacht wird, weil er ein Mensch ist und als solcher bereits den Tod verdient habe. Die Haltung der Menschen, sich gemäß biblischem Auftrag die Erde und alles Getier untertan zu machen, wird als unerträgliche Anmaßung begriffen. In dem Zusammenhang werden auch die schärfsten Invektiven gegen das Christentum hervorgebracht. Zum Beispiel, wenn festgestellt wird, dass die Menschen sich "mit falschen Hoffnungen auf Unsterblichkeit weniger aus Entsetzen" schmeicheln, "das ihnen das Nicht-Sein hervorruft, als aus Furcht, nach dem Tode niemanden zu haben, der sie kommandiert". Dergleichen ist in der französischen philosophischen Tradition spätestens seit Montaigne und Etienne de La Boétie nicht völlig unbekannt. Hier wird der Kritik aber vor allem dadurch die Brisanz genommen, dass die Anklage aus dem Schnabel eines selbst anmaßlichen Vogels kommt.

Es ist ein durchgängiges Verfahren bei Cyrano, dass auch die beschriebenen Gegengesellschaften keineswegs Idealgesellschaften sind, sondern ebenfalls zu Unduldsamkeit und Intoleranz neigen, wenn man ihren Grundsätzen widerspricht. Das zugrundeliegende dialogische Prinzip fordert die Leser somit zur eigenen Stellungnahme heraus, ist eine Aufforderung zum Selbstdenken eines mündigen Bürgers.

Dadurch erklärt sich zum Beispiel auch, warum der philosophische Antipode zu Gassendi, der im ersten Roman eine so große Rolle spielte, nämlich René Descartes (1596-1650), im zweiten Roman eine so prominente Position hat. Cyrano stellte eher Fragen, als dass er fertige Antworten anzubieten hätte. Allerdings bricht der zweite Roman ab, noch bevor die Reisenden in die Provinz der toten und zugleich ewig lebenden Philosophen gelangt, so dass hier letztliche Sicherheit über den Ausgang der Geschichte nicht zu gewinnen ist. Denn es ist klar, dass die Sonnenreiche je nach Grad der Helligkeit auch unterschiedlich erleuchtet, das heißt aufgeklärt sind. Die Vögel etwa leben in einer relativ dunklen Provinz der Sonne.

Welches Freiheitsgefühl mit hoher Helligkeit einher gehen kann, zeigt eine relativ frühe Passage, in der berichtet wird, dass alle irdische Schwere von dem Ich-Erzähler, der selbst nahezu durchsichtig wird, abfällt. Plötzlich ist es genauso leicht, "auf dem Kopf zu gehen", "wie auf den Füßen". Man erinnere sich nur, dass es in dem Prosatext, der die moderne Literatur mit begründete, nämlich Georg Büchners "Lenz", zur irdischen Daseins-Qual des Protagonisten gehört, "dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte".

Mit einer gewissen Trauer liest man des Herausgebers Nachricht, dass das Manuskript eines dritten Romans ("L'Etincelle") womöglich wegen seiner noch weiter gehenden Zuspitzung der Fragen von den Frömmlern des 17. Jahrhunderts vernichtet wurde ("möglicherweise der radikalste der Romane? Wir werden es nie erfahren"). Aber immerhin besitzen wir jetzt die zwei überlieferten Romane Cyranos in einer integralen, wenn auch die textkritischen Entscheidungen nicht offen legenden deutschen Ausgabe, und dies schon kann uns mit Dankbarkeit erfüllen.

Die beiden Romane sind leicht zu lesen, aber nicht an jeder Stelle sofort zu verstehen. Wolfgang Tschöke, ein ausgezeichneter Kenner des französischen 17. Jahrhunderts, hat der Übersetzung deshalb ausführliche Anmerkungen beigegeben, die uns mitunter erst erkennen lassen, warum Cyrano in seiner Zeit so aufregend war. Man kann die Anmerkungen nicht genug rühmen, weil sie den Verstehenshorizont der damaligen Zeit allererst aufschließen und deutlich machen, worin die Provokation eines Texts lag, der uns heute an die Anfänge des modernen Denkens erinnert und an die Schwierigkeiten, die im 17. Jahrhundert damit verbunden waren. Die große Leistung des Kommentars besteht darin, die unmittelbare Affizierung durch Cyranos Text zu historisieren. Zeitgenössische Leser werden aber auch ohne den gelehrten Kommentar ihren Spaß an der Lektüre haben. Dafür sorgen schon die skurrilen Einfälle Cyranos, die in der "Reise zum Mond" zwar zahlreicher sind, aber auch in der "Reise zur Sonne" nicht zu kurz kommen. "Vernehmt [...], Völker der Erde, etwas, das zu glauben ich euch nicht verbindlich mache, da in einer Welt, in der eure Wunder nur die Folge natürlich wirkender Kräfte sind, dies hier einem Wunder gleichkam!"

Kein Bild

Savinien de Cyrano de Bergerac: Reise zum Mond und zur Sonne.
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Wolfgang Tschöke.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
360 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3821807326

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch