Das unsanfte Gesetz

Über Brüche in der Poetologie Adalbert Stifters

Von Wolfgang MatzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Matz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Doch der Mann in einer heitren Regung
Fragte noch: "Hat er was rausgekriegt?"
Sprach der Knabe: "Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt."
Bertolt Brecht

Mit dem Begriff des Gesetzes bezeichnen die europäischen Kultursprachen zwei Sachverhalte, die von ihrem inneren Wesen her vollkommen verschieden sind und nur im übertragenen Sinne miteinander in Verbindung gebracht werden können. Das juristische Gesetz bezeichnet in der prinzipiell als unendlich zu denkenden Zahl menschlicher Handlungen gewisse Grundstrukturen und stattet diese mit Geboten und Verboten aus. Diese Normen aber verhindern nicht tatsächlich das normwidrige Verhalten, und gerade deshalb muß ein Übertreten des Gesetzes, so es geschieht, mit Sanktionen und Strafen belegt werden. Das menschliche Gesetz also ist ein moralischer Kodex, der das unendliche Kontinuum möglicher Handlungen klassifiziert und dieser Klassifizierung folgend jede einzelne Handlung entweder zuläßt oder zu lenken oder gar zu verhindern sucht. Nicht so das Naturgesetz. Das Naturgesetz ist eine deskriptive Feststellung dessen, was in der Natur vorgefunden wird, ist eine Beschreibung der Regeln, nach denen jedes natürliche Geschehen zwangsläufig geschieht. Das Naturgesetz kann deshalb nicht übertreten werden. Damit ist es nicht mehr normative Anleitung für ein erwünschtes Geschehen, es ist das Geschehen, ist die Natur selbst. Wird das menschliche Gesetz übertreten, so wird es dadurch nicht widerlegt, sondern es stellt durch Sanktionen seine Ordnung wieder her; wird jedoch ein Naturgesetz übertreten, so widerlegt diese Beobachtung das nur irrtümlich so genannte Gesetz selber. Das "sanfte Gesetz", das Stifter in der Vorrede zu den Bunten Steinen formuliert, steht im Zentrum seines Weltbildes, und so ist zu fragen, welchem Begriff des Gesetzes seine Idee folgt. Ist das "sanfte Gesetz" eines, das Güte und Liebe normativ in die menschliche Gemeinschaft tragen soll? Oder ist es etwas, was immer schon als tiefe Gegenkraft und ewiges Tao im Inneren der Welt verborgen war? Die Antwort liegt wiederum in Stifters Schwanken, und dieses Schwanken findet hier seinen innersten Impuls. Die berühmte programmatische Vorrede wurde ausgelöst durch Friedrich Hebbels ebenso polemische wie verkehrte Verse: "Wißt ihr, warum euch die Käfer, die Butterblumen so glücken? / Weil ihr die Menschen nicht kennt, weil ihr die Sterne nicht seht!" So naiv Hebbels Entgegensetzung von Blume und Stern, so naiv Stifters Antwort in der Selbstverkleinerung als Dichter. Doch ist diese individuelle Wendung ein im Grunde inkonsequentes und überflüssiges Seitenstück, denn die Dialektik von Großem und Kleinem zielt auf eine ganz andere Schlußfolgerung, und indem Stifter hier die Sphären des Menschlichen und Natürlichen, des normativen und des deskriptiven Gesetzes in beständigem Hin und Her mißachtet, gelingt ihm im "sanften Gesetz" einer der verstörendsten, das eigene Jahrhundert weit überschreitenden ästhetischen Gedanken - den er durch innere Inkonsequenz dann jedoch auch immer wieder aufhebt.

"Das Wehen der Luft das Rieseln des Wassers das Wachsen der Getreide das Wogen des Meeres das Grünen der Erde das Glänzen des Himmels das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind." Auf die ohne Komma und Nebensatz vorgetragene Litanei des Weichen, Schwachen, Kleinen folgt das rhythmisch gegliederte Stakkato von Härte, Größe und Kraft. Doch Stifters Argumentation ist brüchig: So zwingend sein Widerspruch gegen Hebbels Hierarchie, so willkürlich und normativ deren bloße Umkehr. Stifter schwankt, ob er die Hierarchie von Großem und Kleinem im ganzen aufheben will - was nur konsequent wäre, denn das "Grünen der Erde" wie "das Erdbeben, welches Länder verschüttet" sind in ganz gleichem Sinne "nur Wirkungen viel höherer Gesetze" und nicht eigenständige Ursache - oder ob er die Größe des Kleinen dekretieren soll. Im Sinne der universalen, kosmischen Ordnung wäre selbst vor der Entdeckung der atomaren Struktur der Materie die eine Hierarchie so unbegründet wie die andere. "So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechts." An dieser Stelle, wo Stifter vom Natürlichen zum Menschlichen überspringt, klafft ein Riß: Unerkennbar bleibt, ob er an eine allegorische Parallele denkt oder an einen wirklichen Zusammenhang, an ein Gesetz, das tatsächlich in beiden gilt. Für das, was nun folgt, wäre die Berufung auf die "äußere Natur" gar nicht notwendig: "Es gibt Kräfte die nach dem Bestehen des Einzelnen zielen. Sie nehmen alles und verwenden es, was zum Bestehen und zum Entwickeln desselben notwendig ist. Sie sichern den Bestand des einen und dadurch den aller. Wenn aber jemand jedes Ding unbedingt an sich reißt, was sein Wesen braucht, wenn er die Bedingungen des Daseins eines anderen zerstört, so ergrimmt etwas Höheres in uns, wir helfen dem Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder her, daß er ein Mensch neben dem anderen bestehe, und seine menschliche Bahn gehen könne, und wenn wir das getan haben, so fühlen wir uns befriediget, wir fühlen uns noch viel höher und inniger als wir uns als Einzelne fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit." Nur im ersten Schritt handelt es sich hier um eine Apologie des idealistischen Humanismus, der zweite führt zu einem Gedanken, der gerade dieses Menschenbild von Jahrhunderten europäischer Literatur- und Geistesgeschichte überschreitet, ja, mehr noch: der die Grundlagen der neuzeitlichen Zivilisation radikal in Frage stellt. Der zivilisatorische Fortschritt, der zur entwickelten Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts führte, ist errichtet auf der Idee der bedeutenden Tat, des großen Individuums, des Kampfes um Macht, der Gewalt des Überlegenen, des historischen Augenblicks, der Entdeckungen, der Produktivität, des Nutzbarmachens aller verfügbaren Kräfte, und er setzt voraus, daß Opfer in diesem Prozeß so unvermeidbar wie gerechtfertigt sind; die Idee des Tragischen ist gebunden an diese Idee. Dem nun setzt Stifter ein Anderes entgegen: das "Gesetz der Gerechtigkeit das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das will, daß jeder geachtet geehrt ungefährdet neben dem anderen bestehe", und als äußerste Konsequenz: "daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle anderen Menschen ist". Das außerordentliche Individuum mit seinen Leidenschaften wäre hier der Einbruch der Katastrophe. Stifter dementiert, was fast aller großen Literatur zugrunde lag: das Privileg des großen, leidenschaftlichen Menschen, das Primat des Dramatischen, Interessanten, Wichtigen, Außerordentlichen, den Vorrang des Konflikts vor der Ruhe. Wenn Napoleon auf vollkommen gleichem Range steht wie der kleinste Infanterist, dann war die Weltgeschichte ganz und gar, in jedem einzelnen ihrer Augenblicke, eine einzige Katastrophe, und nichts, auch nicht der humanistischste Impuls, könnte geschichtliches Handeln rechtfertigen. Nur in einer großen gemeinsamen Andacht, in einer allumfassenden Kontemplation wäre dieses Grundgesetz von Geschichte und Gesellschaft zu sprengen. Es liegt in der zwingenden Konsequenz des "sanften Gesetzes", daß es nun den Sprung über die Grenzen des Anthropozentrischen wagen muß. Das Gesetz, "das will, daß jeder geachtet geehrt ungefährdet neben dem anderen bestehe", könnte nicht dauern, würden es die Menschen nur egoistisch auf sich selber beziehen, würden sie es nicht ausdehnen auf Tier- und Pflanzenwelt, ja auf das Reich des Mineralischen, Unbelebten im Ganzen. Stifter ist der erste Erzähler, der imstande ist, Menschliches und Nichtmenschliches auf gleichem Range zu behandeln; die ungeheuren Seiten am Beginn des Waldgängers sind nur ein Beispiel für den ersten Entwurf einer Welt ohne Menschen. Der wahre Weg würde den Menschen zur schmerzlosen Einsicht in die vollkommene Gleichrangigkeit alles Seienden führen, und diese Einsicht würde in der allumfassenden Harmonie sogar wiederum seine eigene Existenz rechtfertigen. "So ist dieses Gesetz, so wie das der Natur das welterhaltende ist, das menschenerhaltende. " Ein grandioserer Satz ist selten geschrieben worden, und einen größeren Anspruch hat kaum ein Dichter je erhoben. Naturverfallenheit und ewige Vergängnis sollen aufgehoben sein in einer Versöhnung, die alles abwirft, was den Gang der Weltgeschichte bisher bestimmt hat.

Daß die Welt nicht nach dem "sanften Gesetz" eingerichtet ist, hat Stifter gewußt; ob er wahrhaftig glaubte, die "Bildung" und das "Wort, dieser ›sanfte Ölzweig‹" könnten sein Gesetz in Kraft setzen, lässt sich nicht entscheiden. Ein einziges Mal in seinem Leben hat er seine tiefsten Überzeugungen nieder geschrieben, doch geschah dies in der Vorrede zu einem Buch, das seine eigene Aussage dementiert. Das Verhältnis der Bunten Steine zum "sanften Gesetz" ist prekär. Die Dialektik des Kleinen und Großen ist hier ganz und gar verlegt ins Sujet, in die Geschichten von unauffälligen, unbedeutenden Menschen; die Geschichten selber: die Pest in Granit, der Hagelschlag in Katzensilber, das autistische Mädchen in Turmalin, die Geschichten selber sind eher Modellerzählungen für das, was geschieht, wenn der Mensch das "sanfte Gesetz" mißachtet. Einzig die spirituelle Leere im Augenblick der Meditation des armen Pfarrers dem furchtbaren Gewitter gegenüber kann verstanden werden als Teil der großen Andacht. Doch auch hier tut die Natur nicht, was sie soll, und sie ist alles andere als sanft und versöhnt, und jede Versöhnung wäre Unterwerfung. Der Pfarrer im Kar lebt den metaphysischen Riß, der durch Stifters Denken geht, denn eine einzige Möglichkeit gäbe es, die zerstörerische Natur nicht mehr als zerstörerisch zu empfinden: das restlose Aufgeben der menschlichen Perspektive. Daß dieses Aufgeben aber dem Menschen unmöglich ist, zeigt der innere Widerspruch der Bunten Steine selbst: Heißt es angesichts des großen, aus einem milden Wolkenschleier hervorbrechenden Gewitters in Kalkstein: "Das Zarteste das Weicheste der Natur ist es, wodurch ein solcher Aufruhr veranlaßt wird", so ist es in Katzensilber gerade das Nachgiebige, Organische, was vor diesem Aufruhr, sind es die Reisigbündel, was vor den faustgroßen Hageln schützt: "Nur weiche Dinge widerstanden." Die wahre Verkörperung des "sanften Gesetzes" sind nicht die Bunten Steine, es ist der Nachsommer, und hier, in seiner geheilten Gegenwartswelt, zeigt sich, daß Stifters Vision nur als ästhetisches Phänomen zu verwirklichen war, daß nur die Überzeugungskraft der sprachlichen, künstlerischen Gestaltung die Utopie gerade noch als möglich erscheinen ließ. In der realen Welt sah es anders aus. In seinem letzten Winter erlebte Stifter jenen großen, drei volle Tage währenden Schneesturm, dessen entsetzlichen Eindruck er in Aus dem bairischen Walde, seinem letzten vollendeten Werk, durchs Erzählen zu bannen suchte: "Ich konnte nichts thun, als immer in das Wirrsal schauen. Das war kein Schneien wie sonst, kein Flockenwerfen, nicht eine einzige Flocke war zu sehen, sondern wie wenn Mehl von dem Himmel geleert würde, strömte ein weißer Fall nieder, er strömte aber auch wieder gerade empor, er strömte von links gegen rechts, von rechts gegen links, von allen Seiten gegen alle Seiten, und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort und fort, wie Stunde an Stunde verrann. Und wenn man von dem Fenster weg ging, sah man es im Geiste, und man ging lieber wieder zum Fenster." Der Dichter unterliegt dem leeren Nichts: "Was anfangs furchtbar und großartig erhaben gewesen war, zeigte sich jetzt anders, es war nur mehr furchtbar. Ein Bangen kam in die Seele. Die Starrheit des Wirbelns wirkte fast sinnbestrickend, und man konnte dem Zauber nicht entrinnen." Der die Welt in weißes Wirbeln auflösende Schnee ist Stifters letztes Wort. Im formlosen Weiß, in der gestaltlosen Leere sieht er das "sanfte Gesetz" verschwinden. Der Riß, der den Menschen trennt von der gewaltigen Natur, war nicht zu heilen, und die Naturverfallenheit, die seine andere Seite ist, nicht aufzulösen. Der Riß in Stifters Werk geht quer durch das "sanfte Gesetz", und zwar an der Stelle, wo dämonischer Zauber die reine Natur entstellt.

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist ein Auszug aus dem unten genannten Buch. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung.

Titelbild

Wolfgang Matz: Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters.
Literaturverlag Droschl, Graz 2005.
101 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3854206917

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