Utopia reloaded
Russell Jacobys Versuch zur Errettung des utopischen Denkens
Von Jörg Auberg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls das realsozialistische Imperium in den letzten Monaten der 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts zu implodieren begann, geriet das utopische Denken wieder einmal in Verruf. Allenthalben fühlte sich die realistische Intelligenz von der frühzeitig vergreisten Neuen Linken bis zur immergleichen Neuen Rechten bemüßigt, das scheinbar endgültige Verdikt über die Utopie als Quelle allen Übels des 20. Jahrhunderts zu sprechen und das Ende des Utopischen zu verkünden. Angeblich sind alle gegen die Ideologien allergisch, doch mobilisieren sie mit dem Ressentiment gegen die "Utopie" stets aufs Neue die ideologischen Klischees gegen ein noch nicht realisiertes Anderes, das nicht sein darf, da es die Systeme der Rackets in Frage stellen könnte. Ubiquitär waltet die "Kohäsionskraft des geistigen Konformismus" (Lothar Baier), der gegen die arkadischen "Augenblicke des Glücks" das Zedieren an die repressiven Kollektive propagiert. In den Verlautbarungen der intellektuellen Generalstäbe existiert kein Unterschied zwischen dem Utopischen und dem Totalitären. In der stillgelegten Geschichte des "One Big Market" entschlägt man sich der kritischen Fantasie, um auf dem goldenen Mittelweg zu bleiben, den Mehrwert einzuheimsen und sich in der Enge der gesellschaftlichen Apparatur einzurichten.
Gegen diese weitverbreitete Denunziation des utopischen Denkens bezieht Russell Jacoby in seinem neuen Buch "Picture Imperfect: Utopian Thought for an Anti-Utopian Age" Stellung. Es ist Teil seiner kritischen "work in progress" über das Versagen und die Unzulänglichkeiten der "denkenden Klassen", an dem er seit einem knappen Vierteljahrhundert schreibt - von "Dialectic of Defeat" (1981) über "The Last Intellectuals" (1987) bis hin zu "The End of Utopia" (1999). Für Jacoby ist das utopische Denken die Antriebskraft für gesellschaftliche und politische Veränderung, und das "Ende der Utopie" resultierte nicht aus der Obsoleszenz der Utopie, sondern aus dem Fehlen intellektueller "Agenten", die der Utopie einen Resonanzboden in der Gesellschaft gäben. Dass das utopische Denken gegenwärtig mehr oder minder auf verlorenem Posten steht, hat in Jacobys Augen nicht allein im Zerfall der bipolaren Welt im ausgehenden 20. Jahrhundert oder in der Gleichsetzung von Utopie und totalitärer Herrschaft seine Ursache, sondern auch in einer "wachsenden Verarmung dessen, was die westliche Fantasie genannt werden könnte".
Wie schon Lothar Baier in seinem Essay "Antiutopie, Skepsis, Toleranz" aus den frühen 90-er Jahren erscheint auch Jacoby der Zusammenhang zwischen dem Untergang des Realsozialismus und dem Ausverkauf an den Haaren herbeigezogen, und der Versuch, Stalinismus, Nationalsozialismus und andere Formen der Terrorherrschaft als logische Konsequenzen diverser Utopien darzustellen, folgt lediglich dem Plan, das kritische und emanzipatorische Potenzial des utopischen Denkens im Keim zu ersticken. Besonders "bekehrte" liberale Antiutopiker wie Karl Popper, Hannah Arendt, Norman Cohn und Isaiah Berlin verwandten viel Energie darauf, die Utopie im Klima des Kalten Kriegs nachhaltig im intellektuellen Milieu zu diskreditieren, während sie selbst fragwürdige Methoden für ihr Fortkommen im kulturindustriellen Apparat anwandten.
Auch wenn er in seiner akribisch recherchierten und glänzend geschriebenen Studie eloquent gegen die Aburteilung der Utopie als Wegbereiterin totalitärer Massenmordindustrien argumentiert, verrennt sich Jacoby nicht in einer kritischen Eloge auf die Utopie per se, sondern unterscheidet zwischen zwei Strömungen utopischen Denkens. Auf der einen Seite ortet er jene Utopiker von Thomas Morus bis B. F. Skinner, welche in einem gewissen Autoritarismus Blaupausen für die künftige Gesellschaft entwarfen, in der alle Regungen wie in einem "freeze frame" bereits im Vorhinein konzipiert waren, während auf der anderen Seite die ikonoklastische Fraktion steht, die sich einem fest gefügten Entwurf der Utopie verweigert und stattdessen der Imagination Raum gibt, um das Andere zu denken, anstatt diktatorische Schemata des zu Realisierenden vorzugeben. Wie Jean-Luc Godard in seinem Essay-Film "Deux ou trois choses que je sais d'elle" formulierte, ist die gegenwärtige Realität von einer endlosen Folge von Bildern wie in einem Comic-Strip umstellt - überall existiert ein Vor-Bild, das die Imagination usurpiert und je den Gedanken überwuchert. Als Gegenentwurf zur aktuellen Bilderherrschaft führt Jacoby eine Phalanx jüdischer Intellektueller wie Gustav Landauer, Martin Buber, Gerschom Scholem, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno an, die einen "mit Leidenschaft und Geist durchsetzten bilderlosen Utopismus" anboten. Anstatt im Hemd der schuldigen und desillusionierten Büßer aufzutreten und im marktgängigen Katastrophismus den ideologischen Teufel an die Wand zu malen, wäre es Aufgabe kritischer Intellektueller, sich "blinder Gebundenheit an Bilder der Macht" (Adorno) zu entschlagen. Doch verirren sich deren letzte Inkarnationen in die verzerrte Spiegelwelt aus den Kulissen von Orson Welles' "The Lady from Shanghai": Am Ende verendet der letzte Gedanke in der Leere.
Das Problem bleibt jedoch die Verbindung des utopischen Denkens mit der realen, "alltäglichen" Politik, ohne in realitätsferne Versprechungen zu verfallen. Ohne konkrete Grundierungen bleiben utopische Impulse vage, und ohne einen politischen Kontext verharren sie substanzlos. "Utopische Leidenschaft mit praktischer Politik zu verbinden", konstatiert Jacoby, "ist eine Kunst und eine Notwendigkeit." Augenscheinlich beherrscht diese Kunst kaum jemand aus dem Fundus des aktuellen politischen Personals, das seine Leidenschaft zuerst auf die Eroberung und Verteidigung von Machtpositionen ausrichtet. Der Ruf nach einer Verwirklichung utopischer Impulse in der Politik ist nur zu berechtigt, doch bleibt die Realisierung in den Widrigkeiten korrumpierter, von Rackets jeglicher Couleur bevölkerter Landschaften stecken. "Kritik an der Utopie ist heute selbst in den ideologischen Vorrat hinabgesunken", diagnostizierte Adorno 1968, "während gleichzeitig der Triumph der technischen Produktivität dazu taugt vorzuspiegeln, die Utopie, unvereinbar mit den Produktionsverhältnissen, sei in deren Rahmen bereits verwirklicht." Jahrzehnte später ist die Utopie - nach neoliberaler Lesart - in die Katastrophe umgeschlagen, und allenthalben fühlt sich das politische Personal bemüßigt, das Ende des Sozialstaats und des "Wolkenkuckucksheims" (in verschiedenen Abstufungen) zu verkünden und das Mögliche für unmöglich zu erklären. In diesem Klima der Eindimensionalität beharrt Russell Jacoby auf dem renitenten Gedanken der Utopie und behält die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft im Auge, die notwendige pragmatische Reformen mit utopischer Kritik in Einklang bringt. Wie lässt sich Frieden auf der Welt realisieren, ohne die Kriegsmaschinerie in Frage zu stellen, oder wie kann man eine globale Prosperität ersehnen, ohne die eklatanten ökonomischen Ungleichheiten auf den Kontinenten zu beseitigen? Entgegen der üblichen Praxis, Probleme der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Diskriminierung mit neoliberalen Scheinrezepten zu behandelten, wie es jüngst die Pop-Heilsbringer von Live 8 medienkonform präsentierten, rekurriert Jacoby auf eine radikale Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse. Ob solche Einsprüche wider den konformistischen Zeitgeist letztendlich fruchten, muss die Zeit zeigen.