Paradies in Blau

A. L. Kennedy liefert das radikale Porträt einer Alkoholsüchtigen

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

A. L. Kennedy ist längst kein Geheimtipp mehr. Die schottische Autorin hat sich mit nuancierten psychologischen Figurenzeichnungen und ungewöhnlichen Themen ein großes Lesepublikum erobert. Nun also der neue Roman: Paradies.

Paradiesisch ist sie allerdings nicht, die Geschichte von Hannah Luckraft, die in einem längeren Ausschnitt mit Rückblicken erzählt wird: Das Leben dieser 36-Jährigen wird kontrolliert und bestimmt von ihrer Alkoholabhängigkeit. Die Protagonistin erlebt einen Absturz nach dem anderen, doch hinter den Blackouts und dem täglichen mühevollen Zurechtfinden scheint etwas anderes auf: die Außenseiterposition der Tochter in einer bürgerlichen Familie. Sie ist die Verliererin neben dem Bruder, der Arzt ist, verheiratet und nun auch noch Vater wird.

Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist: Es wird nichts entschuldigt, verharmlost oder gerechtfertigt. Hannah Luckraft steht mit ihrer Sucht gleichberechtigt neben allen anderen Figuren, sie ist diejenige, die erzählt. Eine Innensicht von einer, die kaum einen ganzen Tag lang bewusst erlebt, wo sie sich befindet und was sie gerade tut. Ihr Blick auf die Welt schiebt einen Vorhang zur Seite, alles wird greller, radikaler. Diese Radikalität packt Kennedy in Bilder und innere Monologe, die fesseln und faszinieren. Sie zeichnet ein Leben an den Rändern, dem nicht erlaubt wird, dem Zentrum näher zu rücken, sich zu verändern, weil es zur Ordnung gebraucht wird und gleichzeitig bedrohlich ist und Angst erzeugt. Die Hauptfigur ist sich dessen bewusst. Umso rigoroser ist ihre Hingabe an das Trinken, das längst nicht mehr hilft, sondern ausblutet, ihre "vollkommene Gabe". Die von ihr entwickelte Ästhetik des Trinkens findet einen Mitspieler in Robert Gardener, Zahnarzt mit zitternden Händen, dessen Spur sich zum Ende hin ebenso verliert wie das Bewusstsein der Erzählfigur. Die Fahrt in einem Zug, das Vorbeihuschen der Landschaften und Städte werden zum Symbol dafür, dass sie nichts mehr festhalten, greifen, in dreidimensionalen Strukturen wahrnehmen kann. Trotzdem schafft sie ein zweites Mal den Weg in die Klinik. Der Ausgang bleibt ungewiss.

Ein bitterer, sarkastischer und zuweilen selbstironischer Unterton ist Kennzeichen der Erzählfigur, die sich aus dem inneren Gleichgewicht trinken muss, um sich ausrichten zu können. Die Autorin präsentiert drastische Bilder, eine merkwürdige Krankheit, die schmachvollen Begegnungen mit dem Bruder und den Eltern und dazu eine weitere Droge, die in Verbindung mit Alkohol das zweite Paradies von Hannah Luckraft ausmacht: flüchtiger Sex.

Kennedy gelingt das spannende Porträt einer intelligenten und sich ihrer destruktiven Suchtproblematik bewussten Figur, die es trotz aller Bemühungen aber nicht schafft, einen anderen Weg des Umgangs mit sich selbst zu finden. Die Autorin verfolgt diesen Weg in präzisen Bildern und einem Stil, der sich den jeweiligen Zuständen der Figur geschmeidig anpasst. Nach "Also bin ich froh" wieder ein literarisches Highlight einer der besten Gegenwartsautorinnen.


Titelbild

A. L. Kennedy: Paradies. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2005.
362 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3803131960

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