Trau keinem über 70

Über Elfriede Jelinek, Harold Pinter und die Stockholmer Nobelpreisjury

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Damals, vor einem Jahr, als die Österreicherin Elfriede Jelinek den Nobelpreis erhielt - was war das eigentlich: eine originelle Farce, eine ganz große akademische Eselei oder, kurz gesagt, ein richtiger Skandal? Dass es ein Skandal war, wurde damals verheimlicht, weil alle den Fall als höchst peinlich empfanden.

Da es sich um eine deutschsprachige Autorin handelt, habe ich mich zurückhaltend geäußert: Ihr literarisches Talent sei "eher bescheiden", ihre Romane seien beinahe alle "mehr oder weniger banal oder oberflächlich", ihre Bühnenwerke seien "unlesbar" und nur als Vorlage für rücksichtslose Regisseure geeignet. Man wird zugeben: Ich habe mich beherrscht.

Nun hat Knut Ahnlund, Mitglied der Stockholmer Nobelpreisjury, gesagt, was er von der Sache halte - mit einjähriger Verspätung, denn soviel Zeit hat er angeblich gebraucht, um das Werk der Jelinek zu lesen. Aber er hat es schön deutlich gesagt. Also: es sei "eine Textmasse, die ohne einen Ansatz zu künstlerischer Struktur aufgehäuft wurde", die Akademie habe "ein auf nahezu unfassbare Weise auf der Stelle tretendes Werk, rettungslos in Klischees verhaftet, unter den großen literarischen Oeuvres dieser Welt ausgewählt". Das Ansehen des Preises sei ruiniert.

Das sind klare Worte, denen ich aus vollem Herzen zustimme. Das sagte ich meinem Freund, einem vorzüglichen österreichischen Essayisten und Kritiker, den ich seit vielen Jahren schätze und bewundere. Dieser erwiderte mir sofort und mit vor Zorn bebender Stimme, ich hätte doch nichts von der Jelinek gelesen - und er sprach so laut, dass sein mir nahestehender Dackel Poldi heftig bellend eingriff.

Wieder einmal muss ich sagen: Zwischen uns sei Wahrheit. Der Verdacht und Vorwurf meines Freundes, des Wiener Gentlemans, ist nicht so abwegig und nicht ganz richtig. Von den vielen Büchern der Jelinek habe ich zwei ("Die Klavierspielerin" und "Lust") gelesen, wenn auch nicht ganz zu Ende, weil die Lektüre mein Wohlbefinden gefährdete, zumal meine Magennerven auf unangenehme Weise reizte. Mit anderen Büchern hab ich, wie Thomas Mann sich auszudrücken pflegte, immerhin Kontakt aufgenommen. Das Ergebnis: Ich glaube, ja, ich bin sicher, dass das Schreiben nicht gerade zu den starken Seiten der Elfriede Jelinek gehört. Mehr möchte ich lieber nicht sagen, um nicht die bedeutendste Feministin Mitteleuropas, Alice Schwarzer, zu ärgern. Überdies: Der Fall ist ja schon dank der Äußerung des mutigen Mitglieds der Nobelpreisjury erledigt. Nicht erledigt ist indes der Nobelpreis. Die Crux ist die nicht mehr jugendliche Jury dieses Preises. Von den 18 Mitgliedern sind, sage und schreibe, sechs älter als 80 Jahre, weitere fünf Mitglieder sind über 75 und zwei über 70. Nach Adam Riese sind also 13 von den 18 Akademikern über siebzig Jahre alt. Das geht nicht.

Nun wird man vielleicht einwenden wollen, dass der Schreiber dieser Zeilen ebenfalls kein Jüngling mit lockigem Haar mehr sei. Schon wahr, doch zunächst ist, wie der Berliner sagt, eine schöne Glatze erheblich besser als kein Haar. Wahr ist freilich auch, dass ich nicht nur zu den über Achtzigjährigen zähle, sondern tatsächlich 85 Jahre alt bin.

Ich war Mitglied einer ehrenwerten Literaturjury, der auch ein berühmter Germanist, damals genau siebzig Jahre alt, angehörte. Er nahm an den Beratungen lebhaft teil und schlug einen vorzüglichen Autor als Preisträger vor. Wir rühmten seinen Kandidaten, machten jedoch darauf aufmerksam, daß selbiger diesen Preis schon vor wenigen Jahren erhalten hatte. Das brachte den großen Germanisten nicht aus der Ruhe, vielmehr fragte er, ob sein Kandidat unseren Preis nicht zum zweiten Mal erhalten könnte. Es war klar: Der Herr war schon etwas verwirrt.

Ich war damals 65 Jahre alt und beschloss (im inneren Monolog natürlich), im Alter von siebzig Jahren alle Jurys, denen ich angehörte, endgültig zu verlassen. Dies ist auch geschehen: Ich mache bei keiner einzigen Jury in Deutschland, Österreich oder der Schweiz mit. Und das ist gut so. Nur bilde ich mir nicht ein, dass die Stockholmer Akademiker meinem Vorbild folgen werden.

Auf jeden Fall ist in diesem Jahr ein Fortschritt feststellbar: Nachdem sich die Jury mit dem italienischen Clown Dario Fo, mit dem Chinesen Xinjiang, den, wie man in Hessen sagt, kein Schwein gelesen hat, und schließlich mit der zarten Österreicherin Elfriede Jelinek lächerlich gemacht hat, hat sie sich diesmal für eine ernsten Schriftsteller entschieden. Allerdings hätte er, der weltberühmte Dramatiker Harold Pinter, den Preis schon vor zwanzig Jahren erhalten sollen. "Spät kommt ihr, doch ihr kommt" heißt es im "Wallenstein".

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien ohne die von der Redaktion hinzugefügte Überschrift zuerst in der Serie "Fragen Sie Reich-Ranicki" in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 16. Oktober 2005. Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Publikation.