Horizontal, vertikal, diagonal
Durch Musils Labyrinthe: Eine Tagung in Klagenfurt stellt die digitale Gesamtedition vor
Von Oliver Pfohlmann
1941, wenige Monate vor seinem Tod, lernte Robert Musil im Genfer Exil den Germanisten Eduard Berend kennen, der den Nachlass Jean Pauls bearbeitete. Nach ihrer Begegnung notierte Musil im Tagebuch den aus heutiger Sicht absurd anmutenden "Einfall: Ich bin der einzige Dichter, der keinen Nachlaß haben wird. Wüßte nicht wie."
Offenbar dämmerte Musil da, vor welch eine Aufgabe er die Nachwelt in dem Fall stellen würde, dass er seinen "Mann ohne Eigenschaften" nicht mehr vollenden konnte. Als er starb, hinterließ der "König im Papierreich" (Broch) über 100 Mappen und Hefte mit zusammen fast 12.000 Seiten an Entwürfen und Notizen, Vorstufen und Varianten, Reinschriften und Exzerpten, Ideen- oder auch nur Schmierblättern, deren älteste Bestandteile bis in die Zeit der Jahrhundertwende zurückreichten. Seine wuchernde Werkstatt war dem Dichter-Ingenieur und promovierten Experimentalpsychologen Musil eine Art Literatur-Laboratorium, das am Ende unfehlbar die im Zeitalter Einsteins und Freuds einzig noch gültige Art von Dichtung produzieren würde.
Welche Mühe es jedoch schon Musil selbst bereitete, sich in diesen Papierlabyrinthen zurechtzufinden, zeigt die Tatsache, dass er seine Materialien mit einem aufwendigen internen, nur schwer durchschaubaren Verweissystem aus Buchstaben- und Ziffernfolgen versah. Über 100.000 dieser Musil'schen "Links" sorgen dafür, dass hier alles mit allem verwoben und vernetzt ist und dass die Schrift, ähnlich wie im berühmten Zettelkasten Niklas Luhmanns, gleichsam mit sich selbst kommuniziert. Die "unendlich verwobene Fläche", die im "Mann ohne Eigenschaften" den herkömmlichen "Faden der Erzählung" ersetzt, hier wurde sie Realität. Dass Musil, um sein Werk vollenden zu können, im Zeitalter des Rechenschiebers nichts nötiger gehabt hätte als einen Computer, ist seit langem ein Topos der Forschung.
Dass sein Nachlass, dieser Alptraum für Editoren, nach den ebenso verdienstvollen wie problematischen Auswahl-Ausgaben von Adolf Frisé und einer ersten, technisch noch unausgereiften CD-Rom-Publikation von 1992, bald vollständig und in einer adäquaten medialen Form vorliegen wird, und zwar gemeinsam mit den veröffentlichten Werken des Autors sowie seinen Briefen, ist dem Klagenfurter Robert-Musil-Institut zu verdanken. Bereits der Prototyp der "Kommentierten Digitalen Gesamtedition", den die Herausgeber, neben dem Institutsleiter Klaus Amann die beiden Klagenfurter Germanisten Walter Fanta und Arno Rußegger sowie der Musil-Biograf Karl Corino, jetzt kurz vor Musils 125. Geburtstag bei einer Tagung in Klagenfurt präsentierten, brachte die versammelte "Musil-Community" ins Schwärmen. Norbert C. Wolf von der FU Berlin beispielsweise sprach von einem "Meilenstein" und einer "Pionierleistung" der Forschung, Kordula Glander (Tübingen) berichtete von einem "Lese- und Finderausch", in den sie angesichts der neuen umfassenden Recherchemöglichkeiten geraten sei, und Florence Vatan (Madison/USA) präsentierte dem Publikum triumphierend ihre in jahrelanger Musil-Exegese gesammelten Notiz- und Registerhefte, die sie nun getrost entsorgen könne.
Tatsächlich wird die digitale Gesamtausgabe, läuft alles nach Plan, der Literaturwissenschaft ab 2008 all das bescheren, was sie bislang vermisste: eine historisch-kritische, vollständig kommentierte und verlinkte (aber eben auch: vom Leser frei neu kommentier- und verlinkbare) Gesamtausgabe. Die vielen Fortsetzungsversuche Musils zum "Mann ohne Eigenschaften" wird diese Edition nicht künstlich zu vollenden oder zu linearisieren versuchen, vielmehr die nach 1932 "ausfransende" Romanhandlung so präsentieren, dass ihre einzelnen Fäden erstmals separat lesbar werden. Musils Vorstufen-Projekte und die Fortsetzungskapitel werden dabei getrennt wiedergegeben - mit dem Effekt, dass "Urfassungen" des "Mann ohne Eigenschaften" aus den 20er-Jahren wie "Der Spion" oder "Die Zwillingsschwester" als eigenständige kleine Werke zur Geltung kommen. Welche literarischen Perlen im Nachlass Musils bislang verborgen blieben, machten die Lesungen der Wiener Schauspielerin Chris Pichler ebenso deutlich wie das auf der Tagung vorgestellte Hörspielprojekt "Remix" des Bayerischen Rundfunks, das bereits auf der Basis der digitalen Edition zustande kam. Karl Corino sprach gar von einer "selbstgewählten Verstümmelung" des Lesers, würde er auf die Nachlassmaterialien etwa zur Novelle "Tonka" verzichten. Offenbaren doch erst sie die "wahre" und vom Dichter "unterdrückte" Geschichte der von ihm durch Eifersucht und einer syphilitischen Infektion in den Tod getriebenen Geliebten Tonka alias Herma Dietz.
Der Ehrgeiz der Herausgeber zielt also nicht allein auf das akademische Publikum, vielmehr soll die neue Edition neue Leserkreise ansprechen, auch im Ausland. Die heutige Lesergeneration, glaubt Mit-Herausgeber Walter Fanta, ist reif für einen digitalen Musil, der verschiedene Lektürearten zulässt: eine horizontal-lineare entsprechend der Romanhandlung, eine vertikale, die Musils jahrzehntelange Arbeit an einzelnen Kapiteln vor oder zurück verfolgt, oder eben eine diagonale, ein wildes, lustbetontes Surfen in diesem einzigartigen, praktisch noch unbekannten literarischen Kosmos. Daher soll die neue Edition, die mit Genehmigung des Rowohlt Verlages bei der Uni Klagenfurt erscheinen wird, auch nur etwa ein Zehntel der CD-ROM-Ausgabe von 1992 kosten, also etwa 75 Euro.
Doch wurden auch kritische Stimmen laut. So ließ der Vorschlag, Musils Werke konsequenterweise gleich ganz zur freien Kommentierung à la Wikipedia ins Internet zu stellen, einige gestandene Philologen schaudern. Daran, dass eine digitale Musil-Ausgabe zwar alle Vernetzungsmöglichkeiten realisieren könne, aber der Absicht dieses Autors, die Lektüre so sehr zu verlangsamen, dass das Lesen dem Schauen berückender Bilder gleicht und so in den "anderen Zustand" führe, gerade zuwiderlaufen dürfte, erinnerte Villö Huszai (Zürich) - und forderte deshalb neue Musil-Ausgaben im Großdruck. Diese wird es jedoch wohl erst nach 2012 geben, wenn die Urheberschutzfrist für diesen Autor abgelaufen ist, ebenso wie eine neue, dann 20-bändige Gesamtausgabe Musils in Buchform. Zumindest ihre Matrix ist in der digitalen Edition bereits enthalten.