Mehrere Leben

Beeindruckende Geschichte einer späten Selbstverwirklichung: Die Lebenserinnerungen der Journalistin Maria Frisé "Meine schlesische Familie und ich"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Journalistin und Buchautorin war Maria Frisé abonniert auf "Familie und Soziales". Für die 'Frankfurter Allgemeine' schrieb sie seit den sechziger Jahren über die Doppelbelastung berufstätiger Frauen und notwendige Veränderungen des Sorgerechts. Sie berichtete von neuen psychologischen Studien über die Jugend und begleitete "wohlwollend-kritisch" Frauenbewegung und Emanzipationsliteratur. "Neuer Anfang mit Vierzig", so hieß eine ihrer Reportagen.

Wie sehr auch Maria Frisés eigenes Leben bestimmt war von dramatischen Neuanfängen und Rollenkonflikten, zeigen ihre nun erschienenen Erinnerungen. Diese beeindruckende Geschichte einer späten Selbstverwirklichung greift zunächst weit zurück. Sie vergewissert sich des eigenen Wegs vor dem Hintergrund einer jahrhundertealten Familiengeschichte, die geprägt war von Opferbereitschaft und Verantwortungsgefühl.

Wie schon in ihrer autobiografischen Erzählung "Eine schlesische Kindheit" (1990) lässt Maria Frisé, geborene von Loesch, auch hier die Welt des schlesischen Landadels wieder auferstehen. Eine strenge Welt, in der die Vorfahren, unter ihnen Regierungspräsidenten und Minister, die für die Kinder Riesen sind, die einen mit ihrer Würde und Bedeutung zu erdrücken drohen. In der die Kinder des Gutsherrn Seite an Seite mit denen der Gutsleute arbeiten müssen: "Preußische Erziehung eben." Zärtlichkeit und Zuwendung finden sie in einer von militärischen Traditionen geprägten Umwelt selten. "Bei Vater fand ich, was ich brauchte, doch er hatte viel zu selten Zeit. Geduldig hockte ich unter seinem Schreibtisch und streichelte manchmal seine Schuhe, bis er sich endlich erinnerte, daß da ein Kind auf seinen Schoß klettern wollte."

1926 geboren, wächst Maria Frisé auf dem väterlichen Gutshof auf, der nach dem Ersten Weltkrieg unmittelbar an der Grenze zu Polen liegt. Hier ist die Geschichte stehen geblieben, das vormoderne Wertesystem, streng patriarchalisch und zugleich sozial ausgerichtet, noch intakt. Man ist stolz auf seinen Gemeinsinn, lebt sparsam und pflichtbewusst und unterwirft sich in Gefühlsangelegenheiten dem Familienzwang: "Liebesgeschichten sind in unserer Familienchronik rar", bemerkt Maria Frisé lakonisch, und über dunkle Flecken wie Scheidungen "sprach man nicht".

Es zeichnet diese ebenso unsentimental wie warmherzig geschriebenen Erinnerungen aus, dass sie selbst frei sind von Verklärungs- oder Denunziationsabsichten. Sympathisch sachlich und offen, wenn auch nicht immer frei von Bitterkeit, bleiben sie gerade da, wo sie die politische Mentalität der Familie schildern. Nazis waren die von Loeschs nicht, aber Nationalisten; sie verachteten die Weimarer Republik ebenso wie die polnischen Nachbarn, denen das "Versailler Diktat" einen Teil des Gutsbesitzes beschert hatte und begrüßten 1939 den Einmarsch ins Nachbarland.

Und Maria Frisé selbst, die zu Kriegsbeginn 13 Jahre alt war? An das Gefühl von Stolz, als die Biologielehrerin sie einmal zu den "nordischen Langschädeln" zählte, erinnert sie sich heute mit Schaudern. Nach dem Krieg wirft sie sich vor, so lange alles gedankenlos hingenommen zu haben, wird zu einer überzeugten Demokratin. "Zu zweifeln und kritisch zu überlegen lernten wir als Kinder und Jugendliche überhaupt nicht. Demokratie blieb für uns ein Fremdwort. Die Familie hatte sich weitgehend abgekapselt von der übrigen Welt."

1945 muss die gerade 19-Jährige die Welt ihrer Kindheit verlassen, muss nur Stunden nach der unüberlegten Heirat mit ihrem Vetter vor der nahenden Front flüchten. Jahrzehnte später schreibt Maria Frisé: "Heimat ist für mich etwas, das bleibt, auch wenn ich dort nicht mehr zu Hause bin. Es ist auch ein Stück Kindheit, vertraut, ganz und gar zu mir gehörend, weil ich dort zuerst Wurzeln schlug, zugleich ist es aber unwiederbringlich versunken. Ein 'Recht auf Heimat' kam mir immer absurd vor, angesichts der Millionen Menschen, die infolge des von Deutschen begonnenen verheerenden Krieges vertrieben wurden. Daß Teile der Flüchtlingsverbände noch heute auf diesem Recht bestehen, ist grundfalsch und verantwortungslos."

So viel politisches Bewusstsein musste sich freilich erst entwickeln. In Schleswig-Holstein baut sich das Ehepaar nach 1945 eine neue Existenz auf. Der Mann wird schon bald ein erfolgreicher Unternehmer, Maria die Mutter dreier Söhne. Die Lakonie ihrer Beschreibung der Nachkriegsjahre sind später Reflex ihrer inneren Apathie damals. Mit der Stabilisierung der Verhältnisse psychologisiert sich der Stil, werden erstmals wieder seelische Zustände erinnert, die emotionalen Defizite, die Lieblosigkeit ihrer fatalen Ehe.

Es ist beeindruckend, mit wie viel Gelassenheit und Respekt die Autorin ihren ersten Mann porträtiert, obwohl dieser sich ihre Zuneigung zu erkaufen suchte, sie unmündig wie ein Kind hielt und betrog. Bewehrt mit dem sich später angeeigneten psychologischen Wissen, analysiert Maria Frisé im Rückblick die Ursachen seiner emotionalen Störungen, seiner Unfähigkeit zur Kommunikation. Ihr eigenes Selbstbewusstsein verkümmerte in dieser Zeit. Als Heimchen am Herd sehnte sie sich nach Bestätigung und flüchtete sich in Depressionen, Bücher und Schwangerschaften.

"Eine klare Vorstellung, was ich aus meinem Leben machen wollte, besaß ich damals nicht. (...) Ich war noch nicht einmal dreißig und fühlte mich uralt, ausgebrannt und einsam. / Für Außenstehende muß meine Traurigkeit unbegreiflich gewesen sein, sofern sie überhaupt etwas davon mitbekamen. Ich funktionierte ja halbwegs und ließ mir möglichst nichts anmerken. Aber wochenlang kränkelte ich an unbestimmten Symptomen, Rückenschmerzen, Magenbeschwerden, Allergien."

Ein "coup de foudre" bringt die Befreiung. Vergangenes Jahr erschienen die Lebenserinnerungen ihres zweiten Mannes, des Kulturjournalisten Adolf Frisé, unter dem Titel "Wir leben immer mehrere Leben". So könnte auch ihr eigenes Motto lauten. An Frisés Seite erlebt sie Ende der Fünfziger zum ersten Mal Gemeinsamkeit und Anerkennung ihrer literarischen und künstlerischen Interessen. Der Musil-Herausgeber führt sie in seine intellektuelle Welt ein, sie lernt Ingeborg Bachmann, Lew Kopelew und Siegfried Unseld kennen. Traumatisch gestaltet sich jedoch nach der Scheidung der Kampf um ihre Söhne, die nach dem damaligen Scheidungsrecht ihrem Mann zugesprochen werden. Und ihre Großmütter und Tanten sehen in ihr nur das "Opfer" einer "Verblendung", werfen ihr vor, ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter vergessen zu haben.

Von den Schuldgefühlen nach dem Bruch mit ihrer Familie kann sie sich erst nach Jahren befreien. Eine Hilfe ist ihr dabei ihre beginnende journalistische Arbeit, sie will endlich auf eigenen Beinen stehen. Im "privaten Intensivunterricht" ihres Mannes lernt sie das Handwerk, legt auf Terminen endlich ihre Ängstlichkeit ab. Für ihre Reise- und Sozialreportagen wird sie schon bald geschätzt und zur Spezialistin für die gender troubles jener Jahre. "Mir ging und geht die Entwicklung hin zu realer Gleichberechtigung viel zu langsam voran. Ich plädierte dafür, den Kampf zwischen den Geschlechtern zu beenden und großmütig und verständnisvoll nach neuen Gemeinsamkeiten zwischen Frauen und Männern zu suchen. (...) Mein (ironisch gemeinter) Vorschlag, die armen, verunsicherten Männer sollten sich auf ihre starken Frauen stützen, ihre angemaßte Überlegenheit aufgeben und echte Partner mit allen Rechten, Pflichten und Freuden werden, fand allerdings bei den Lesern der 'Frankfurter Allgemeinen' keine allgemeine Zustimmung."

1968, mit 42 Jahren, wird sie Redakteurin bei der FAZ, ist lange Jahre für die Hochglanzbeilage "Bilder und Zeiten" und die Auswahl des FAZ-Romans verantwortlich, behauptet sich als eine der wenigen Frauen in der von Männern dominierten Redaktion. Es ist daher von bitterer Ironie, dass ihrem sozialen und literarischen Engagement am Ende wieder Grenzen gesetzt wurden: von Marcel Reich-Ranicki nämlich, der ihre geliebte Beilage zunehmend "okkupierte" und sie resignieren ließ. "Gegen seinen Expansionsdrang und seine missionarische Überzeugung - daß nämlich die Literatur und die Literaten, insbesondere die Literaturkritiker, das Wichtigste der Welt seien - konnte ich mich ohnehin nicht wehren. (...) Gegenmeinungen, und wenn sie noch so gut begründet waren, ignorierte er einfach. Es war ihm scheinbar auch gleichgültig, wenn man seine Aggressionen und sein lautes Gehabe nicht ernst nahm - zum Schluß machte er doch (...), was er wollte."

An Reich-Ranickis Arbeit als Literaturchef lässt Maria Frisé, die 1991 aus der Redaktion ausschied, kein gutes Haar; man merkt, dass diese Wunde noch blutet.


Titelbild

Maria Frisé: Meine schlesische Familie und ich. Erinnerungen.
Aufbau Verlag, Berlin 2004.
333 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3351025777

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