Wie viel Hitchcock steckt in einem Hitchcock-Film?

Vibeke Reuter vergleicht die Filme des "Master of Suspense" mit ihren literarischen Vorlagen

Von Fehmi AkalinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fehmi Akalin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1948, zwanzig Jahre bevor sein Landsmann Roland Barthes den "Tod des Autors" proklamierte, hatte der französische Regisseur und Kritiker Alexandre Astruc in einem viel beachteten Aufsatz endlich auch dem filmischen Autor zu seiner semantischen Geburt verholfen: Was dem Schriftsteller ein Stift und ein Blatt Papier, sei dem Filmemacher die Kamera, mit der er auf die Leinwand schreibe. Mit seiner Idee des "camerá stylo" hatte Astruc erstmals das Konzept des filmischen Autors von seinen printliterarischen Wurzeln abgekoppelt - nicht mehr der Schriftsteller der literarischen Vorlage oder des Drehbuchs galt als der Autor eines Films, sondern einzig dessen Regisseur.

Großen Einfluss hatte Astrucs Idee des "Kamera-Stifts" auf einige aufstrebende Filmkritiker, die sich Mitte der 1950er unter der Federführung eines gewissen François Truffaut daran machten, die bildungsbürgerliche Zwei-Kulturen-Theorie (Hochbewertung der Schriftkultur, Minderbewertung der Bildkultur) einerseits in Frage zu stellen, andererseits aber mit umgekehrtem Vorzeichen auf ein neues Fundament zu stellen: hier der einfallslose Szenarist, der Handwerker, der sich auf die Adaptation schriftlicher Vorlagen beschränkt, dort der geniale cineastische auteur, der eine individuelle Handschrift erkennen lässt. Zur Galionsfigur dieser "politique des auteurs" avancierte alsbald Alfred Hitchcock. Ein früher Kulminationspunkt dieser Idealisierung war das legendäre Mammutinterview, das Truffaut Ende der 60er Jahre mit dem Thriller-Regisseur führte und das Hitchcocks bis heute anhaltendes Image als alleiniger Autor seiner Filme konsolidierte - freilich mit nicht unerheblicher Unterstützung durch den Meister selbst.

Es ist hauptsächlich dieses Interview, welches Vibeke Reuter in ihrer Dissertation für die schiefe Rezeption der Rolle der Vorlagen in der "Hitchcock-Forschung" verantwortlich macht. Zu vorschnell habe man in der Folge "Hitchcocks eigene Aussagen, wonach diesen literarischen Quellen keinerlei Bedeutung zukomme", akzeptiert. Angesichts der Tatsache, dass "nahezu 80 % seiner insgesamt 54 Filme" auf Romanen und Kurzgeschichten basieren, ist es in der Tat erstaunlich, dass die Sekundärliteratur dieses Thema noch nicht systematisch behandelt hat. Die Autorin sieht in einer "differenzierten" Analyse dieses Verhältnisses einerseits die Möglichkeit, die "gängige Meinung" zu revidieren, Hitchcock habe seine "Meisterwerke aus minderwertigen Vorlagen" entwickelt, andererseits glaubt sie, dass sich Hitchcocks "eigene 'Handschrift' umso deutlicher" offenbart, je eindeutiger "diejenigen Elemente, die Hitchcock aus seinen Vorlagen bezogen hat", isoliert werden können.

Auf die in den Literatur- und Filmwissenschaften virulenten Debatten um das Diskursgeflecht "Autor" geht Reuter allerdings nicht ein. Aus gutem Grund, wird man annehmen dürfen: Denn die Prämisse der Arbeit, dass die "Gegenüberstellung der Filme mit den Ausgangstexten" es erlaubt, "einen Zugang zu Hitchcocks filmschöpferischer Arbeitsweise, seiner 'Handschrift'" zu finden, funktioniert wohl nur dann, wenn man den Konstruktcharakter der Autorschaft 'invisibilisiert' und davon ausgeht, die Individualität eines Autors ließe sich anhand textueller Merkmale eindeutig "identifizieren". Spielen wir das Spiel also mit und sehen uns an, welche Beobachtungsvorteile dieser blinde Fleck der Arbeit zu bieten hat.

Nachdem die Autorin ihr innovatives Projekt vorgestellt hat, skizziert sie mit bewundernswerter Stringenz die Erträge der Medienkomparatistik und trägt aus der Narrationsforschung die für ihr Vorhaben relevanten "Vergleichsparameter" zusammen: Von der Makro-, Raum- und Zeitstruktur, über die Erzählsituation, Story, Wissensdistribution und medienspezifischen Gestaltungsmittel bis hin zu den Figuren, Unbestimmtheitsstellen und Genreelementen werden die - leider nicht immer trennscharfen - Ebenen markiert, an denen die folgenden Textvergleiche ansetzen sollen.

Allerdings scheint die Autorin zwischen zwei unterschiedlichen Zugangsweisen zu ihrem Thema geschwankt zu haben: ob sie ihre Arbeit nämlich als Beitrag zur "Hitchcock-Forschung" oder eher zum Forschungsgebiet der "Literaturverfilmung" konzipieren soll. Zum Leidwesen nicht nur der Hitchcock-Fans hat sie sich bedauerlicherweise für die zweite Option entschieden: Sie stellt ihre Ergebnisse nicht entlang exemplarischer Werkvergleiche vor, sondern umgekehrt anhand der zehn Vergleichsparameter, die zugleich die einzelnen Kapitel des Hauptteils konstituieren. Am Informationswert ihrer Studie ändert dies freilich nicht das Geringste, nur macht diese Präsentationsform die Lektüre zu einer relativ mühsamen Angelegenheit, weil die Kapitel dadurch etwas schematisch ausfallen, die konkreten Texte lediglich zur Illustration übergeordneter Kategorien dienen und gewisse Redundanzen nicht ausbleiben. Dabei zeigt Reuter mit ihrer im Einleitungskapitel vorgeführten exemplarischen Vergleichsanalyse der Exposition von "Marnie" in Roman und Film, wie spannend konkrete Werkvergleiche sein können - und gerade hier demonstriert sie, wie fruchtbar, obwohl eindeutig den Werken untergeordnet, ihr Vergleichskatalog doch sein kann.

Die Orientierung an den einzelnen "erzähltechnischen Ebenen" und die damit einhergehende fragmentarisierende Betrachtung der Einzelwerke sorgen aber auch dafür, dass die jeweiligen Resultate letztlich seltsam unverbindlich bleiben. Da sind zum einen die als "typisch Hitchcock" betrachteten Figuren wie die "böse, dominante Mutter", die bereits Elemente der literarischen Vorlagen sind; zum anderen zeigt sich, dass "Hitchcock in der Tat Blondinen bevorzugt" hat - teilweise im Gegensatz zu den Ausgangstexten. Einerseits neigte Hitchcock dazu, konkrete Zeitbezüge der Vorlagen zu kappen, was den Filmen eine gewisse "Universalität" verleiht, andererseits lassen sich die "prominentesten Themenkomplexe in den Filmen Hitchcocks", wie etwa "schuldige Frauen", der "zu Unrecht verdächtigte und verfolgte Mann" oder die große Skepsis "gegenüber staatlichen Institutionen" auch in den entsprechenden Vorlagen ausmachen. Aber selbst dort, wo die Teilergebnisse recht eindeutig ausfallen, lassen sie sich schwerlich zu einem endgültigen Gesamturteil summieren.

Es ist der Autorin hoch anzurechnen, dass sie diese ambivalenten Teilergebnisse in ihrem Schlusskapitel nicht gewaltsam glattbügelt, dennoch bleibt ihr mehrfach geäußertes Fazit, Hitchcock habe in seinen Filmen eine gewisse "Tendenz zur Mitte" kultiviert, zu komfortabel. Klugerweise erliegt Reuter jedoch nicht der Versuchung, die alternative Lesart unter den Tisch zu kehren, die großen Parallelen zwischen Vorlage und Film könnten womöglich auch daraus resultieren, dass Hitchcock "bei der Suche nach Material" gezielt nach Romanen "Ausschau" hielt, die seinen persönlichen Vorlieben entsprachen. Gerade an dieser Stelle wird aber auch deutlich, wie kontingent die Zuschreibungsoperation Autorschaft eigentlich ist. Und spätestens hier rächt sich, dass die Autorin den Konstruktcharakter dieses Phänomens nicht problematisiert hat.

Bleibt die Frage, ob diese unter dem Strich sehr anregende Studie tatsächlich einen Beitrag zur "Deglorifizierung Hitchcocks" leistet. Für den akademischen Diskurs wird die Beantwortung dieser Frage davon abhängen, wie anschlussfähig sich Reuters interessanter Zugriff erweisen wird. Im außerwissenschaftlichen Diskurs dürfte der Effekt eher relativ gering sein - zu sehr ist Hitchcocks Name noch heute ein Markenzeichen. Nur wenige Regisseure können dies schließlich für sich in Anspruch nehmen.


Titelbild

Vibeke Reuter: Alfred Hitchcocks Handschrift. Vom literarischen zum filmischen Text.
WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2005.
203 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3884767127

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