Spurensicherung

Edward P. Jones' mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Sklavenroman "Die bekannte Welt"

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal ist die Wirklichkeit so paradox, sie ließe sich gar nicht paradoxer erfinden: Vier Millionen Schwarze wurden seit den ersten Verschleppungen aus Afrika in die USA bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs vor allem auf den Baumwollfeldern des Südens ausgebeutet - und mussten so für den Wohlstand der weißen Plantagenbesitzer sorgen. Erstaunlich jedoch ist die Tatsache, dass es Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 3.000 ehemalige Sklaven gab, die wiederum selbst Schwarze gekauft und für sich haben schuften lassen. Moses könnte einer von denen gewesen sein, die unter der Knute eines schwarzen "Massa" standen: "Er war fünfunddreißig Jahre alt und jede Minute seines Lebens jemandes Sklave gewesen, erst der Sklave eines Weißen, dann der Sklave eines anderen Weißen und jetzt, seit nunmehr fast zehn Jahren, Sklavenaufseher eines schwarzen Herrn." Moses' Besitzer heißt Henry Townsend. Im Alter von neun Jahren wird er von seinen Eltern freigekauft und zum Schuhmacher ausgebildet. Dadurch kommt er selbst zu Geld - und zu eigenem Besitz: zu Land und 33 Sklaven.

Edward P. Jones hat mit seinem imposant instrumentierten Roman "Die bekannte Welt" dieses fast unbekannte Kapitel für die Literatur aufgeschlagen: Tief im Süden der USA, im fiktiven Manchester County, Virginia, geraten wir in eine Geschichte, die man schon allzu gut aus Romanen und Filmen zu kennen glaubt und die doch ganz neue historische Facetten aufzeigt. Wie, fragt man sich, werden aus Sklaven Herren? Wie geht es an, dass freie schwarze Bürger sich am Kaffeetisch gepflegt über das ihnen bedrohlich erscheinende Szenario eines Sklavenaufstandes unterhalten? Und wie kommt es dazu, dass sich eine junge schwarze Frau ihren Sklaven zum Geliebten nimmt und mit dessen Hoffnung spielt, durch sie in Freiheit zu gelangen?

Die Geschichte ist um das Jahr 1855 angesiedelt, und auch der Gestus des Erzählens stammt aus einer Zeit, als es noch einen alle Strippen ziehenden Erzähler gab und Überschriften, die den Leser neugierig machen und auf das Kommende vorbereiten sollten: "Hiob. Mischlingshunde. Zum Abschied Schüsse" ist etwa das siebte Kapitel betitelt. Das Personal ist umfangreicher als in einem russischen Roman, und die Stammbäume sind so verzweigt, dass man sich zunächst darin zu verheddern fürchtet. Edward P. Jones versucht in seinem ersten Roman - 1992 veröffentlichte er einen Band mit Erzählungen - nicht mehr und nicht weniger als eine Epoche und ihren Niedergang mit den Mitteln des großen Gesellschaftsepos' auferstehen zu lassen: "Die amerikanische Volkszählung von 1840 enthielt eine Unmenge Tatsachen, weit mehr als die statistische Erhebung, die der alkoholisierte Abgeordnete im Jahre 1830 vorgenommen hatte, und alle diese Tatsachen verwiesen auf die eine große Tatsache, dass Manchester damals das größte County im Staate Virginia war, ein Bezirk mit 2191 Sklaven, 142 freigelassenen Negern, 939 Weißen und 136 Indianern, die meisten von ihnen Cherokee, mit ein paar vereinzelten Choktaw." Hinter den Zahlen verbirgt sich eine erfundene und in der amerikanischen Vergangenheit gefundene Welt von Herren und Sklaven, von Unterdrückung und Freiheitsdrang, Bigotterie und Gewalt.

Jones wendet einen wunderbaren Kunstgriff an. Der Roman setzt ein, als sein heimliches Zentrum gerade verschwindet: Der 31-jährige Henry Townsend liegt im Sterben. Seine Eltern, Augustus und Mildred, "hielten einander im Arm. Einer von ihnen - später würden sie sich nicht mehr daran erinnern, welcher von beiden - begann von Henry zu reden, von seiner Geburt bis zu seinem Tode, der Anfang eines wochenlangen Unternehmens, bei dem sie sich alles ins Gedächtnis zurückriefen, was sie über ihren Sohn wussten. Hätten sie das Lesen und das Schreiben beherrscht, sie hätten gut und gerne ein Buch von zweitausend Seiten füllen können. Oben im Haus zündete Calvin eine Reihe Kerzen an, um in der Nacht bei Henry zu wachen. Während er die Kerzen anzündete, verhüllte Loretta Henrys Gesicht mit einem schwarzen Seidentuch - sie fand, dass er sich vor seiner Reise am Morgen ausruhen sollte." In Rückblenden und Ausblicken, mit changierenden Perspektiven, ausbrechend aus einem chronologischen Stil, manchmal in einen Protokollton wechselnd, setzt Jones seine Geschichte weniger in Gang, als dass er sie zunächst auf- und ausrollt, in mehrere Richtungen ausbreitet. Figuren werden nur kurz erwähnt oder über Seiten begleitet. Ohne spürbare Empathie berichtet der allwissende Erzähler von den ehrbaren Eltern von Henry, die sich schockiert zeigen, als ihr Sohn sich selbst zum Herren über andere Menschen aufschwingt. Henrys ehemaliger Besitzer William Robbins hat einen Narren an Henry gefressen, betrachtet ihn fast so wohlwollend wie einen Sohn und bringt ihm bei, wie man mit Sklaven umzugehen habe. Robbins selbst hat eine schwarze Geliebte. Man lernt den gottesfürchtigen Sheriff John Skiffington kennen, ein Mann, der niemals Sklaven für sich arbeiten lassen würde, gleichwohl aber seine Häscher nach entlaufenen Schwarzen ausschickt.

Es gibt erzählerische Passagen, die ein großes Gespür für die Abgründe und Leidenschaften des Menschen verraten. Etwa wenn zart angedeutet wird, dass der weiße Sheriff Skiffington sich von einer jungen Schwarzen angezogen fühlt, oder Moses seine Frau loswerden möchte, um nach dem Tod Henrys dessen Witwe Caldonia heiraten zu können und zum Herren des Townsend'schen Besitzes aufzusteigen. Die aber hält ihn sich in ihrer Trauer nur als Geliebten.

In anderen Passagen dagegen verfranst sich Jones ein wenig: Viel Material wird angehäuft und im Staccatostil dem Leser dargeboten. Hunderte von kleinen Lebensgeschichten bringt er auf diesen 450 Seiten unter. Vor allem im ersten Teil muss man sich durch einen Wust an Hintergrundinformationen und Biografien kämpfen. Es soll hier nicht nur aus Worten eine eigene Welt entstehen, sondern etwas Vergessenes bewahrt werden; und wenn Jones noch den Nebenfiguren narrativ eine Zukunft (oder eben keine) vergönnt, dann hat das mit einer Beglaubigung zu tun: Seht her, so sah das Schicksal der Schwarzen in diesem Land aus. In den Vereinigten Staaten gibt es fünf große Organisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Biografien schwarzer Amerikaner zu recherchieren. Für viele Schwarze besteht so heute die Möglichkeit, die Spuren ihrer Vorfahren bis nach Afrika zu verfolgen. Was Jones betreibt, ist ebenfalls eine Art Spurensicherung: Er stellt fiktive, exemplarische Biografien vor, die zusammen eine kollektive Leidensgeschichte bilden. Gewidmet hat Jones das Buch, an dem er mehrere Jahre gearbeitet hat, seinem Bruder und "dem Gedächtnis unserer Mutter Jeanette S. M. Jones, die in einer besseren Welt soviel mehr erreicht hätte". Die bessere Welt lässt sich nicht herbeischreiben, zumindest aber die "bekannte" gelungen beschreiben. Das hat auch die amerikanische Kritik begeistert, die Jones in eine Reihe mit William Faulkner und Toni Morrison rückte. Dem ehemaligen Korrektor einer Wirtschaftszeitschrift wurde im letzten Jahr folgerichtig die höchste Literaturauszeichnung des Landes, der Pulitzer-Preis für Literatur, zugesprochen. Und das nicht zu Unrecht.

Die Erzählung gewinnt so richtig an Bewegung und Spannung, als Augustus entführt wird und die Ereignisse auf der Townsend-Plantage das Potenzial an Aufruhr, Wut und versteckter Begierde in den Figuren erahnen lassen. Die bekannte Welt gerät aus den Fugen, und auch das Erzählen wird haltlos und mitreißend, bis hin zu dramatischen Wendungen, halluzinatorischen Szenen und poetischen Visionen. "Als Augustus Townsend starb, in Georgia, nahe der Grenze zu Florida, schwebte er aus dem Stall, in dem er gelegen hatte, über die Bäume, das verfallene Räucherhaus und das nahe Wohnhäuschen hinweg und eilte raschen Schrittes von dannen, in Richtung Virginia. Er entdeckte, dass die Menschen schneller liefen, wenn alles hinter ihnen lag, hundertmal schneller als zu der Zeit, da sie noch an die Erde gebunden waren. Und so gelangte er im Handumdrehen nach Virginia."

Schwebend und sicher ist dieses Buch an solchen Stellen, beeindruckend im Entwurf einer ganz eigenen Topografie. Der Schluss des Romans markiert einen Anfang und eine Entgrenzung: "Die bekannte Welt" endet mit dem Jahr 1861, dem Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs und zumindest der formalen Befreiung der Schwarzen.


Titelbild

Edward P. Jones: Die bekannte Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans Christian Oeser.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005.
447 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3455036961

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