Weibliche Genitalverstümmelung

Antje-Christin Büchner analysiert den Zusammenhang zwischen Tradition und Menschenrechtsverletzung

Von Marion HulverscheidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Hulverscheidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel dieser Publikation entspricht dem klassisch-weiblichen Understatement, gleichwohl legt Büchner mit dieser Arbeit eine solide und umfassende Darstellung der problematischen Thematik weibliche Genitalverstümmelung vor. Der Diplomarbeitscharakter dieses Buches ist nicht zu verkennen. Dennoch liefert Büchner nicht nur eine Deskription des Bekannten, sie argumentiert stringent und entwirft Perspektiven für den Umgang mit dem komplexen Problem in Deutschland.

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert: Im ersten werden die Fakten und Hintergründe der Praktik dargelegt, im zweiten wird der lange Weg zur Akzeptanz der weiblichen Genitalverstümmelung als Menschenrechtsverletzung mit den verwendeten Argumenten griffig dargestellt, im dritten Teil werden Handlungsoptionen für die Sozialarbeit in Deutschland entwickelt. Büchner greift auf die einschlägige deutschsprachige Literatur zurück, ohne zu paraphrasieren. Die verwendeten medizinischen Fachbegriffe, die für eine Schilderung der kurzfristigen und chronischen körperlichen Folgen notwendig sind, werden in einem Glossar erläutert. In einem Anhang sind die Adressen der bestehenden Beratungsstellen und Organisationen in Deutschland verzeichnet. So wendet sich dieses Buch durchaus auch an interessierte Laien.

"Warum lebt diese Praktik?" Eine naive, gleichwohl einleuchtende Frage, die von Menschen aus Westeuropa nicht zum ersten Mal gestellt wird. Diese Frage betitelt den Abschnitt, in dem die Ursprünge und Begründungen der weiblichen Genitalverstümmelung erläutert werden. Büchner gelingt es, ihre westeuropäische Wertung im Hintergrund zu belassen, indem sie deutlich macht, welche gesellschaftliche Bedeutung diese kulturelle Praxis in den einzelnen Kulturen hat. Auch kapselt sie die Praktik nicht als eine afrikanische oder religiöse ab, sie zeigt die Pluralität der Orte, Zeiten und Begründungen auf. Als Gemeinsamkeit zwischen der heutigen Genitalverstümmelung afrikanischer Mädchen und der Klitorisentfernung zur Abstrafung von homosexuellen Frauen oder zur Behandlung der Masturbation beim weiblichen Geschlecht im 19. Jahrhundert besteht der männliche Überlegenheitsanspruch, der die Kontrolle über die weibliche Sexualität, die Frauen und somit über die Weiblichkeit gewinnen will. Genital verstümmelnde Eingriffe negieren die sexuelle Selbstbestimmung der Frau. Aus diesem Grunde und weil sie gesundheitsschädlich und diskriminierend sind, sind sie negativ zu werten; aus soziokultureller Perspektive wirken sie indes auch positiv. Büchner hält diese Ambivalenz aus und geht damit um, ohne davon gefangen oder überwältigt zu werden.

Es war ein langer Weg, bis die Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung als Menschenrechtsverletzung anerkannt wurde, und es dauert noch fort, bis sie auch vom letzten Entscheidungsträger in Sachen Asyl und Aufenthaltsrecht als solche wahrgenommen wird. In der Diskussion um diese Praktik finden sich die großen Diskussionen der allgemeinen Menschenrechte: die Schwierigkeit der Trennung von öffentlicher und privater Verfolgung, die Gegenübersetzung von Universalismus versus Kulturrelativismus, konkreter das Recht auf körperliche Integrität gegenüber dem Recht auf kulturelle Identität, und die Ungleichbehandlung der Geschlechter in der Menschenrechtsdebatte. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und in nachfolgenden Erklärungen sind durchaus Bestimmungen erhalten, die Frauen vor der Praktik schützen könnten, doch wurden sie anders ausgelegt. Die Diskriminierung der Frau wurde im Menschenrechtskonzept als natürlich angesehen, der Prototyp Mensch war ein Mann, für dessen Schutz in der Öffentlichkeit das Menschenrechtskonzept galt; die Frau in privater Sphäre erhielt keine Protektion. Erst die Weltfrauenkonferenzen nahmen hier Einfluss mit ihren Erklärungen, ebenso wie die Frauenkonvention (CEDAW) von 1979. Doch alle UN-Erklärungen werden in den Gesetzwerken der Einzelstaaten verwässert.

Eine Menschenrechtsverletzung stellt die weibliche Genitalverstümmelung heutzutage dennoch dar, wegen der Mißachtung der Rechte auf körperliche Unversehrtheit, auf physische und psychische Gesundheit sowie auf Sexualität und Reproduktion.

Im dritten Teil des Buchs erläutert Büchner die Situation hinsichtlich der weiblichen Genitalverstümmelung in Deutschland und fokussiert auf die Rolle der Sozialen Arbeit. Zwar verbietet es in Deutschland kein spezielles Gesetz die weibliche Genitalverstümmelung, doch gibt es im Strafgesetzbuch hinreichende Möglichkeiten zur Verurteilung sowohl des Eingriffs an sich als auch der Planung desselben. Auch Außerlandesbringung von Schutzbefohlenen zur Ausübung einer Straftat (Körperverletzung nach bundesdeutschen Recht) ist strafbar. Im deutschen Asylrecht stellt die geschlechtsspezifische Verfolgung keinen hinreichenden Grund dar; dies war die Auffassung der rot-grünen Bundesregierung 2001. Lediglich als Abschiebehindernis im Sinne des § 53 des Ausländerrechts wurde die weibliche Genitalverstümmelung anerkannt. Aus diesem dissonanten Spannungsfeld von rechtlichen Regelungen und aus der Ambivalenz in der Beurteilung leiten sich Aktionsfelder für die Soziale Arbeit ab. Weibliche Genitalverstümmelung birgt als Ritual die Identifikation mit der Kultur in der Heimat, und steht so einer Integration der in Deutschland lebenden MigrantInnen entgegen. Die Ablehnung dieser kulturellen Praxis kann hingegen die Eingliederung in Deutschland erleichtern. Büchner plädiert für niederschwellige Beratungsangebote und für breit angelegte Schulungen von MitarbeiterInnen diverser Beratungsstellen. Denn nur so könne gewährleistet werden, dass Frauen und Mädchen, wenn sie den Topos Genitalverstümmelung in einem Beratungsgespräch erwähnen, an eine spezialisierte Stelle der Beratung oder der Selbsthilfe weiterverwiesen werden. Darüber hinaus stellt sie die interkulturelle Kompetenz und eine holistische Sichtweise der Frau als notwendig dar, der am besten in einem interkulturell zusammengesetzten Beratungsteam entsprochen werden kann.

Dieses in klarer Sprache geschriebene Buch erfüllt mehrere Aufgaben: Es stellt die wichtigsten Fakten anschaulich dar, leitet in verständlicher Argumentation her, warum weibliche Genitalverstümmelung eine Menschenrechtsverletzung darstellt und zeigt darüber hinaus Handlungsoptionen auf. Somit wendet es sich an die Sozialarbeiterin, an die politischen Entscheidungsträger und an die interessierten Laien zugleich.

Empfehlenswert!


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Antje-Christin Büchner: Weibliche Genitalverstümmelung. Betrachtungen eines traditionellen Brauchs aus Menschenrechtsperspektive. Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit in Deutschland.
Paulo Freire Verlag, Oldenburg 2004.
144 Seiten, 20,90 EUR.
ISBN-10: 3865854036

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