Die Wiederkehr des Religiösen in der Postmoderne

Gianni Vattimos Studie bewegt sich "Jenseits des Christentums"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zweifelsohne gehört der italienische Philosoph Gianni Vattimo zu den führenden Denkern der so genannten 'Postmoderne'. In seinen Schriften hat er am Leitfaden des Differenzbegriffs die vor allem durch Nietzsche und Heidegger eingeleitete Transformation des überlieferten metaphysischen Identitätsdenkens in der Vielfalt ihrer Auswirkungen beleuchtet. Nietzsche folgend, bedeuten die "Abenteuer der Differenz" für Vattimo ein Sicheinlassen des Denkens auf das wechselnde Spiel der Erscheinungen, in dem sich die Grundlosigkeit des Denkens ausdrückt. Dem Versuch, Differenz und Identität dialektisch zu versöhnen, stellt Vattimo - im Anschluss an Gadamer - die "hermeneutische Vernunft", d. h. die unendlichen Interpretationen im geschichtlichen Dialog entgegen. Im Unterschied zu Derridas Denken der différance im Sinne einer "ursprünglichen Struktur" hebt Vattimo, hierin Heideggers Gedanken weiterführend, den Ereignischarakter des Seins hervor. Dabei betont er, dass gerade in der technischen Welt das scheinbare Vergessen der Differenz eine Auflösung des metaphysischen Subjekts und seiner "gewalttätigen" Kategorien ankündigt, die im Vorrang der "Anwesenheit" gründen. Heideggers "An-denken" nimmt der Gegenwart ihre Stabilität, sodass sich von dieser Erfahrung der "ontologischen Differenz" aus sich die "abendländische" Ontologie als eine "untergehende" darstellt.

An diese Überlegungen knüpft Vattimo in seiner kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen Publikation "Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott?" (Dopo la christianità. Per un christianesimo non religioso, Milano 2002) an, indem er - im Anschluss an Nietzsches "vollkommenen Nihilismus" nach der Toterklärung Gottes sowie an Heideggers "Verwindung der Metaphysik" - der Frage nachgeht, wer an die Stelle Gottes getreten ist, zumal politische Ideologien und wissenschaftliche Weltentwürfe, die sich als potenzielle Nachfolger gerierten, ihren Anspruch auf höhere Wahrheit längst wieder aufgeben mussten. Völlig zu Recht weist er darauf hin, dass es dort, wo es ein Absolutes gibt, und sei es auch die Behauptung der Nichtexistenz Gottes, immer noch die Metaphysik, das höchste Prinzip, gibt und das heißt eben gerade auch jenen Gott, dessen Überflüssigsein Nietzsche entdeckt zu haben glaubte. So wie Nietzsche nicht behaupten kann, dass Gott nicht existiert, so kann Heidegger nicht die Metaphysik bestreiten und behaupten, das Reale habe eine nicht objektive Struktur, da sich auf diese Weise immer noch eine Struktur behaupten würde. Nicht uninteressant ist Vattimos Überlegung, hierin könne die zweite Chance des Christentums liegen, das sich durch die Erfahrungen der Kritik und der Widerlegung verändert habe: "Mir scheint ganz einfach, daß man sagen kann, die Epoche, in der wir heute leben und die zu Recht postmodern heißt, ist die Epoche, in der man sich die Wirklichkeit nicht mehr als eine fest in einem einzigen Fundament verankerte Struktur denken kann, wobei es die Aufgabe der Philosophie wäre, diese zu erkennen, und die Aufgabe der Religion vielleicht, sie anzubieten. Die tatsächlich pluralistische Welt, in der wir leben, läßt sich nicht mehr mit einem Denken interpretieren, das sie im Namen einer letzten Wahrheit um jeden Preis in eine Einheit bringen will".

Dabei rekurriert der Postmoderne-Theoretiker Vattimo auf durchaus moderne bzw. sogar prä-moderne Fragen: Können letzte Fragen der Existenz, die Leben und Tod betreffen, überhaupt überzeugend beantwortet werden ohne einen Rückgriff auf eine Instanz, die sich den Begriffen unserer Welt entzieht? Vattimos Antwort mutet gleichermaßen paradox wie erregend an: Nach dem Ende der absoluten Gewissheiten haben wir die Freiheit zurück gewonnen, erneut an eine letzte Gewissheit zu glauben, die durch einen christlichen Glauben bestimmt wird, der sich von allen einengenden Dogmen und ontologischen Verkrustungen befreit hat. Daraus leitet Vattimo eine Ethik "im Zeichen der pietas gegenüber dem Lebendigen" ab, die sich von den revolutionären Rechtfertigungen im Namen von Utopien bzw. absoluten Werten wesentlich unterscheidet. Dabei distanziert sich Vattimo von der etwa bei Habermas entwickelten Theorie der "Kommunikationsgemeinschaft", sofern diese die Differenz, d.h. die Aufhebung des Grundes, vergisst und ein "Ideal" konstruiert. Der hermeneutische Dialog stellt für Vattimo demgegenüber das "Spiel" von Differenz und Identität als einen "Rückgang in infinitum" dar, in dem die Rekonstruktion der "Leitworte" der Metaphysik, bedingt durch das geschichtliche und interkulturelle Gespräch, unabgeschlossen bleibt: "Der universelle Wert einer Behauptung wird geschaffen, indem man den Konsens im Dialog konstruiert und dabei nicht behauptet, man habe das Recht auf Zustimmung, weil man über die absolute Wahrheit verfügt. Und ein dialogischer Konsens wird geschaffen, indem man das anerkennt, was wir als kulturelles und historisches Erbe sowie auch als dasjenige von technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften gemeinsam haben".

Dementsprechend ist es Vattimos Absicht zu zeigen, wie es der postmoderne Pluralismus gestattet, den christlichen Glauben wieder zu entdecken. Schließlich sei, wenn Gott tot ist und die Philosophie zur Kenntnis genommen hat, dass sie das letzte Fundament nicht mit Gewissheit ergreifen kann, auch die "Notwendigkeit" des philosophischen Atheismus beendet, da nur eine "absolutistische" Philosophie den Anspruch formulieren konnte, die religiöse Erfahrung zu leugnen. Daraus folgt für Vattimo: "Eben weil Gott als letztes Fundament, und das heißt als absolute metaphysische Struktur des Wirklichen, nicht mehr vertretbar ist, eben deshalb ist es von neuem möglich, an Gott zu glauben. Allerdings nicht an den Gott der Metaphysik und der mittelalterlichen Scholastik, der jedenfalls nicht der Gott der Bibel ist, das heißt des Buches, das gerade die moderne rationalistische und absolutistische Metaphysik nach und nach aufgelöst und geleugnet hatte". Eine weitere Konsequenz ist aber auch, dass wir wieder frei sind, das Wort der Heiligen Schrift zu hören und zu entdecken, dass das, was uns bleibt, eben der biblische Begriff von der Schöpfung und von der Kontingenz und Geschichtlichkeit unserer Existenz ist. Übersetzt in die philosophische Begrifflichkeit Vattimos: "Auch und vor allem auf Grund der Erfahrung des postmodernen Pluralismus können wir das Sein ausschließlich als Ereignis denken und die Wahrheit nicht mehr als Widerspiegelung einer ewigen Struktur des Realen, sondern als geschichtliche Botschaft, die es zu hören gilt und die zu antworten wir aufgerufen sind". Eine solche Botschaft, darauf macht Vattimo mit Recht aufmerksam, gilt nicht nur für die Theologie und die Religion, sondern auch und gerade für einen großen Teil der Naturwissenschaften, die sich der Historizität ihrer Paradigmen bewusst geworden sind.

An diesem Punkt lassen sich Vattimos Gedanken Gewinn bringend weiterdiskutieren: Wenn wir annehmen, die postmoderne Auffassung von der Wahrheit als Übermittlung von Botschaften sei nicht intellektuelles Blendwerk, sondern habe Sinn, dann wird es von neuem möglich, die Bibel ernst zu nehmen, da sie "eines der Bücher ist, die das 'Paradigma' der westlichen Kultur zutiefst geprägt haben". Im Licht der Wiederkehr des Religiösen und seiner weltweiten Konjunktur erfährt die Religion damit ihre philosophische Nobilitierung jenseits der tradierten Dichotomie von Mythos und Aufklärung. Wenn das keine gute Nachricht ist!


Titelbild

Gianni Vattimo: Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott?
Übersetzt aus dem Italienischen von Martin Pfeiffer.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
192 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3446204830

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