Sitzen Christen und Atheisten in einem Boot?

Zwei Germanisten streiten über Glaube und Unglaube

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das "Unglaubensgespräch" zwischen Jacques Wirion und Hermann Kurzke beginnt mit einem Paukenschlag. Hermann Kurzke, Professor für neuere deutsche Literatur und Mitarbeiter deutscher Tagszeitungen, hatte sich so sehr geärgert "über das Verhältnis repräsentativer Teile der deutschen Intelligenz zur Bibel" im Allgemeinen und über zwei Verlage im Besonderen, die "die Bibel einem nicht mehr religiös, sondern nur noch kulturell an ihr interessierten Publikum anbieten", dass er in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" heftig vom Leder zog.

Das wiederum weckte den Zorn des luxemburgischen Gymnasiallehrers, Essayisten und Aphoristikers Jacques Wirion, sodass er spontan einen Brief verfasste, in dem er unmissverständlich klarmachte, dass er der Bibel keinen besonderen Schutz vor Kritik oder Respektlosigkeit zugestehen wolle. Immerhin würden seit der Renaissance und der Aufklärung die so genannten Heiligen Texte zusehends ihrer Heiligkeit und Außergewöhnlichkeit entkleidet. Schließlich könne die Bibel Respektlosigkeit so gut vertragen wie ein Text von Shakespeare oder Goethe. Kurzke dankte mit wenigen Zeilen. Daraufhin bot Wirion ihm einen intensiven Gedankenaustausch über Bibel und Glauben an. Sich selbst bezeichnete er als einen halb pubertären Atheisten, der zu irgendeinem Glauben an einen personalen Schöpfergott nicht zurück könne, weil er die Empfindung habe, die Welt sei insgesamt nicht so eingerichtet, dass sie auf eine solide und vertrauenswüdige Person verweise. Angesicht der Negativitäten des Daseins bliebe ihm der Gesang von Psalmentexten mit all ihren Lobestönen ohnehin im Halse stecken. Kurzke schickte ihm - und damit kam die Korrespondenz zwischen beiden erst richtig in Gang - ein Jahr später im Februar 2002 einen Artikel, der für die Karsamstagsausgabe der "WELT" bestimmt war und den Titel trug: "Frömmigkeit ohne Glauben. Aphorismen über Christentum als Kultur."

In diesem Aufsatz führt Kurzke aus, dass die Hoffnung, die Menschen seien ohne Religion glücklicher, bisher nicht aufgegangen sei, und dass die Religion doch mancherlei Vorteile biete. Sie wirke nicht neurotisierend, sondern antidepressiv. Verdrängt werde zudem, wovon man sich nicht emanzipieren könne: Sünde, Leid und Tod. Diese "wiederstehen dem Zugriff des auf Mündigkeit pochenden Subjekts." Es sei an der Zeit, schreibt er weiter, "die großen christlichen Überlieferungen mit Macht zu pflegen". Zudem sei es erquickend, "sich vor dem Allmächtigen zu beugen." Dabei entwirft Kurzke gleichzeitig, wie aufmerksame Leser unschwer erkennen dürften, ein Zerrbild vom Atheisten und ein Idealbild vom "Jenseitsgläubigen".

Jacques Wirion fühlt sich in vielerlei Hinsicht provoziert. Sich aus bloßen Nützlichkeitserwägungen für das Christentum zu entscheiden, wie Kurzke suggeriert, dünkt ihm reichlich anrüchig. Er hält Kurzke vor, er strebe eine Rekonstruktion des Glaubens an Gott an über den Umweg seiner zahlreichen Vorteile für den Menschen: Trost, Sinnstütze und dergleichen. Für ihn, Wirion, sei Christus nicht mehr "diskursfähig", weil seine Glaubenskräfte durch eine verdorbene religiöse Sozialisation vernichtet worden seien. Gleichwohl reizten ihn noch immer theologische Fragestellungen. Die Gottesfrage habe ihn nie losgelassen, auch wenn es ihm jetzt "weniger um seine absolute theologische Existenz geht als um die soziologisch-psychologische in den Köpfen der Gläubigen."

In einem späteren Brief versucht Kurzke, in einem konkreten Fall das Unbegreifliche auf das Wirken höherer Mächte zurückzuführen. Wirion glaubt dagegen an den Zufall. Nicht alles, was geschieht, müsse einen Sinn oder eine Bedeutung haben. Auch wenn das Bedürfnis vorhanden sei, eine höhere Macht für das Unerklärliche und vom Menschen nicht Verschuldete verantwortlich zu machen, so müssten aufgeklärte Menschen doch die Tatsache akzeptieren, dass die Welt nicht von höheren Mächten zusammengehalten werde, sondern dass in ihr Sinnlosigkeit und Zufall herrschten.

Manche Passagen, die Kurzke schreibt, wie etwa seine "Betrachtungen über die Leidensgeschichten der Evangelien" lesen sich wie Predigten. Kein Wunder, dass Wirion ihm heftig widerspricht. Ganz offensichtlich leidet der Luxemburger unter dem Erbe seiner katholischen Sozialisation, in der er mit einer kalten und abstoßenden Gottesvorstellung konfrontiert worden war, und bekennt mit Montaigne, dass ihm seine Unzulänglichkeit kaum missfalle, dass er mit sich einverstanden sei und es ablehne, sich von der Religion erniedrigen zu lassen.

Wirion stellt weitere unbequeme Fragen. Wohin schreiten wir? Gibt es überhaupt ein Ziel? Wie soll der Mensch glücklich werden, solange ihn das Gefühl der Schuld verfolgt und prägt? Kurzke wiederum pocht auf die Kraft der Religion und weist auf die theologische Antwort hin: "Jesus trägt unsere Sünden."

Aber Wirion gibt nicht auf. "Was ist eigentlich so unerträglich an der Vorstellung, dass wir aus dem Nichts kommen", will er wissen, "einige Zeit da sind und wieder ins Nichts verschwinden? Gibt uns dieses Leben nicht an sich Stoff genug, an dem wir uns abarbeiten und somit Lebensfülle erlangen können?"

Die Gedanken überschlagen sich. Selbst Kurzke gesteht zuweilen, dass er nicht so recht weiter weiß, und Wirion gibt eines Tages zu, dass bei ihm der Groschen gefallen sei und er deutlicher zu verstehen beginne, welche Bedeutung Religion für Kurzke hat.

Kurzke erntet aber nicht nur Widerspruch von seinem Briefpartner. In seinen Briefen äußert er auch Gedanken, die sein Gegenüber erfreuen und beglücken. Allerdings geht es dann nicht so sehr um Religion, sondern um Novalis, um Goethe, Nietzsche, um die Ursachen von Fausts Errettung, um Glück, Angst und Freiheit, Freundschaft und Liebe, um die Frage "Was macht uns kreativ?" und anderes mehr. Nebenbei verhilft Kurzke als Thomas Mann-Experte seinem Partner zu vielen neuen und wichtigen Erkenntnissen über den Lübecker Dichter. In Sachen Kultur, Philosophie, Literatur ist man sich schnell einig, denn beide sind in diesen Bereichen von profunder Gelehrsamkeit und Belesenheit.

Unentwegt tauscht man Briefe, Essays, kleine Abhandlungen und E-Mails aus. Mitunter schreibt der eine in die Mail des anderen seine Antwort unmittelbar hinein. Man besucht sich gegenseitig und geht schließlich zum Du über. Schon längst prallen die Gegensätze nicht mehr so scharf wie noch zu Beginn aufeinander. Man zeigt mehr Verständnis füreinander. Spannend bleibt es trotzdem, zumindest für Leser, die über solide Kenntnisse im Hinblick auf kulturelle Dinge verfügen und Freude an Wortspielen und literarischen Querverweisen haben.

Am Ende stellt Hermann Kurzke fest: Jenseits der Frage nach Atheismus oder Christentum gibt es eine starke Gemeinschaft. "Beide versuchen wir, Humanisten und Demokraten zu sein. Dein Atheismus macht dich nicht zu einem asozialen Egoisten, mein Christentum mich nicht zu einem spanischen Folterknecht. Ist die Frage, Atheismus oder Christentum am Ende gar nicht so wichtig? Sitzen wir nicht in ein und demselben Boot?" Und Jacques Wirions antwortet mit einem Zitat von Elazar Benyoetz: "Die Wahrheit liegt in der Mitte zwischen zwei Menschen, die aufeinander zugehen."

Wie gesagt, ein schönes und gedankenreiches Buch mit klugen und köstlichen Formulierungen und so anregend, dass man es so schnell nicht wieder aus der Hand legt.


Titelbild

Hermann Kurzke / Jacques Wirion: Unglaubensgespräch. Vom Nutzen und Nachteil der Religion für das Leben.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
280 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3406534872

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