Das Unaussprechliche darstellen

Ein Sammelband zur Performanz des Heiligen

Von Ines HeiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Heiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lässt sich das Heilige darstellen? Wie präsentiert sich das Unaussprechliche und Unantastbare? Der Band "Performances of the Sacred in Late Medieval and Early Modern England" stellt die Beiträge einer Tagung des Sonderforschungsbereiches "Kulturen des Performativen" der Freien Universität Berlin zusammen. Trotz eines insgesamt eher literaturwissenschaftlichen Schwerpunkts wird unter dem Oberthema des "Geheiligten" auch ein interdisziplinärer Ausblick auf andere Wissenschaftsgebiete geleistet: So finden sich neben Studien zu 'Sir Gawain and the Green Knight', Shakespeare, Aemilia Lanyer und anderen auch Untersuchungen zur protestantischen Theologie, zum Diskurs über die für die europäische Zivilisation neue Kulturpflanze Tabak im 16. und 17. Jahrhundert sowie zu George Buchanans konzeptioneller Auseinandersetzung mit der Institution des Königtums.

Schon in der umfangreichen und informativen Einleitung kommt Tobias Döring dabei auf das hauptsächliche Problem zu sprechen, das mit dem Themenkomplex des "Heiligen" oder "Geheiligten" verbunden ist: der Frage nach einer zureichenden Definition. Diese gelingt dem Herausgeber hier auch auf dem Hintergrund aktueller Untersuchungen zu dieser Thematik nur ex negativo: "Heilig" - im Deutschen ergibt sich als zusätzliche Schwierigkeit, dass anders als im englischen Sprachgebrauch nur selten eine Unterscheidung zwischen "sacred" ("geheiligt") als einer von außen an einen Gegenstand herangetragene Qualifizierung und "holy" ("heilig") als einer diesem inhärenten Qualität getroffen wird - "heilig" wird nach Döring begreifbar in Absetzung zum Profanen oder zum Säkularen, als Kategorie also, die dementsprechend entweder alles dem Kult Zugehörige oder alles Überzeitliche, dem Weltlichen Übergeordnete, umfasst. Eine konkretere Definition unterbleibt, wobei Döring allerdings zu Recht ergänzend auf den ambivalenten Charakter dieser Kategorie hinweist, der das "Heilige" zumeist gleichfalls als das Besondere, Erschreckende und Fremde, Unerklärliche auszeichnet. Zusätzlich kompliziert wird der Gegenstand der vorliegenden Untersuchungen dadurch, dass nicht allgemein das "Heilige", sondern vielmehr die Frage nach der "Performanz des Heiligen" im Fokus steht; mithin also die Frage nach der Darstellung und Umsetzung dessen, was per se zu schützen und zu verbergen wäre, weil es nur wenigen Auserwählten bestimmt ist - auch dies eine Schwierigkeit, mit der sich Döring in seiner Einleitung differenziert auseinander setzt.

Für eine Diskussion der Fragen, die sich mit diesem Themenfeld des Heiligen und seines Vollzugs - seiner Darstellung - befassen, scheint die Wahl der im vorliegenden Band näher untersuchten Epoche des Übergangs vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit grundsätzlich eine glückliche Entscheidung zu sein: Gerade hier, im Kontext der Reformationen und der Entstehung eines neuen Welt- und Menschenbilds, muss die Auseinandersetzung mit dem Heiligen ein besonders dringendes kulturelles Anliegen gewesen sein. Die sehr unterschiedlichen Beiträge demonstrieren auf das Anschaulichste die stete Präsenz der Thematik: So setzt sich etwa Paul Strohm mit der Darstellung der Hostie und ihrer Bedeutung in verschiedenen Texten des 14. Jahrhunderts auseinander, wobei hauptsächlich die Frage im Vordergrund steht, welche Macht sie über Nichtchristen - Heiden, Juden oder sogar Tiere - ausüben kann.

Dass die Hostie in den Texten unter allen denkbaren Umständen immer ihre Wirkung entfaltet, erstaunt zunächst wenig, da die untersuchten Erzählungen bzw. Dramen meist hagiografische oder missionarische Absichten verfolgen. Bemerkenswert ist indessen, dass in allen Texten gleichfalls ein grundsätzliches - wenn auch indirektes und kaum reflektiertes - Verständnis dafür vorhanden zu sein scheint, dass heilige Objekte eigentlich nur innerhalb der Reichweite ihres eigenen Kults Wirkung besitzen können. Diese Erkenntnis steht in Konkurrenz zu der ebenfalls vorhandenen und vertretenen christlichen Überzeugung der unbedingten Wirksamkeit der Hostie. Anhand von Szenen, die inhaltlich bekannte Bekehrungs- und Wundermotive zitieren, wird also die tiefgehende, durch Kontakt und Vergleich mit anderen Kulturen immer wieder aufgeworfene Frage nach der "Reichweite" des Heiligen diskutiert.

Mit einem anderen Aspekt des Heiligen - der oben schon erwähnten Überzeitlichkeit bzw. Ewigkeit - befasst sich Thomas Healy in seiner Analyse von John Foxes "Book of Martyrs" und verschiedener Renaissancelyriker (Donne, Vaughan, Milton). Foxes Werk stellt den Versuch dar, säkulare Historie zu beschreiben und dabei gleichzeitig dahinter den teleologischen, auf die Wiederkunft Christi ausgerichteten göttlichen Weltlauf zu erkennen. In den untersuchten Gedichten scheint dagegen die Frage nach den Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten des Individuums auf: Der ganzen, deutbaren Welt bei Foxe steht zeitgleich mithin der Zweifel an der einen, überzeitlichen und göttlichen Wahrheit - oder zumindest an der Möglichkeit, diese zu begreifen - gegenüber. Damit zeigt sich, dass sich die Umbrüche vom Mittelalter zur Neuzeit auf das Konzept des "Heiligen" differenziert auswirken: Während zum einen das bislang gültige Deutungsmuster hinterfragt wird, wird es auf der anderen Seite in leicht modifizierter Form um so vehementer verteidigt. Healys Untersuchung zeigt diese Gleichzeitigkeit des Unzeitgleichen zwar auf - mit den Ursachen für diese Unterschiede befasst er sich indessen kaum; dies mag auch darauf zurückzuführen sein, dass die für den Vergleich ausgesuchten Texte zwar inhaltlich die gewünscht gegensätzlichen Positionen vertreten, die Zugehörigkeit zu den gegensätzlichen Genres der Geschichtsschreibung und Lyrik aber einen direkten Vergleich ausschließt.

Ausgesprochen informativ und anregend ist der Beitrag von Sabine Schülting zur englischen Diskussion um den Tabakgebrauch im 16. und 17. Jahrhundert. Wenn auch die Wahl des Untersuchungsgegenstands im vorliegenden Kontext zunächst etwas überrascht, so führt Schülting doch sehr überzeugend aus, dass die moralischen Schwierigkeiten, die die Übernahme dieser Kulturpflanze aus dem südamerikanischen Raum der Fraktion der Tabakgegner bereitete, wohl weniger auf die allgemeine Ablehnung von Genussmitteln zurückzuführen sei. Um die Tabakdiskussion differenziert wahrnehmen zu können, ist es vielmehr wichtig zu berücksichtigen, dass die Übernahme des Tabaks nicht allein die Übernahme einer weiteren beliebigen Nutzpflanze darstellte, sondern dass mit dem Tabak ein zentrales Element indigener Kultur - eine in vielen Ritualen unverzichtbare "heilige Pflanze" - nach Europa eingeführt wurde. Die Frage, die sich damit an die englische Tabakdebatte direkt anschließt und ihr in vielen Punkten wohl auch zugrundeliegt, ist daher wohl die nach der Endgültigkeit einer Zuschreibung von "Heiligkeit": Ist es möglich, in einem Kulturkreis allgemein als "heilig" geltende Objekte in einen anderen kulturellen Rahmen zu überführen und diese dort mit eigener, säkularer Bedeutung bzw. Funktion zu versehen, sie zu säkularisieren? Welche Auswirkungen hat in diesem Fall die Kenntnis dieses ehemals besonderen Status des Objekts auf die aufnehmende Kultur?

Wie die genannten befassen sich auch die übrigen Studien auf durchgehend informative und informierte Weise ihrerseits mit weiteren Aspekten des "Heiligen". Trotz der anregenden Beiträge macht der Band jedoch insgesamt einen recht zusammengewürfelten Eindruck: Den Untersuchungen fehlt eine einheitlichere Grundlage, wenigstens als gemeinsame Setzung, was unter dem Begriff des "Heiligen" zu fassen sei, der eingrenzende Aspekt der Performanz taucht nur in äußerst wenigen Beiträgen auf. Trotz all der Schwierigkeiten, die genaueren Definitionen oder Eingrenzungen auf dem Gebiet der "Heiligkeit" entgegenstehen: Mit einer engeren bzw. konkreteren Fragestellung hätte mehr sinnvolle Kooperation zwischen den Einzelstudien hergestellt werden können. Deutlich wird indessen, dass die Untersuchung des Konzepts des "Geheiligten" oder "Heiligen" viele Fragen aufwirft, die kulturwissenschaftlich von großer Relevanz sind - von einer weiteren Auseinandersetzung der Geisteswissenschaften mit diesem Themenkreis sind interessante Einsichten zu erwarten.


Titelbild

Susanne Rupp / Tobias Döring (Hg.): Performances of the Sacred in Late Medieval and Early Modern England.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2005.
206 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 9042018054

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch