Eine Idee des Ganzen

Roger Fornoff untersucht die "Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk" als eine "ästhetische Konzeption der Moderne"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In gewisser Weise versinnbildlicht die Idee des Gesamtkunstwerks eine Welterklärung im Geist des 19. Jahrhunderts. Vielleicht letztmals bevor die Objektivität des Spezifischen eine subjektivistisch geprägte Gesamtschau und -erklärung der Welt unmöglich machen würde, wagte man den Gedanken eines ganzheitlichen Weltverständnisses. Insofern drückt sich im Gesamtkunstwerk ein Moment des Widerstands aus. Dort widersteht man den Zumutungen einer profanen Eindeutigkeit, in welcher der blasse Experte einzig Kompetenz und Macht hat.

Kein Wunder also, dass es ausgerechnet Richard Wagner als Protagonist einer ebenso überschwänglichen wie elitär gestimmten Untergangsgesellschaft des 19. Jahrhunderts war, der den Begriff des Gesamtkunstwerks einführte. In keineswegs bescheidenem Verständnis seiner selbst und seiner Werke versprach er eine ästhetisch und gesellschaftlich geschlossene Konzeption. Auch wenn gerade Wagners Werke diesem Anspruch vielfach selbst kaum gerecht werden - es sei denn, man akzeptiert das Kriterium der vagen Monumentalität ebenso im Gedanken wie in der ästhetisch-formalen Praxis als ihr entscheidendes Kennzeichen, hat dennoch der Gedanke eines allumfassenden Gesamtkunstwerks als Ausdruck menschlicher Welterklärung und -gestaltung bis heute seinen Reiz. In gewissem Sinne macht sich der Künstler dergestalt ein letztes Mal zum Beherrscher der Welt - all den kleingeistigen Experten zum Trotz, die ihm einreden wollen, die Welt sei viel zu komplex und kompliziert für ein solches Unternehmen.

Roger Fornoff, angeregt durch die 1983 von Harald Szeemann verantwortete Ausstellung "Der Hang zum Gesamtkunstwerk", versucht im vorliegenden Buch, "den Begriff des Gesamtkunstwerks als eine zentrale Beschreibungs- und Ordnungskategorie moderner Kunstphänomene erstmals in umfassender Form zu entwickeln." Dabei möchte er zwei Voraussetzungen als erfüllt ansehen: Zum einen meint er mit Kunstphänomenen nur jene künstlerischen Unternehmungen, "in denen sich die Idee einer ästhetischen Synthese als manifeste - entweder gesellschaftlich oder religiös dimensionierte utopische Intention zu erkennen gibt." Zum anderen benennt er in Fortführung der Wagner'schen utopischen Kunstkonzeption vier "Strukturelemente", die erst ein Gesamtkunstwerk konstituieren: Zum Ersten soll das konkrete Kunstwerk "inter- oder multimediale, also unterschiedliche Künste oder ästhetisch-mediale Elemente" vereinen. Zum Zweiten soll dieses Kunstwerk Ausdruck einer "Theorie oder zumindest eine(r) bestimmten Vorstellung von der idealen Vereinigung der Künste" sein. Zum Dritten fordert Fornoff "eine geschlossene und festgefügte Weltanschauung bzw. ein in unterschiedlicher Weise, etwa gesellschaftstheoretisch, geschichtsphilosophisch oder metaphysisch-religiös akzentuiertes Bild vom Ganzen". Schließlich wird als letztes Element benannt "eine in unterschiedlichem Maße konkretisierte, ästhetisch-soziale oder ästhetisch-religiöse Utopie."

Es ist einleuchtend, dass diesen Kriterien nicht viele Kunstprojekte als "Gesamtkunstwerkentwürfe" genügen können. Am ehesten noch die, welche aus den zwei klassischen "gesamtkünstlerischen Traditionslinien" stammen: Architektur und Theater.

Ausführlich und kenntnisreich rekonstruiert der Autor derart ausgewählte Kunstprojekte, die als Kapitelüberschriften seine Studie strukturieren: "Philipp Otto Runge und die Wiederherstellung des Paradieses"; "Karl Friedrich Schinkel und die Idee des Preußischen Freiheitsdomes"; "Richard Wagner und die Erneuerung der Griechischen Tragödie"; "Wassiliy Kandinsky und das Konzept der Bühnenkomposition"; "Bruno Taut, Walter Gropius und die Utopie der Zukunftskathedrale" sowie "Hermann Nitsch und das Projekt des Orgien-Mysterien-Theaters".

Wissend um die Problematik einer nachträglich den Kunstprojekten überstülpten Gesamtkunstwerksinterpretation folgt der Rekonstruktion eine differenzierte Betrachtung der Chancen und Grenzen eines Gesamtkunstwerks. Ins Zentrum rückt dabei die utopische Perspektive desselben. Gerade angesichts dieser Perspektive ist aber auf das Scheitern bzw. die Funktionalisierung des Gesamtkunstwerksidee zu verweisen. Denn zu Recht hat bereits Bazon Brock vor Euphorie gewarnt und auf einen latenten totalitären Charakter der Konzeption Gesamtkunstwerk hingewiesen, der vor allem dann akut wird, wenn "die Spekulation über das Ganze" in die Lebensrealität der Menschen eindringt, "indem diese Lebensrealität vollständig nach dem Bild des Ganzen geformt wird." Gemeint ist natürlich die vom Nationalsozialismus in Deutschland aber auch vom Sozialismus in der Sowjetunion vorgenommene Ästhetisierung des Politischen. Ein Blick auf die menschenverachtenden architektonischen Planungen der Nazis macht zum einen den totalen Herrschaftsanspruch deutlich, verweist darüber hinaus aber auf ein weiteres Moment der "repressiven Harmonie", welches im gestaltenden Individuum zum Ausdruck kommt. Es ist "die Selbstüberschätzung des modernen (Gesamt)Künstlers als eines dem Normalmenschen gegenüber herausgehobenen und gleichsam absoluten Subjekts". Die eine wie die andere Problematik unterläuft jegliche utopische Perspektive des Gesamtkunstwerks. Was bleibt? Der Autor führt die Leser in die Autostadt von VW in Wolfsburg und konstatiert: "In Zukunft wird mit einem anderen Gesamtkunstwerk zu rechnen sein [...] mit dem der kapitalistischen Ökonomie, einem Gesamtkunstwerk, das zwar mit den Differenzierungsphänomenen und Pluralitätsanforderungen der postmodernen Welt kompatibel ist, seinen suggestiven und manipulativen Charakter aber keineswegs verloren hat."

Mit Fornoffs Studie aber lassen sich die Gesamtkunstwerksphänomene erkennen - und als vieldmensionierte ästhetische Erfahrung zuweilen auch genießen.


Titelbild

Roger Fornoff: Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2004.
658 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-10: 3487127679

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch