Esoterik von Platon bis Star Wars

Kocku von Stuckrads Geschichte der Esoterik

Von Melanie ÖhlenbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Öhlenbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Esoterik werden heutzutage im Allgemeinen Räucherstäbchen, Naturreligion, Zauberei, bewusstseins- und persönlichkeitserweiternde Übungen und eine anti-christliche Einstellung verbunden. Das dogmatische Christentum mit Elementen aus anderen Religionen, wie dem Buddhismus oder vorchristlichen Traditionen, mit dem Druiden- oder Hexentum zu ergänzen, seinen Rahmen zu durchbrechen oder ganz zu verlassen, scheinen sich die Patchwork-Religiösen - so die Auffassung ihrer Kritiker und Spötter - seit den späten 1960er Jahren auf die Fahnen geschrieben zu haben.

Wer mit solchen Vorstellungen zu Kocku von Stuckrads Buch greift, wird nicht nur bitter enttäuscht, sondern auf kompetente Weise eines Besseren belehrt. Denn weder populistischer Verklärung noch vernichtender Kritik eines boomenden Zweigs des Buchmarkts dient das Werk des Religionswissenschaftlers, der zur Zeit an der Universität von Amsterdam lehrt, sondern vielmehr der Aufklärung über religiöse Traditionen, die das Denken und die Wissenschaften des 'christlichen' Europas seit Jahrhunderten mitbestimmt und mitinstruiert haben. Da insbesondere die Epoche der Frühen Neuzeit einen Höhepunkt an Herausbildung und Einfluss esoterischer Lehren bildet, liegt ein besonderes Verdienst von Stuckrads Buch in der Erläuterung okkulter Strömungen dieser Epoche, zumal hierzu bislang kaum Überblicksdarstellungen vorliegen.

Tatsächlich besitzt der Terminus 'Esoterik' wie auch die Bezeichnung 'Mystik' eine relativ kurze Geschichte, was allerdings nicht bedeutet, dass sich die mit ihnen verbundenen Inhalte erst zum Zeitpunkt ihrer Begriffsentstehung im 19. Jahrhundert konstituiert haben. Die Geschichte der als 'esoterisch' bezeichneten Lehren reicht viel weiter zurück und überschreitet oft isoliert betrachtete Kulturräume und deren religiöse Überlieferungen. Eine Ideengeschichte zu schreiben, die alle Traditionen umfassend darstellt und würdigt, scheint demnach ein nahezu unmögliches Unterfangen zu sein, weshalb Kocku von Stuckrad seinem Buch berechtigterweise den Untertitel "Kleine Geschichte des geheimen Wissens" beigefügt hat.

Dass darüber hinaus esoterische Traditionen in der kultur- und religionswissenschaftlichen Forschung noch vor wenigen Jahrzehnten weitgehend unberücksichtigt blieben, zeigt sich vor allem an der kleinen Zahl von wissenschaftlichen Institutionen, die sich ausschließlich mit der Thematik auseinander setzen (wie etwa der Lehrstuhl für "Geschichte der esoterischen und mystischen Strömungen im neuzeitlichen und zeitgenössischen Europa" an der Pariser Sorbonne bzw. zur "Geschichte der hermetischen Philosophie und verwandter Strömungen" an der Universität von Amsterdam, dem der Autor selbst angehört, sowie das "Exeter Centre for the Study of Esotericism" (EXESESO). Daher ist es nicht verwunderlich, dass die theoretische Einleitung, in der wissenschaftliche Erklärungsmodelle sowie die Forschungsgeschichte vorgestellt und diskutiert werden, vergleichsweise knapp ausfallen muss, dafür aber äußerst verständlich ist. Gewürdigt werden hierbei u. a. die Arbeiten von Frances A. Yates ("Giordano Bruno and the Hermetic Tradition", 1964), die zum wissenschaftlichen Interesse an Esoterik wesentlich beigetragen haben, das "Denkform"-Modell Antoine Faivres sowie die Theorie der Europäischen Religionsgeschichte, die von einem religiösen Pluralismus ausgeht, bei dem Esoterik und institutionalisierte Religionen gleichermaßen den religiösen 'Markt' bedienen (Gladigow, Hanegraaff, von Stuckrad u. a.), sodass die Behauptung, die 'Patchwork-Religion' sei erst ein Phänomen des säkularisierten Zeitalters, hinfällig wird.

Der Hauptteil des Buchs ist der Erläuterung verschiedener Traditionen und ihrer Einflüsse bzw. Veränderungen (z. B. innerhalb der christlichen Überlieferung) gewidmet. Kocku von Stuckrad hat sich dabei für eine Mischung aus chronologischer und thematischer Einteilung entschieden, um die einzelnen Traditionsstränge zu entwirren; der Gleichzeitigkeit der verschiedenen Sinnangebote auf dem religiösen 'Markt' wird dabei allerdings leider nicht unbedingt Rechnung getragen. Ein Vorwurf ist dem Autor deshalb jedoch nicht zu machen, denn trotzdem - oder gerade deshalb - bieten die einzelnen Kapitel in sich geschlossen eine verständliche Darstellung der einzelnen Themen. Die übersichtlichen Kapitel- und Unterkapitelüberschriften sowie das Personenregister ermöglichen einen guten Zugang zu den einzelnen Komplexen. Ein zusätzliches Sach- oder Werkregister der einzelnen Autoren wäre darüber hinaus wünschenswert gewesen. Dass die Schilderungen der einzelnen Traditionsstränge und der ihnen widerfahrenen Veränderungen zuweilen wenig detailliert erscheinen, ist wiederum der Themenfülle zuzuschreiben.

Von Stuckrads Darstellung beginnt mit der Entstehung der Lehren der Hermetik und der Gnosis in der Antike und verfolgt die Entwicklung dieser 'antiken Esoterik' bis zum Mittelalter, um sich anschließend den Ursprüngen der jüdischen Kabbalah zu widmen. Beide Strömungen haben entscheidend zu den Entwicklungen und Neuerungen in der Frühen Neuzeit beigetragen, die nicht allein religiöser Natur sind. In seinem Teilkapitel 'Komplexe Identitäten' schildert von Stuckrad am Beispiel berühmter Naturwissenschaftler wie John Dee, Galileo Galilei, Isaak Newton oder auch Johannes Kepler, dass esoterische Praktiken einen wesentlichen Bestandteil ihres Lebens und ihrer Werke ausmachen; die Liste berühmter Wissenschaftler ließe sich zweifellos mit weiteren Namen ergänzen. Ebenso beschreibt der Autor beispielhaft das Leben und Forschen am Sulzbacher Hof als Vorform eines 'esoterischen Instituts', das sich auf Geheiß des Pfalzgrafen Christian August der Erforschung und Übersetzung zahlreicher Texte der 'theologia prisca' verschrieben hatte. Dabei stellten diese Arbeiten keineswegs eine radikale Abkehr von der christlichen Tradition dar, sondern sie suchten diese meist zu ergänzen oder - wie beispielsweise im Falle der christlichen Kabbalah Reuchlins - noch stärker zu legitimieren.

Die Darstellung der Esoterik in der Frühen Neuzeit bis etwa zum 18. Jahrhundert ist von Stuckrad - vor allem im Hinblick auf die Kabbalah - zweifelsfrei am besten gelungen. (Auch wenn man sich bei Personen, die eine besondere kulturwissenschaftliche Bedeutung haben, wie etwa Jakob Böhme, einen detaillierteren Einblick in ihre Lehre gewünscht hätte.) Die Ausführungen über die nachfolgenden Jahrhunderte wirken, vor allem im Vergleich zu den vorangegangenen Kapiteln, noch komprimierter und reichen nicht hin, die Komplexität der Zeit ebenso gut darzustellen. Dies mag zum einen mit der (angeblichen) Säkularisierung oder der (vermeintlichen) Trennung von Wissenschaft und Religion zusammenhängen, zum anderen aber auch mit der Tatsache, dass auf Grund des wissenschaftlichen Fortschritts die Traditionskette der zuvor eingehend geschilderten esoterischen Strömungen nicht mehr ganz so eindeutig nachzuweisen ist. Von Stuckrad konzentriert sich in den abschließenden Kapiteln vorrangig auf die 'institutionalisierte Esoterik', also auf die Beschreibung von Geheimgesellschaften und auf die Entstehung der modernen Theosophie, bevor er sich zu guter Letzt Themenbereichen zuwendet, in denen sich esoterische Ideen und Einflüsse nachweisen lassen, wie etwa der Tiefenökologie, der Psychologie oder dem Film. In diesem Zusammenhang wäre im Hinblick auf die aktuellsten Einflüsse esoterischer Lehren ein kurzes Statement über die Popularisierung kabbalistischer Themen durch diverse Vertreter der modernen Unterhaltungsindustrie sicherlich interessant gewesen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit Kocku von Stuckrads Buch zwar 'nur' eine 'Kleine Geschichte des geheimen Wissens' vorliegt, diese aber als eine überaus gelungene religionswissenschaftliche Einführung in einen sehr komplexen Bereich der Europäischen Religionsgeschichte betrachtet werden muss, dessen Bedeutung für Wissenschaft, Kunst und Kultur nicht nur für die Frühe Neuzeit, sondern auch für die Gegenwart nicht unterschätzt werden darf.


Titelbild

Kocku von Stuckrad: Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens.
Verlag C.H.Beck, München 2004.
280 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3406521738

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