Virtuelle Heimat

Elisabeth Bronfen entlarvt das Kino als trügerische Heimstatt unserer imaginären Identität

Von Martin StingelinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Stingelin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Elsässer Mediziner Johannes Hofer beobachtete schon in seiner 1688 in Basel vorgelegten Dissertation "De nostalgia" - vornehmlich an Schweizer Soldaten in fremden Diensten -, dass das Heimweh ein Kennzeichen der verletzten Vorstellungskraft ist: Unter dem Eindruck von Sehnsucht erzeugenden Bildern konnten die Kranken gegen äußere Eindrücke so vollkommen abstumpfen, dass die Schlaflosigkeit, die Abmagerung und das Fieber schließlich zum Tod führten. "Nostalgia", "Nostomania", "Philopatridomania" oder "Pathopatridalgia" nannte Hofer die Selbstverzehrung des "Heimwehs", so der eigentliche Name, "den die Schweizer in ihrer Muttersprache der Krankheit schon seit langem beigelegt haben" (Hofer, zitiert nach Karl-Heinz Gerschmann, "Johannes Hofers Dissertation 'De nostaligia' von 1688", in: Archiv für Begriffsgeschichte XIX [1975], S. 83-88). Doch dieser Selbstzerstörungstrieb konnte noch fatalere Folgen haben, wenn die Heimwehkranken im Delirium ihrer Bilder und Stimmen von der Heimat über sich selbst hinausgetragen wurden.

Karl Jaspers untersuchte in seiner psychiatrischen Dissertation über "Heimweh und Verbrechen", mit der er 1909 in Heidelberg promovierte, die Fälle von zwanzig jungen Dienstmädchen, die aus Heimweh ein Verbrechen begingen und in der Wahnvorstellung, danach endlich nach Hause entlassen zu werden, die ihnen anvertrauten Kinder umbrachten oder das Wohnhaus ihrer Dienstherrschaft in Brand steckten (der Umschlag der Neuauflage von "Heimweh und Verbrechen", die 1996 im Münchner Verlag belleville von Michael Farin erschienen ist, lodert buchstäblich in den Händen der Leserin und des Lesers). In allen Fällen konnte Jaspers eine kindliche Art des Seelenlebens, eine körperliche Disposition zur Schwäche und eine geringe sittliche Entwicklung feststellen, die schließlich zum Ausbruch der Gewalt führten.

Die Zürcher Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen ist in ihrem Vorwort zur Neuauflage von Jaspers Dissertation weiter gegangen. In einer an Freuds Psychoanalyse des Unheimlichen geschulten Lektüre kommt sie zum Schluss, dass bei den jungen Dienstmädchen in der Fremde möglicherweise ein Trauma (Betrug, Gewalt, Missbrauch) aktualisiert wurde, das durch eine übersteigerte Idealisierung der familiären Verhältnisse zu Hause verdrängt worden war. Die Aktualität von Jaspers' Schrift sieht sie in der Erkenntnis, "daß einer zur Plombe erstarrten Vorstellung von Heimat der Ausbruch von Gewalt immer eingeschrieben ist".

Diese Erkenntnis hat Elisabeth Bronfen in ihrem jüngsten Buch über "Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood" zur Kernthese verdichtet, dass sich Identität nur als unablässig vom Scheitern bedrohter Abwehrprozess gegen das traumatische Moment bilden kann, das ihr konstitutiv zugrunde liegt; der auf die Dauer aussichtlose, aber existentiell notwendige Kampf um Selbstbehauptung tobt hier - im Gegensatz zu vielen Spielarten der Ichpsychologie - also schon innerhalb des Ichs, dessen Identität gerade in seiner uneingestandenen und nur für krisenhafte Augenblicke eingestehbaren Zerbrechlichkeit besteht, eine methodische Voraussetzung, die Elisabeth Bronfen mit Jacques Lacan, Slavoj Zizek und Mladen Dolar teilt und begrifflich in die doppeldeutige Formel der "Schutzdichtung" fasst: "Schutzdichtungen im doppelten Sinn des Wortes" sind "verdichtete Bilder, die die Tagträumerin" - in diesem Fall die Erzählerin Celia Barrett in Fritz Langs "Secret Beyond the Door" (1948) - "vor einem traumatischen Wissen schützen, indem sie ihr erlauben, dieses bedrohliche Wissen auf verschlüsselte und somit erträgliche Weise zum Ausdruck zu bringen, aber auch Bilder, die wie Zwischenstücke an Verbindungsstellen innerhalb des psychischen Apparates zum Schutz des Subjekts eingesetzt werden, um dieses gefährliche traumatische Wissen fernzuhalten" (S. 433-434). "Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood" ist eine eindringliche Veranschaulichung dieser These im Medium der psychoanalytisch und kulturwissenschaftlich zugespitzten Nacherzählung von zwölf Filmen.

Den Auftakt bildet "Seven" von David Fincher, in dem Elisabeth Bronfen den Widerstreit zwischen dem in der Postmoderne gänzlich unübersichtlich gewordenen Reich der Zeichen und seiner semiotischen Ordnung durch eine allegorisch überhöhte Lektüre erkennt, um die der Detektiv William Somerset und der Serienmörder John Doe miteinander ringen. Somerset und Doe verkörpern darin beide den Versuch des Filmbesuchers, mit Hilfe des Orientierung stiftenden Geschichten- und Bildrepertoires des Kinos vorübergehend in der Unbehaustheit einer ebenso komplexen wie kontingenten Welt heimisch zu werden: "Der Pakt, auf den wir uns einlassen, wenn wir uns über die Schwelle in diese virtuelle Heimat begeben, bleibt nicht mehr, aber auch nicht weniger als das Versprechen eines provisorischen Glücks" (S. 38). Dieses provisorische Glück spielt Elisabeth Bronfen in den acht folgenden Hauptkapiteln durch: Georg Wilhelm Pabsts psychoanalytischer Film "Geheimnisse einer Seele" - ein Vorabdruck dieses Kapitels findet sich im Sammelband "Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz", hrsg. v. Thomas Anz in Zusammenarbeit mit Christine Kanz, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 61-82 - inszeniert dabei das Unheimliche, das der psychoanalytischen Kur selbst innewohnt, in der ironisch gebrochenen Idylle, in der sich der Analysand am Schluss endlich wieder als Herr im eigenen Haus fühlen darf. Mit unablässiger Aufmerksamkeit analysiert Elisabeth Bronfen die Brüchigkeit dieser illusionären Selbsttäuschung - sei es der Protagonisten, sei es der Filmzuschauer - am Beispiel von Josef von Sternbergs "Der blaue Engel", Alfred Hitchcocks "Rebecca", Victor Flemings "The Wizard of Oz", Detlev Siercks/Douglas Sirks "La Habanera" und "Imitation of Life", John Fords "The Searchers" und John Sayles' "Lone Star", Fritz Langs "Secret Beyond the Door", Tim Burtons "Batman Returns" und - als Epilog - Larry und Andy Wachowskis "Matrix", bis alleine schon die Emphase einer Formel wie "There's no place like home" aus Flemings "The Wizard of Oz" ausreicht, unser sehnsuchtsvolles Vertrauen in dieses Versprechen, gegen dessen Gewalt wir uns sogleich wappnen, gänzlich zu erschüttern. So liest man "Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood" nicht, ohne selbst traumatisiert zu werden.

Die Kehrseite dieses entschiedenen Zugriffs, der aus allen behandelten Filmen den Kern unauflösbar ineinander verschränkter Selbstverkennung im Imaginären, Selbstentfremdung im Symbolischen und Selbstentäußerung im Realen herausgreift, ist die ästhetische Wertungsfrage, auf die uns die Autorin die Antwort jeweils schuldig bleibt: Alle Filme, die sich ihrer Fragestellung zugänglich zeigen, scheinen ihr gleich wertvoll zu sein, und man wüßte in den von Elisabeth Bronfen herausgearbeiteten Kategorien nicht zu sagen, warum "The Searchers" von John Ford nicht als Musical, "The Wizard of Oz" von Victor Fleming nicht als Kriminalfilm oder "Rebecca" von Alfred Hitchcock nicht als Western vorstellbar sein sollte. Da die Autorin aus allen behandelten Filmen den melodramatischen Grundzug der "Nostalgia" herausstreicht, drohen sie verwechsel- und austauschbar zu werden. In dieser Unterscheidungslosigkeit gibt sich die Gefahr zu erkennen, theoretisch vorgefasste Thesen methodisch an Gegenständen abzuhandeln, die dadurch ihre Singularität und ihr Gesicht einbüßen. Das Rettende ist zweifellos das erzählerische Talent, mit dem die Autorin ihre Leserinnen und Leser in den Fluß der Bilder taucht. Tatsächlich ist "Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood" dort, wo es seine Kernthese in der virtuosen Nacherzählung von Filmen umspielt, weniger ein analytisches als ein illuminiertes Buch, das immer wieder erhellende Sprachbilder findet, durch die gerade die eindrücklichsten Filmbilder erst sprechend werden. Die Verführungskraft dieses Buches entspringt dem Ornamentalen und Beiläufigen, das die gleichschwebende Aufmerksamkeit einer Lektüre, die sich nicht nur bei der Kernthese vom morschen Kern aufhält, durch viele bereichernde Detailbeobachtungen belohnt. Wer eine stumme Filmleidenschaft pflegt, mag den Kinobesuch der Lektüre dieses Buches vorziehen; wer das Kino aber als Medium anschaulicher Reflexion liebt, wird hier handhabbare Konzepte finden, die es erlauben, Gedankengänge, die die Filmbilder begleiten, in Worte zu fassen und dadurch gleichzeitig den Blick zu schärfen.

Leider helfen dabei die Illustrationen wenig: Die viel zu klein geratenen Abbildungen sind so stumpf, dass darauf gelegentlich - wie auf S. 433 - gar nichts mehr zu erkennen ist außer ein schwarzer, rechts oben etwas aufgehellter Fleck.

Dass Elisabeth Bronfen ihren Blick nicht nur an kanonischen Werken der Hollywood-Filmgeschichte erprobt, sondern immer wieder von neuem aufs Spiel setzt - wer weiß, wie berührungsscheu sich etwa die deutschsprachige Literaturwissenschaft im Umgang mit Gegenwartsliteratur zeigt, für die ihr keine erprobten Hilfsmittel zur Verfügung stehen, kann das Risiko dabei ermessen -, dokumentieren nicht nur das Einleitungskapitel über "Seven" von David Fincher und der Epilog über "Matrix" von den Gebrüdern Wachowski (zur Kanonisierung dieser beiden Filme wird Elisabeth Bronfens Buch nicht unwesentlich beigetragen haben). Was nur Leserinnen und Leser der "Basler Zeitung" (Hochbergerstraße 15, CH-4002 Basel, Schweiz) wissen können: Elisabeth Bronfen veröffentlicht dort seit dem Herbst 1998 regelmäßig ausführliche Filmessays zu aktuellen Erstaufführungen. Die Reihe der besprochenen Titel mag für sich selbst sprechen und die Konturen zukünftiger Projekte deutlicher sichtbar werden lassen: "Saving Private Ryan" von Steven Spielberg (Nr. 236, 10./11. Oktober 1998, S. 45 und 47), "Truman Show" von Peter Weir (Nr. 266, 14./15. November 1998, S. 49 und 53), "Hilary and Jackie" von Anand Tucker (Nr. 98, 28. April 1999, S. 45 und 47), "Beloved" von Jonathan Demme (Nr. 144, 24. Juni 1999, S. 45-46), "Star Wars: Episode 1 - The Phantom Menace" von George Lucas (Nr. 196, 24. August 1999, S. 37-38), "Eyes Wide Shut" von Stanley Kubrick (Nr. 207, 6. September 1999, S. 35), "Fight Club" von David Fincher (275, 24. November 1999, S. 41 und 43), Heldinnen im Hollywood der 90er Jahre (Nr. 304, 29. Dezember 1999, S. 41-42), "Ghost Dog" von Jim Jarmusch (Nr. 3, 5. Januar 2000, S. 33), "The Negotiator" von F. Gary Grays, "Falling Down" von Joël Schumacher und "American Beauty" von Sam Mendes (Nr. 15, 19. Januar 2000, S. 41 und 43).

(Vom Autor der Rezension ist eben erschienen: "Reflexion der Schaulust und Schaulust der Reflexion. Zum historischen Spannungsverhältnis zwischen Psychoanalyse und Film am Beispiel von 'Peeping Tom'", in: CINEMA. Unabhängige Schweizer Filmzeitschrift 45. Jg., 2000, Zürich: Chronos Verlag 2000, S. 94-109.)

Elisabeth Bronfen: Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood.

Verlag Volk & Welt, Berlin 1999.

559 Seiten, 56 DM.

ISBN 3-353-01104-8

(c) bei literaturkritik.de

all rights reserved.

Leserbriefe sind uns herzlich willkommen!

Titelbild

Elisabeth Bronfen: Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood.
Verlag Volk & Welt, Berlin 1999.
528 Seiten, 28,60 EUR.
ISBN-10: 3353011048

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch