"Hass"-Tiraden
André Glucksmann agitiert gegen das "Alte Europa"
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass sich André Glucksmann in der Rolle der Querdenkers und Spielverderbers gefällt, ist spätestens seit den Siebzigern bekannt, als aus ihm jener "Feind der totalitären Systeme" wurde, mit dem sich auf Buchtiteln so vortrefflich werben lässt. Allerdings war eine derart heftig polemisierende und beliebig argumentierende Schrift, wie sie Glucksmann mit "Hass" nun vorgelegt hat, nicht unbedingt zu erwarten. Warum es Glucksmanns Skript trotzdem nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland in die breite Öffentlichkeit geschafft hat und dort sogar eine positive Wahrnehmung erfährt, ist wohl eines der Rätsel, die das Feuilleton für den Zeitgenossen bereithält. Wer nur laut genug brüllt, kann sich sicher sein, dass ihm alle begeistert zuhören? Aber der Reihe nach.
Zuerst, wie es sich gehört, das Positive. Keine Frage, die Lösung der Irak-Krise ist ein Teil der zentralen Aufgaben internationaler Politik, wie auch die Demokratisierung Afghanistans oder die friedliche Koexistenz der neuen Staaten im Südosten Europas zu den großen Aufgaben der internationalen Politik gehören. Die Nahost-Krise generell, zu der eben auch der Ausgleich zwischen Israel und den benachbarten arabischen Staaten zählt, wird ebenfalls noch Jahrzehnte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das internationale Engagement in diesen Fragen einerseits, die Nachlässigkeit oder Ignoranz der westlichen Staaten in der Tschetschenien-Frage, das Wegsehen beim Völkermord in Ruanda oder Somalia (das Glucksmann nicht erwähnt) andererseits fordern allerdings eine breite Kritik gerade der internationalen politischen Öffentlichkeit heraus, sei es in Europa, den USA oder anderswo. Dass dies freilich Fragen sind, die moralisch einfach, politisch jedoch äußerst schwierig zu lösen sind, kann dem Neuen Philosophen und Meisterdenker einigermaßen gleichgültig sein. Er hat jedes Recht, diese Themen der Öffentlichkeit vorzuhalten.
Glucksmann formuliert sogar einen bedenkenswerten Lösungsansatz. Seine "klaren, einfachen und nicht zu umgehenden Forderungen" aber, mit denen er sich an die Konfliktregelung machen will, sind kaum als beiläufiges Pflichtprogramm absolvierbar, sondern gehören zur großen Kür internationaler Diplomatie. In der Tat wäre es etwa im Nahen Osten ein entscheidender Durchbruch, wenn die Beteiligten das Existenzrecht ihrer Völker gegenseitig bestätigten, jeglichen Terror durch jeden der Beteiligten ablehnten, die bestehenden Grenzen anerkennen würden, die Flüchtlingsproblematik ausklammerten und die Trennung zwischen Staat und Religion einführten. Ja, wären wir erst einmal soweit, und das eben nicht nur in Nahost, dann wäre schon eine Menge gewonnen. Sind wir aber nicht. Und eine Hass-Polemik, wie sie Glucksmann entfaltet, wird kaum dazu beitragen, wenigstens dieses Ziel zu erreichen.
Schauen wir uns also den Hass selbst an und damit zugleich seine drei Hauptfelder, mit denen sich Glucksmann ausführlich beschäftigt: Antisemitismus, Antiamerikanismus und Misogynie sind die Glucksmann-Arenen, in denen sich der Hass derer austobt, die mit sich selbst nicht zurande kommen. Denn, so Glucksmann, sich auf Sartre stützend, der Hass hat nichts mit seinem Opfer zu tun, sondern mit dem Hassenden. Weil der seinem eigenen Ideal nicht entsprechen könne, küre er sich ein Opfer, auf das er all seine gewalttätige Energie fokussieren könne. Der Jude erinnere den Antisemiten an seine eigene Sterblichkeit und Unvollkommenheit, also hasse er ihn, die Frau, die sich entblößt, erinnere den Sexisten an seine eigene Schwäche, also vernichte er sie, der Amerikaner, der nicht dabei zusieht, wie sich andere Völker gegenseitig ausrotten, erinnere den Antiamerikanisten daran, dass er zu träge sei, sich selbst um diese Probleme zu kümmern. Hass ist also eine einfache Lösung, oder sagen wir besser, die Imitation einer Lösung. Denn wo schon keine wirkliche Lösung in Sicht ist, die solch gestörten Charakteren entgegen kommen könnte, ist doch wenigstens eine ungestörte Hasstirade möglich.
Nun ließe sich ja annehmen, dass man auf Basis dieser Einsicht eine vehemente politische Rhetorik, ja Polemik entfalten könne, die auf einer belastbaren argumentativen Basis ruht. Das Lösungsschema hat Glucksmann vorgestellt, eine Art Psychologie des Hasses hat er gefunden, die blinden Flecke der internationalen Diplomatie hat er gleichfalls benannt. Aber gerade die Konsequenzen daraus lässt er vermissen. Mehr noch, er gefährdet sogar die politischen Ansätze, die er selbst vorträgt.
Die Sollbruchstelle seiner Argumentation liegt in seiner anthropologischen Herleitung des Hasses. Sie nämlich ignoriert geflissentlich alles, was es an Erkenntnis über Konflikte dieser Qualität gibt: Gewalt und Hass sind unterschiedliche Handlungs- und Haltungsformen. Man darf sich durchaus darüber streiten, ob Hass und Antiamerikanismus, Misogynie und Antisemitismus derart eng verschaltet sind, wie Glucksmann dies behauptet. Gesellschaftliche Handlungsschemata, wie sie in allen drei Handlungsmustern und Denkformen vorliegen, brauchen den Hass nicht notwendig. Sie sind in der Regel schon mit weitaus weniger zu betreiben. Die Qualifizierung des Hasses als elementare Gewalt schließlich soll ihn jedoch aus allen sozialen Begründungszusammenhängen herausheben (auch eigentlich aus denen, die Glucksmann selbst ja noch anerkennt): Hass ist sich selbst genug, Hass generiert sich selbst, Hass richtet sich die Welt so zu, wie es ihm passt, und er sieht die Welt mit seinen Augen. Selbst dem ist ja noch nicht zu widersprechen.
Demgegenüber ist jedoch zu betonen, dass Hass nicht ohne Ursachen ist, Hass agiert nicht in einem sinnfreien und a-sozialen Raum. Er hat Funktion und seinen sozialen Ort. Und es hilft wenig, eine ursachenlose Internationale des Hasses herbeizureden und jeden Versuch, an die Ursachen und Entstehungsbedingungen der Konflikte heranzukommen, als Bequemlichkeit und Feigheit zu diskreditieren.
Hass ist ohne Zweifel eine elementare Gewalt, soll heißen, Hass gehört zum Ausdrucks- und Haltungsvokabular von Menschen. Aber auch diese Gewalt ist ein Produkt der Gesellschaft, in der sie entsteht. Gerade dafür die Augen zu öffnen, heißt eben nicht, den Einzelnen aus seiner Verantwortung für seine Handlungen zu nehmen. Das gesamte innerstaatliche wie internationale Rechtssystem beruht ja letztlich auf der personalen Verantwortung des Einzelnen und auf dem Recht der Sanktion, sei es durch staatliche oder durch internationale Institutionen. Das Sanktionsrecht aber verhindert keine Gewalt, es bestraft sie nur. Als Prävention ist es, sagen wir, mindestens umstritten. Und spätestens an diesem Punkt haben Ursachenforschung und Prävention ihre essentielle Bedeutung. Eine Gesellschaft, staatlich oder international, die sich um ihre eigene Verfasstheit nicht schert, darf sich nicht wundern, wenn sie Konflikte nicht nur nicht verhindert, sondern auch erzeugt. Eine Gesellschaft, die sich nicht darüber im Klaren ist, dass sie sich rasant verändert - und das geschieht im Zeitalter der Globalisierung mit dem Gesamtsystem der internationalen Beziehungen wie mit den einzelnen Staaten - und dass sie sich darauf vorbereiten muss, wird die Konsequenzen dieser Entwicklungen weder vorhersehen, noch sie verhindern können. Das legitimiert weder ein Denken à la "Festung Europa" noch eine simple Law-and-Order-Strategie. Beide Konzepte sind nicht nur beschränkt in ihrer Wirkung, sondern eben auch defensiv. Sie verwalten eine Entwicklung lediglich, sie steuern sie nicht. Kommt eine radikale und lineare Machtpolitik hinzu, steigt die Gefahr, dass Konfliktpotenziale entfesselt werden, die unbeherrschbar werden. Genau davor haben die Staaten des "Alten Europas" gewarnt, als sie sich gegen die Intervention im Irak ausgesprochen haben.
Dass bislang zumindest der befürchtete Flächenbrand in der arabischen Welt nicht entstanden ist, diskreditiert diese Position nicht im geringsten. Zumal es noch völlig ungewiss ist, ob es gelingen wird, einen nachhaltigen Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozess in der arabischen Welt in Gang zu setzen. Schließlich widerspricht das Interesse für die Ursachen von Konflikten und für die Bedingungen von Hass keineswegs einer entschlossenen und starken, ja auch konfliktbereiten Haltung in den innerstaatlichen wie internationalen Beziehungen. Der Widerspruch, den Glucksmann in "Hass" behauptet, ist eigentlich nur ein rhetorisches Konstrukt, das freilich eine verhängnisvolle (man ist versucht zu sagen: antiaufklärerische) Wirkung entfalten kann.
Indem Glucksmann jede Form der intellektuellen Auseinandersetzung mit den Ursachen des Hasses und jeden Versuch, die Bedingungen für die Entstehung von Gewalt zu beseitigen, als Augenwischerei, Trägheit und Ausrede abtut, nimmt er sich die Möglichkeit, auf Hass und Gewalt, die er stets im Verein sieht, im Vorfeld und vor allem politisch zu reagieren. Mehr noch, indem er ausdrücklich einen auf Verständigung setzenden Ansatz wie den Jürgen Habermas' als Schwäche und Feigheit diskreditiert, torpediert er politische Lösungen generell. Wenn Hass keine Ursachen hat, sondern eine anthropologische Basisfigur ist, dann ist jeder politische, das heißt auf Interessensausgleich und Kommunikation basierender Versuch der Konfliktregelung illusorisch. Dann hilft nur die (militärische) Intervention, wenn Hass das Feld regiert.
Wenn zudem eine grenzüberschreitende Intervention bei innerstaatlichen Gewaltexzessen nicht nur möglich, sondern generell geboten ist, dann gerät das bestehende komplexe internationale Regelsystem, das ohne Zweifel große Mängel aufweist, aus den Fugen. Dann tritt die Macht des Stärkeren an die Stelle des Rechts (so schwach es auch sein mag), und ob nicht nur Gott, sondern auch die Gerechtigkeit immer mit den stärksten Bataillonen ist, ist mit Recht zu bezweifeln. Man muss an dieser Stelle noch nicht einmal Glucksmanns unglückliche Parteinahme für die Intervention der USA im Irak diskutieren. Auch seine Polemik gegen die Schwäche und Trägheit Europas, die er flugs zum Antiamerikanismus mutieren lässt, ist nicht wirklich diskussionswürdig. Verhängnisvoll hingegen ist seine anthropologische Grundentscheidung, den Hass zur elementaren und unhintergehbaren Gewalt zu adeln. Damit hintertreibt er jeden Versuch des politischen Handelns, als Ausgleich wie als Wandel, ja selbst jede Kritik an den vorsichtigeren Akteuren der internationalen Politik, die nicht nur handeln wollen, sondern auch die Risiken und Folgen ihrer Handlungen berücksichtigt sehen wollen. Die internationale Gemeinschaft muss von einer Intervention überzeugt sein und werden, dann wird sie diese, wie im Fall des Balkans, mit breiter Unterstützung unternehmen können.
Diese Überzeugungsarbeit jedoch muss in jedem Fall geleistet werden. Geht sie fehl - und im Fall des Irak-Kriegs ist sie offensichtlich fehl gegangen -, dann mögen sich die Kombattanten gegenseitig mit Polemiken attackieren oder nach einer neuen gemeinsamen Basis suchen, wie dies in den letzten Jahren ja auch geschehen ist. Einem Intellektuellen wie Glucksmann darf man hingegen das, was er hier präsentiert, nicht durchgehen lassen. Er zeigt damit keineswegs die hässliche Fratze des Westens, und er trifft auch keineswegs ins Herz unserer modernen Gesellschaft. Er betreibt lediglich einen intellektuellen Rollback hin zum begründungslosen Voluntarismus und hemmungslosen Konfrontationsdenken, dessen Konsequenzen allerdings in der Tat die Errungenschaften der modernen Gesellschaften weltweit, eben auch in Europa und Amerika, gefährden. Konsequenzen aus dem 11. September 2001 lassen sich dagegen in zwei Richtungen ziehen, und man kann dankbar dafür sein, dass Glucksmann sie - mit den Ergebnissen des US-amerikanischen Untersuchungsausschusses - sogar selbst zitiert: Zum einen provoziert die Attacke auf die zentralen Symbole der Amerikas eine Politik der Härte und Machtentfaltung (der aber nicht einmal die Regierung Bush vollends gefolgt ist), zum anderen hat sie auch zu der Erkenntnis geführt, dass sich die Probleme dieser Welt nicht nur mit Gewalt lösen lassen.
Nicht der Hass ist mit diesem September-Morgen in die Politik zurückgekehrt, sondern nur die Gewissheit, dass die Globalisierung keine konfliktfreie Kampagne sein kann. Wie diese Konflikte aber zu lösen und ihre Ursachen zu beheben sind, das ist ein Problem, dass mit einer "Hass"-Tirade à la Glucksmann nicht angemessen behandelt werden kann. Der Wille jedenfalls, Ursachen zu erkennen und zu verstehen, hat nichts damit zu tun, dass Gewalt entschuldigt und Gewalttäter in Schutz genommen werden sollten.