Der Popliterat auf der Suche nach dem Gral
Zur Ambivalenz religiöser Erfahrungen in der aktuellen Popliteratur
Von Heinrich Kaulen
Ein wohlhabender junger Mann tummelt sich in der schicken Party- und Yuppiewelt einer Großstadt, als zwei Ereignisse unversehens sein Weltbild erschüttern: auf den Straßen der Metropole - es handelt sich um die iranische Hauptstadt Teheran - bricht die islamistische Revolution aus und stellt das Luxusleben der schmalen, westlich orientierten Oberschicht in Frage. Fast gleichzeitig stirbt sein Freund, mit dem er die Reise unternommen hat, unter schrecklichen Qualen in einem Armenkrankenhaus und lässt ihn einsam und verzweifelt zurück. Doch bevor er dasselbe Schicksal erleiden muss, weist ihm der Rat eines geheimnisvollen Fremden den rettenden Ausweg: "Dann, mein Lieber, gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit für Sie. Sie müssen zum heiligen Berg Kailasch finden, auch Mount Meru genannt. [...] Diesen Berg müssen Sie im Uhrzeigersinn umkreisen, er ist eine Art gigantische Mandala der Natur, also ein Gebet als Weltbegehung. [...] Eine einzige Umrundung wäscht die Sünden eines gesamten Lebens rein. Wenn Sie das schaffen, dann haben Sie etwas Großes getan, etwas, um das aus den Fugen geratene Gleichgewicht wiederherzustellen."
Von einem Moment zum anderen fällt der Protagonist die Entscheidung zur Umkehr. Nur mit einem Rucksack und ganz wenig Proviant versehen, begibt er sich auf den Pilgerweg zum heiligen Berg Kailasch im tibetanischen Hochland, der als das verborgene "Zentrum des Universums" angesehen wird. Der lange und entsagungsvolle Marsch dorthin ist ihm zugleich Selbsttherapie, Suche nach spiritueller Erfüllung und ein symbolischer Bußgang für die Götzen der Oberflächlichkeit und Dekadenz, denen er bis dahin erlegen war. Wie es sich für eine solche religiös inspirierte Initiationsreise gehört, lässt er bei seinem Gang seine alte Existenz radikal hinter sich: die kostbaren Luxusschuhe von Berluti lösen sich unterwegs auf, und wo früher die Stildistinktion durch Lifestyle und Markennamen den höchsten Grad an Individualisierung markierte, genügt ihm jetzt der einfachste Kittel, der "vorne, vor dem Bauch, mit einem dünnen Filzgürtel" zusammengehalten wird: "Ich fand, daß es gut aussah. [...]. Es war anders, wenn man plötzlich ein Ziel hatte, die Augen waren nicht mehr auf den Boden gerichtet, auf die ewig gleiche Wiederholung der Schritte, sondern der Blick ging nach oben, immer weiter hinauf, je mehr ich mich dem Berg näherte."
Die Pilgerszene, von der hier die Rede ist, stammt nicht aus einer erbaulichen Heiligenvita des Mittelalters. Die geschilderte Szenerie, in der unschwer das alte Erzählmodell von der Initiation des christlichen Ritters auf der Suche nach dem heiligen Gral wiederzuerkennen ist, wurde auch nicht von Hermann Hesse, Peter Handke oder Botho Strauß entworfen, die das Muster von Aufbruch, Bewährung in der Fremde und Umkehr in ihren Erzähltexten vielfältig variieren. Die Episode findet sich vielmehr in dem letzten Roman von Christian Kracht ("1979", Köln 2001), der sechs Jahre zuvor mit seinem Roman "Faserland" (Köln 1995) den spektakulären Auftakt zur neuen deutschen Popliteratur der 1990er Jahre geliefert hat.
Kritiker und Leser, die in der Mehrzahl eine Fortsetzung der satirisch überzeichneten Gegenwartsdiagnosen des ersten Buches erwartet hatten, reagierten überrascht. War der Popliterat zu einem religiös inspirierten Sinnsucher geworden, der das rasche Ende eines kurzlebigen literarischen Trends symbolisch in das alte Bild des Aufbruchs zu einer traditionellen Inititationsreise nach dem Schema von Umkehr und Erweckung fasst? Ganz so leicht macht es Christian Kracht seinen Lesern nicht. Kaum ist der Protagonist an seinem ersehnten Ziel angelangt, ergreift ihn wieder das alte Gefühl der Leere, Banalität und Langeweile, dem er durch die Suche nach einem höchsten und absoluten Ziel ein für allemal zu entkommen suchte: "Es kam keine plötzliche Einsicht, ich hatte nicht das Gefühl, etwas zu geben oder einen Tausch zu vollbringen [...] oder die Welt reinzuwaschen von ihren Sünden. Es war, wenn ich das sagen darf, reichlich banal." Erst als er sich einer Gruppe von zwölf (!) tibetanischen Pilgern anschließt, die ihn in ihrer selbstquälerischen Bußpraxis unterweisen, stellt sich "das wunderbare Gefühl" ein, "Teil einer Gemeinschaft zu sein, als ob ich plötzlich eine Erinnerung zurückerhalten hätte, wie es im Kindergarten war, oder an den ersten Schultagen; es war wie ein goldenes Geschenk des Himmels. [...] Ich hatte mich von allem Unwichtigen frei gemacht [....], ich wollte nichts mehr, ich war frei." Das Erlebnis von Läuterung und Erlösung, das dem Erzähler hier zuteil wird, nachdem er es zuvor im hemmungslosen Hedonismus der Moden und des Konsums, der Sexualität und des Rauschs vergeblich gesucht hat, ist allerdings wiederum nur von kurzer Dauer. Bald darauf wird die Pilgergruppe von chinesischen Soldaten verhaftet. Noch ist der Weg des Ich-Erzählers nach unten nicht abgeschlossen. Als nächste Station warten die Torturen eines chinesischen Umerziehungslagers auf ihn und lassen ihn zum Chronisten eines Schreckensszenarios von geradezu apokalyptischen Ausmaßen werden. Der Blitz der Erleuchtung ereilt ihn jetzt nur noch in Gestalt der Atomversuche in der chinesischen Wüste, deren Augenzeuge er wird. Zur positiv ausgemalten Vision der Erlösung durch Askese und Selbstopferung tritt als negatives Gegenbild das der Hölle auf Erden.
Mit dem Stichwort 'Popliteratur' verbinden wir in der Regel den Kult der Marken und des Konsums, die - mal affirmative, mal kritisch akzentuierte - Beschreibung des schönen Scheins der Warenästhetik und der aktuellen Medien- und Freizeitwelten. Zu dem von cooler Indifferenz oder Zynismus geprägten Habitus der Popliteraten scheint die Sinnsuche, die Kracht in seinem zwischen Erweckungserlebnissen und düsteren Endzeiterfahrungen schwankenden Roman inszeniert, wenig zu passen. Der Erzähler durchkreuzt den popliterarischen Diskurs, der primär die glitzernde Oberfläche spiegeln und das Alltägliche archivieren will, in seinem Buch mit einem gegenläufigen Sinndiskurs, der mit seinem Streben nach Erfüllung durch Integration in eine asketische Gemeinschaft von Gottsuchern traditionalistische Züge gewinnt und nicht zufällig an altvertraute Muster der Bekehrungs- und Erweckungsliteratur erinnert. Neben die nüchterne Protokollierung von Alltagsdiskursen tritt die Romantisierung der Kindheit, neben die skeptische Bestandsaufnahme der Einsamkeit des Ichs die Restauration der in der Glaubenspraxis vereinten Gemeinschaft, neben die nihilistische Erfahrung der Desillusionierung nach dem Verfall der großen Erzählungen die neuerliche Beschwörung des Absoluten. Gerade in den Widersprüchen einer Haltung, die sich einerseits der simplen Rückkehr zu den fundamentalistischen Heilslehren der Tradition verweigert, andererseits auf dem Boden der Gegenwart unorthodoxen Praktiken mystisch-religiöser Erfahrung Raum zu geben sucht, ist Krachts Buch jedoch alles anderes als anachronistisch, sondern repräsentativ für nicht wenige Vertreter der gegenwärtigen Popliteratur. Überraschend ist dieser Befund allenfalls insofern, als die meisten Beobachter gerade diese Richtung der Gegenwartsliteratur aufgrund ihrer der unbedingten Zeitgenossenschaft und Aktualität verpflichteten Programmatik am allerwenigsten mit einer Renaissance überkommener religiöser Denkfiguren in Verbindung bringen.
Dabei findet sich, schaut man genau hin, bereits in Krachts Debutroman "Faserland" von 1995 inmitten der Beschreibung von Drogen- und Sexexzessen eine ähnliche romantische Verklärung der Herkunftswelt als entschwundenes Paradies, verbunden mit einer kaum verschwiegenen Sehnsucht nach diesem verlorenen Ursprung. Auch die magische Erfahrung einer "Stille", in welcher der Einzelne seinen verlorenen Platz in der Welt zumindest für einen Augenblick wiederfinden kann, wird schon in manchen Passagen dieses Romans beschworen. An einer Stelle wird sogar das Glück des einfachen Kleinbürgerlebens "im Osten" Deutschlands "mit seiner Ruhe und seinen Trainingsanzügen" gegen die hektisch-dynamische Konsumwelt des Westens polemisch in Stellung gebracht - der Hymnus auf den schlichten Pilgerkittel, das Leben in Armut und die Segnungen eines konsumfeindlichen Daseins ist in dieser Passage bereits vorgezeichnet. Und das Motiv der Pilgerreise begegnet, ironisch gebrochen, in der Wallfahrt des Bildungsbürgers zum Grab des verehrten Thomas Mann auf dem Friedhof in Kilchberg, die freilich in diesem Erzähltext noch in eine groteske Desillusionierung mündet.
Die Sehnsucht nach einer im Glauben verankerten Tradition, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und verbindlichem Wissen bleibt bei Kracht ambivalent, weil er auf der einen Seite nicht auf die Suche nach dauerhaft verbürgten und universell geltenden Normen verzichten möchte, die über die stetig schwankenden Wertmaßstäbe des Konsumismus und der permanenten Stildistinktion hinausführen könnten, gleichzeitig aber die Gefahr eines Rückfalls in Fundamentalismen und totalitäre Dogmen wittert, wie sie in den Ideologien des Nationalsozialismus, der kommunistischen Zwangserziehung oder des Islamismus angelegt sind: "Dann denke ich daran, wie gut es wäre, solche Dinge zu besitzen wie diese Liege, an der man alles festmachen kann, an deren Holz man sehen kann, wie alles seinen festen Platz hat in der Welt. Aber im Grunde wäre es doch nur eine Belastung", heißt es in "Faserland".
Dieselbe Ambivalenz begegnet auch bei etlichen anderen Wortführern der Pop-Generation, wenn sie sich zu religiösen Themen äußern. Stringenz und Plausibilität sind dabei nicht zu erwarten. Eher das, was Florian Illies in seinem literarischen Generationsporträt "Generation Golf" (2000) "ein flexibles Verhältnis zur Religion" nennt, in dem widersprüchliche Anschauungen pluralistisch nebeneinander bestehen können und jede Art von Rigidiät oder Dogmatismus verpönt sind: "'Wenn der Papst die Leute segnet, das hat schon was.' Das hat schon was - so etwa lautet das Glaubensbekenntnis der Generation Golf."
Die Vertreter des selbsternannten popkulturellen Quintetts, die im April 1999 im Berliner Hotel Adlon zusammengekommen sind, drücken denselben Sachverhalt zwar etwas elaborierter, aber auch nicht wesentlich schärfer und präziser aus. Einerseits beklagen sie in ihrem Gesprächsprotokoll "Tristesse Royale" (1999) die innere Leere und den Verlust aller Verbindlichkeiten und propagieren, wie die Protagonisten in Krachts Büchern, die Suche nach ungewohnten Grenzerfahrungen gleich welcher Art und das Streben nach neuen Ausdrucksformen von Spiritualität. Andererseits bleibt die Suche nach diesen Alternativen reichlich vage, weil der Platz für religiöse Erfahrungen in der Regel bereits durch alte Dogmen besetzt ist, die in den modernen Gesellschaften des Westens nicht mehr vermittelbar sind, und neue, brauchbare Ersatzlehren nicht zur Verfügung stehen. So entsteht das paradoxe Bild einer Sehnsucht nach Transzendenz, die ziel- und inhaltslos bleibt und sich eklektizistisch bei den verschiedensten, einander widersprechenden Glaubensrichtungen bedient - oder auch nur in pseudoreligiösen Ritualen und Ersatzhandlungen verliert.
Joachim Bessing etwa plädiert in "Tristesse Royale" für den "konfessionslosen Klostergang, der gleichrangig mit einer Ayurveda-Kur oder Yoga-Lessons zu einem nach außen getragenen Zeichen für eine Zäsur im Leben geworden ist", und auch Alexander von Schönburg ist der Meinung, dass ein derart zur Entlastung vom Alltagsstress genutztes "Kloster ebenfalls Rock ist". Nur Benjamin von Stuckrad-Barre beharrt bei diesem Disput mit dem Gestus aufklärerischer Skepsis auf einer strikten Trennung zwischen der Arbeitsaskese des Künstlers, der gelegentlich einen Rückzug aus der Welt als Medium seiner Produktivität brauche, und überzogenen spirituellen Selbsterlösungsvorstellungen. Die meisten anderen Teilnehmer teilen hingegen die diffuse Vorstellung, dass jeder Schaffende "einen göttlichen Funken" in sich trage und "aus der Spiritualität eine unglaubliche Kraft schöpfen kann, die, wie Heroin, alles zweitrangig macht." Kleinster gemeinsamer Nenner dieser konfusen ästhetischen Programmatik, welche die Ausdifferenzierung der verschiedenen kulturellen Teilsysteme seit der Neuzeit, insbesondere die Emanzipation der Kunst vom religiösen Ritual, negiert, ist dann die Resakralisierung der Kunsterfahrung zum religiösen Erlebnis, und das heißt unter popkulturellen Prämissen: die Verklärung der profanen musikalischen Rockkultur zu einem spirituellen Akt von eigenem Rang. Das Rockkonzert wird dabei zur neuen Form des Gottesdienstes und das in Ekstase versetzte Publikum zum zeitgemäßen Erscheinungsbild der von einem höheren Geist ergriffenen Gemeinde. In dieser Gemeinschaft sollen Individualität und kollektives Erleben, Liebesethik und selbstbezogener Hedonismus auf zwanglose Weise zur Einheit kommen: "Rock ist die Antwort und Rock ist Christentum und all you need is love. Das alles ist vor allem meine Erkenntnis aus unserer Klausur hier."
Rainald Goetz, der Altmeister der deutschsprachigen Popliteratur, dem die Gegenwartsliteratur vermutlich die hellsichtigsten und genauesten Beschreibungen der populären Musikszenen verdankt, hat aus solchen Prämissen die fälligen Konsequenzen gezogen. Während sich die Vorgänger aus der Beat-Generation wie etwa Jack Kerouac ("On the road", New York 1957) noch darauf beschränkten, Drogenexperimente zu poetisieren oder Natureindrücke und sexuelle Erlebnisse als quasi-religiöse Einheitserfahrungen zu stilisieren, wandelt sich bei ihm die Techno-Performance als solche zu einer spirituellen Ganzheits- und Gemeinschaftserfahrung und zur Epiphanie des verborgenen Gottes. "Hinter ihm, über ihm, um ihn", heißt es in der litaneihaften Sprache seiner Szenechronik "Rave" (1998), "da waren jetzt ganz groß die Sound-Gewalten aufgestanden, diese riesigen Geräte, die in ihm ineinander donnerten, übermenschengroß. Er schaute hoch, er nickte und fühlte sich gedacht vom Bum-bum-bum des Beats. [....] Er schaute und tanzte und sah das Schöne." In der unio mystica auf dem Dancefloor werden Körper und Schrift, Beschreibung und Erleben eins. Die Hochstimmung, die durch diese Verschmelzung ausgelöst wird, ist für Goetz nur noch in einer sakralen und hymnischen Sprache nach liturgischen Mustern fassbar: "Ich hatte eine Art Ahnung von Sound in mir, ein Körpergefühl, das die Schrift treffen müßte. Eine Art: Ave - 'Ave Maria, gratia plena.' Sowas in der Art von: bene - bendictus - bist du - und gebenedeit auch unter deinen Leibern - Da müßte man sich einfach nur, im wahrsten Sinn des Wortes, wirklich hinknien, hatte Albert mir mal gesagt. Man dürfte diese Texte nicht nur rein vom Sinn her nehmen, sondern müsste sich das anders denken, nämlich betend [...]." Wo profane Alltagserfahrungen und religiöses Geheimnis derart unmittelbar in eins gesetzt werden, ist es von einem überhöhten (pseudo-)religiösen Pathos nicht weit bis zum Kitsch. Zumindest für die Dauer der beschriebenen Episode ist der popliterarische Gralssucher hier an seinem Ziel angekommen: sein Sakrament ist der Rhythmus des Techno, seine Prozession die Love-Parade und der DJ sein Priester.