Nicht von dieser Welt

Günter de Bruyns Erkundungen "Abseits" der Literatur

Von Christian MariotteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Mariotte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Deutschen Bücherpreises erklärte Günter de Bruyn im Jahre 2002, er würde sich "sehr freuen". Damals belohnte dieser durch den Börsenverein des Deutschen Buchhandels gestiftete Preis ausschließlich Autoren, die im Jahr zuvor auf den Bestsellerlisten gestanden hatten, und das Zeremoniell wurde unterbrochen durch romantische Lieder von italienischen und deutschen Schlagersängern. Den Nationalpreis der DDR hingegen hatte der ostdeutsche Schriftsteller drei Monate vor der Wende entschieden abgelehnt - ihm konnte man noch nie nachsagen, er würde nicht das Richtige im richtigen Augenblick tun. Stets verhielt er sich, wie man es von ihm erwartete, weder zu neutral noch zu engagiert. Als er 1996 über seine Privilegiertenstellung zu DDR-Zeiten nachdachte, schrieb er: "Ich ahnte, dass man mich für mein Abseitsstehen belohnte".

"Abseits" - so heißt auch de Bruyns letzter Prosaband, eine "Liebeserklärung an eine Landschaft". Fast möchte man glauben, dieser Untertitel sei dem Schriftsteller von seinem Lektor angeraten worden, und die kurze Einleitung - mit ihren banalen Gedanken über Liebe - als Letztes entstanden. Nicht mit sentimentalen Ergüssen, sondern mit einer Leidenschaft für Genauigkeit führt der Schriftsteller seine Leser durch eine Gegend, die sie schon aus seinen früheren Werken kennen. In den fiktionalen Werken und dem zweiten Teil der Memoiren diente der brandenburgische Landfleck, der zwischen den Städtchen Beeskow und Storkow liegt, als Kulisse für zwischenmenschliche Beziehungen. Hier hingegen sind unendlich lange Beschreibungen zum Selbstzweck geworden: "Die Rinne des Blabbergrabens, die sich in Höhe der noch zu beschreibenden Blabbermühle am stärksten verengt, weitet sich weiter südlich wieder vor dem verlandenden Drobschsee zu einem ausgedehnten Wiesengelände, das in vorgeschichtlicher Zeit sicher zum Drobschsee gehört hatte und im Mittelalter durch Verlandung morastig geworden war". Auch manche historische Angaben sind peinlich genau: Ist es wirklich von Belang, dass der Neuendorfer See früher auch "als Prahm- oder Brahm-See bezeichnet wurde"?

Doch gerade in einer Genauigkeit, die sich kaum um die Reaktionen des Lesers kümmert, liegt die Radikalität de Bruyns. Als die Staatssicherheit Versuche unternahm, ihn als IM anzuwerben, zog er sich zeitweise in sein märkisches Wochenendhaus zurück. Auch vor den Anfechtungen des Kapitalismus und der neuen deutschen Literatur können wir uns hier für Augenblicke erholen. Keine "flotten Familienromane", keine "neue Lust am Erzählen" werden uns hier heimsuchen. Dafür können wir einem alten Schriftsteller folgen, der ohne Tricks und falsche Versprechungen einen unbedeutenden Ort bis in den letzten Winkel durchleuchtet und einige seiner Bestandteile aufleuchten lässt. Im Grunde ist die Lektüre dieses Buches wie ein Nachmittag in einem staubigen Heimatkundemuseum. Manche haben die Geduld, vergilbte Hinweistafeln zu lesen, andere nicht. Wer sich auf die Lektüre einlässt, wird reichlich belohnt, zum Beispiel wenn de Bruyn auf eine einfache, unprätentiöse Art - ganz anders also als W. G. Sebald - handschriftliche Zeugnisse auswertet. Traurig und anrührend ist die Geschichte einer alten Bäuerin, die den Tod ihres einzigen Sohnes an der Ostfront noch zwanzig Jahre nach Kriegsende nicht wahrhaben will: "Wenn bei sowjetischen Manövern Trupps von Soldaten an ihrem Waldhaus vorbeikamen, glaubte sie, ihren Sohn unter den fremden Uniformen erkennen zu können, und wenn Flugzeuge über den Wäldern kreisten, war sie sicher, dass Rudi ihr damit Zeichen gab".

Hat man die Tatsache akzeptiert, dass die Intensität des Beschriebenen großen Schwankungen unterlegen ist und dass auch der "Mangel an Menschen, Reizen und Geräuschen" ein Genuss werden kann, stellt sich doch die Frage, ob sich dieses ruhige und schöne Buch innerhalb oder "abseits" der Literatur ansiedelt. Zu einfach macht es sich der Autor, wenn er siebzehn Seiten lang aus einer Kirchenchronik zitiert. Überhaupt freut man sich, wenn man aus dem Heimatkundemuseum an die frische Luft tritt und sich als Belohnung für die Geduld ein frisches Getränk im benachbarten Wirtshaus gönnt. Mit der Fiktion hat sich de Bruyn immer schwer getan. Dieses Buch, das er mit 78 Jahren veröffentlicht, wird vermutlich seine an Trivialliteratur grenzenden Romane überdauern. Bei de Bruyns Vorbild Theodor Fontane aber waren die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" eine erste Übung - bevor er seine großen Romane veröffentlichte.


Titelbild

Günter de Bruyn: Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
189 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100096347

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