Lawine der Affekte

Léon Wurmser über magische und tragische Verwandlungen schwerer Neurosen

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Texten der Romantik spielt das "Zauberwort", das die Kraft hat, die ganze verkehrte Welt mit einem Hauch fortzujagen, eine wichtige Rolle. Ja, nach Léon Wurmser lebt unsere ganze Märchen- und Mythenwelt von dem Wunsch, dass wir selbst und die Welt, in der wir leben, wie mit einem "Zauberstab" verwandelt werden könnten. Einer solchen Hoffnung auf "magische Veränderung" begegneten die Psychoanalytiker, so Wurmser, jedoch auch in fast jeder Stunde ihrer therapeutischen Arbeit. Der an schwerer, mit starken Affekten einhergehender Neurose leidende Patient erwarte die "magische" Lösung seiner Probleme dabei entweder vom Therapeuten oder von Drogen, Geld, Spiel, Fernsehen, Erfolg und Essen, von sexueller Befriedigung oder religiösem Ritual. Sie fühlten sich darin, bemerkt Wurmser kulturkritisch, durch den Geist unserer Zivilisation bestärkt: "Die Hoffnung ist allenthalben, dass komplizierte Probleme mit einfachen Mitteln, einer Fülle von Medikamenten, abgekürzten Verfahren oder von technischen Eingriffen gelöst werden können," etwa so wie das Alter durch kosmetische Operationen oder Wundermittel gebannt werde. "Was geduldige Arbeit erheischt, was Selbstkonfrontierung mit den schmerzlichen Konflikten des Menschen erfordert," versuche man vergeblich durch ökonomische Schnellmaßnahmen zu ersetzen.

Offenbar glaubt Wurmser, den oft kritisierten Zeitaufwand, den die psychoanalytische Behandlung mit sich bringt (seine im Buch geschilderten Einzeltherapien dauern denn auch schon einmal länger als achthundert Stunden), verteidigen zu müssen - denn gut Ding will Weile haben. An die Stelle der "magischen Verwandlung" müsse die "tragische Verwandlung" treten, eine tiefe innere Änderung, die das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sei: Von der Leiderfahrung gehe es zum Konfliktbewusstsein, von dort zur erschütternden Einsicht und am Ende schließlich habe die Umwandlung des errungenen Wissens in eine aktive Tätigkeit zu folgen, die im Dienste einer Idee oder eines anderen Menschen stehen müsse.

Das hier angedeutete therapeutische Konzept entnimmt Wurmser der schönen Literatur. Er beschränkt sich dabei jedoch vor allem auf Werke von George Eliot und Tolstoj, obgleich der beschriebene seelische Prozess einen Hauptinhalt "sowohl der griechischen wie auch der Shakespearischen, Schillerschen und Ibsenschen Tragödie und der bedeutsamen Dichtwerke des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts" ausmache. Diese These, die die Psychoanalyse mit der bedeutenden Dichtung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts überhaupt gleichzusetzen scheint, soll jedoch nicht die in der Tat erhebliche Bedeutung der literarischen Psychoanalyserezeption belegen, sondern Wurmser will mit ihr vielmehr die Psychoanalyse nobilitieren. Denn sie sei, wie die Literatur, eine Kunst. Der Prämisse folgt auch Wurmsers methodische Vorgehensweise: Anfangs dargelegte Ergebnisse des psychoanalytischen Experiments werden von ihm zunächst theoretisch erweitert - und zwar durch die (meist informative und lehrreiche) Diskussion der Forschungslage -, um sie dann in einem letzten Schritt durch Zitate aus Werken der Weltliteratur gewissermaßen noch einmal zu bestätigen.

Gegenstand des therapeutischen Interesses sind dabei vor allem die schweren Neurosen, die Wurmser gegen die Übermacht des Borderline-Begriffs als zu differenzierendes Phänomen profilieren möchte. Bei den auf ein Trauma zurückgehenden Neurosen besitzen die Gefühle bzw. Affekte große Bedeutung. In einer traumatischen Situation neigen die Affekte zur lawinenartigen Ausbreitung, so dass fast jeder Teil der Innenwelt, ja der ganze Organismus in einen Zustand maximaler Erregung gerate. Schwere, sich wiederholende Traumatisierung bringe es dann mit sich, dass jedes emotionale Erleben die Wiederkehr des Traumas ankündige. Der Leidende könne darauf nur durch Verdrängung der Emotionen reagieren, die jedoch in aggressivem Verhalten und Selbstzerstörungstendenzen wieder an die Oberfläche kämen. Oft kehrten die Affekte auch in sexualisierter Form zurück, da Sexualisierung eine archaische Abwehr sei, die eingesetzt werde, um Affekte zu regulieren. Diese unkontrollierbare Überflutung mit Affekten führe wiederum zu Gegenmaßnahmen des Über-Ichs in Gestalt von "durchdringenden, verinnerlichten und globalen Schuld- und Schamgefühlen." Die Fallbeispiele, die Wurmser ausführlich darstellt, scheinen diese Überlegungen zu rechtfertigen. Da wäre es gar nicht nötig, die (zudem nicht gerade überzeugende) literarische Weihe nachgereicht zu bekommen: "'Das zum Tyrannen gewordene Gewissen hielt die Leidenschaft an der Gurgel' sagt Charlotte Bronte in 'Jane Eyre'."

Über die Vielschichtigkeit des Scham-Gefühls, über Wut und Ekel und über den Widerstreit der Affekte bei traumatisierten Personen, ein Widerstreit, der die Affektregulation unmöglich mache und so zur Problemverdrängung führe, kann man in Wurmsers Buch viel lernen, ebenso wie über die Konflikte innerhalb der Psychoanalyse (zwischen denjenigen Therapeuten, die an das ubiquitäre Vorkommen sexueller Traumatisierung und deren Verdrängung glauben, und denjenigen, die nicht einmal die Verdrängung als solche noch gelten lassen wollen). Die offene Diskussion der Problematik psychoanalytischer Wissenschaft hat für Wurmser jedoch stets die Funktion, die Psychoanalyse (in der von ihm präferierten Spielart) zu verteidigen. Das geht am Ende so weit, dass er die Psychoanalyse mit der Ideenwelt des Judentums gleichsetzt. Wurmser versucht nicht, wie das vor ihm Peter Gay mit einigem Erfolg getan hat, die Ursprünge des psychoanalytischen Denkens in der gesellschaftlichen Lage der deutsch-jüdischen Intellektuellen der Wiener Jahrhundertwende zu verorten. Er will vielmehr die psychoanalytische Lehre bereits in den Talmud hineinlesen - wodurch wiederum das Judentum gegenüber dem Christentum aufgewertet werden soll.

Man kann das alles sehr interessant finden. Letztlich jedoch sind es zu viele Kämpfe und Konflikte, die das Buch regieren. Léon Wurmser muß so selbst immer wieder zum rhetorischen "Zauberstab" und zum Prinzip der "magischen Verwandlung" greifen, um seine Leser von Dingen überzeugen zu können, an die er sonst nicht glauben würde.

Titelbild

Léon Wurmser: Magische Verwandlung und tragische Verwandlung. Die schwere Neurose - Symptom, Funktion, Persönlichkeit.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999.
450 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3525458444

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