Jahrhundertwenden und Apokalypsen
Über einige Bücher zum Jahr 2000
Von Thomas Anz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAltes geht zu Ende, Neues beginnt. Dieses einfache Muster des Geschichtenerzählens gehört zu den elementaren Bausteinen kultureller Konstruktionen von Wirklichkeit. Es gibt anscheinend ein großes Bedürfnis danach. Geschichten von Vergehen und Werden, von Tod und Wiedergeburt werden jedenfalls in zahllosen Variationen immer wieder erzählt.
Eine nahezu inhaltsleere Version davon ist das ganz und gar fiktive Märchen von der Jahrhundertwende. Aufgrund willkürlicher Festlegungen lassen Kulturen an bestimmten Tagen einen großen Zeitraum zu Ende gehen und einen anderen beginnen. Doch gerade die Inhaltsleere der abstrakten Daten übt einen ungeheuren Zwang aus, sie mit Sinn zu füllen. Und die reale Macht solcher Sinnfülle über die Mentalitäten der Menschen ist groß. Geradezu ideal sind ihr Geschichten angepasst, die mit einem alten Jahrhundert oder Jahrtausend die ganze Welt oder zumindest die Menschheit enden und mit dem neuen eine völlig andere Welt beginnen lassen. Das ist das Grundmuster apokalyptischen Erzählens. Kein Wunder, dass sich Endzeitphantasien an der Wende von Jahrhunderten geradezu epidemisch verbreiten. Beides fügt sich ins gleiche Schema. Der Untertitel eines der zahllosen Millenniums- oder Centenniums-Bücher, die unlängst erschienen sind, ist dafür symptomatisch. Er heißt „Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert“.
Doch die suggerierte Plausibilität täuscht: Apokalyptische Phantasien grassieren durchaus unabhängig von Jahrhundertwenden. Was für das „fin de siècle“ um 1900 zutrifft, die kollektiv verbreitete Assoziation von Jahrhundertende und Weltende, gilt für frühere Jahrhundertwenden nur sehr eingeschränkt oder gar nicht. Was sich um 1900 über diesen Zusammenhang sagen lässt, hat allerdings unsere Vorurteile über vorangehende Jahrhundertwenden nachhaltig geprägt. Sie sind von der jüngeren Kulturgeschichtsschreibung inzwischen widerlegt. Übereinstimmend verbuchen zwei Neuerscheinungen zu dem Thema im Hinblick auf das Jahr 1500 bei der Suche nach apokalyptischen Phantasien besonderen Ausmaßes in den zugänglichen historischen Quellen weitgehend Fehlanzeigen: die instruktive Dissertation des Historikers Arndt Brendecke über die Geschichte der Wahrnehmungen und Wirkungen von Jahrhundertwenden ebenso wie die Beiträge von Johannes Schilling, Heinrich Dormeier und Helga Robinson-Hammerstein in dem religionsgeschichtlich orientierten Sammelband „Jahrhundertwenden“.
Sogar das Millenium um 1000, dem man lange Zeit eine ganz besondere Verbundenheit mit apokalyptischen Phantasien nachsagte, erwies sich nach genauerer Nachprüfung als relativ frei davon. „Die vielen detailreichen Beschreibungen der angeblichen ‚Schrecken des Jahres 1000“ waren nach Brendecke eine im 19. Jahrhundert populär gewordene Erfindung. Sie „stehen in einem sonderbaren Mißverhältnis zu den tatsächlich vorhandenen Quellen. Die Vorstellung, die man sich über das Fin de siècle der 1990er Jahre machte, gründeten auf einem falschen Bild von der Jahrtausendwende, denn eine allgemeine Furcht vor dem Jahr 1000 hat es nicht gegeben.“ Reinhart Staats kirchen- und mentalitätsgeschichtliche Studie in dem Band „Jahrhundertwenden“ kommt zum gleichen Befund: „Es gibt keinen einzigen eindeutigen Beleg, der von einer ‚allgemeinen‘ Weltuntergangsstimmung exakt um das Jahr 1000 spricht.“
Die Stimmungslage des Fin de siècle um 1900 hat den historiographischen Verfälschungen weiter Vorschub geleistet und zu hartnäckigen Projektionen gegenwartsbezogener Vorstellungen auf andere Jahrhundertwenden verführt – auch noch auf den Wechsel zum Jahr 2000. Als die beiden genannten Bücher geplant wurden, hatte man wohl andere Ergebnisse erwartet.
Der gängigen Assoziation von Jahrhundert- und Weltende verdankt sich auch das schöne und zugleich informative, mit apokalyptischen Text- und Bildbeispielen reich ausgestattete Buch „Der Weltuntergang“, das die Schweizer Ernst Halter und Martin Müller herausgegeben haben. Am Ende seines Beitrags über literarische Apokalyptik stellt Joseph Kiermeier-Debre hier eine Liste von einschlägigen Texten aus dem 20. Jahrhundert zusammen. Es liegt nicht an der Auswahl, sondern entspricht den mentalitätsgeschichtlichen Realitäten, wenn hier die meisten Titel aus den achtziger Jahren stammen.
In der deutschen Literatur waren es in der Tat weit mehr die achtziger als die neunziger Jahre, in denen Apokalypsen Konjunktur hatten. „Die letzte Posaune“ (1985) von Inge Merkel, „Die Rättin“ (1986) von Günter Grass, „Die Wallfahrer“ (1986) von Carl Amery, „Die letzte Welt“ (1988) von Christoph Ransmayr, „Das Untier“ (1983) von Ulrich Horstmann, die einschlägige literaturwissenschaftliche Monographie über „Die Apokalypse in Deutschland“ (1988) von Klaus Vondung oder die von Gunter E. Grimm und anderen herausgegebene Aufsatzsammlung „Apokalypse. Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts“(1986) sowie Jacques Derridas Schriften zur „Apokalypse“ (1983 und 1985) – das alles ist schon in den achtziger Jahren erschienen. Und was die Anfänge des vorigen Jahrhunderts angeht, so sind die zahllosen apokalyptischen Szenerien, die sich die Expressionisten ausmalten, von der Jahrhundertwende bereits ein ganzes Stück entfernt. Die Lyrikanthologie „Menschheitsdämmerung“ erschien 1920.
Dennoch gibt es offensichtlich ein kollektives Bedürfnis, Jahrhundert- und Weltende zu verbünden. Es ist allerdings schon deshalb ein relativ neues Bedürfnis, weil die zeitliche Gliederung der Geschichte nach Jahrhunderten und die Bedeutung von Jahrhundertwenden als einschneidende Zäsur noch für die Kultur der frühen Neuzeit kaum eine Rolle spielt. In seinen historischen Ausführungen zum Wandel des Zeitempfindens und der Strukturierung von Zeit weist Arndt Brendecke zwar auf das kulturanthropologische Faktum hin, dass der Zeitraum von hundert Jahren in etwa der maximalen Länge eines Menschenlebens entsprach, dass „sich die Abfolge dreier Generationen von den Großeltern bis zu den Enkeln ein lebendiges Geschichtsgedächtnis von ungefähr hundert Jahren teilen“ und dass die Anziehungskraft der runden Zahl 100 aus ihrer markanten Stellung im Dezimalsystem herrührt, „das vermutlich deshalb bei fast allen Völkern zu finden ist, weil der Mensch zehn Finger hat.“ Doch seine kulturhistorischen Recherchen führten zu dem Ergebnis, noch bis ins 18. Jahrhundert hinein „andere Vorstellungen und Bemessungsgrößen die Strategien dominierten, mit denen man sich in der Zeit orientierte und wiederfand.“ Niemals zuvor gab es eine vergleichbare Festkultur wie um 1800, niemals wurden vorher so viele Predigten über die Jahrhundertwende gehalten, nie war die „Schwellenrhetorik“ so verbreitet wie nach jenem Jahrhundert, das als das „aufgeklärte“ schon seinerzeit erstmals den Status einer Epoche zugeschrieben bekam. Erst um 1800 wurde der zeitliche Grenzstein der Jahrhundertwende „zum Prüfstein der kulturellen Selbstvergewisserung“.
Dass das Jahrhundertende zu einem „Sinnbild des kulturellen Endens“, zum „Symbol des Niedergangs“, zum Fin de siècle avancierte, ist nach Brendecke ein noch späteres Phänomen. Erst im Blick auf die Zeit um 1900 konnte die „Jahrhundertwende“ später sogar zu einem Epochenbegriff werden. In der Einleitung zu der von ihr herausgegebenen Aufsatzsammlung über „Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900“ konstatiert auch Ute Frevert: „Daß Jahrhundertwenden als Epocheneinschnitte oder Epochenschwellen wahrgenommen werden, ist ein Phänomen der Neuzeit.“ Der Feststellung folgt ein Erklärungsversuch: „Je schneller sich Gesellschaften veränderten, je höher die Beschleunigung sozialen Wandels war, desto größer wurde offenbar die Neigung, Markierungspunkte zu setzen und ein abstraktes, sachlich undeterminiertes Datum als Ende und Neubeginn hervorzuheben.“ Freverts Einschätzung der um 1900 dominanten Mentalität stimmt überein mit dem Beitrag zur bildenden Kunst um 1900 von Ulrike Wolff-Thomsen in dem „Jahrhundertwenden“-Band. Der Kulturpessimismus des Fin de siècle war mit dem Erreichen der Jahrhundertwende nicht mehr dominant. „Viele Beispiele zeigen“, so Wolff-Thomsen, „daß die Wende zum neuen Jahrhundert von vielen Künstlern mit einem ungeheuren Vitalismus begrüßt wurde (…). Das Bewußtsein des Neuen an der Wende des Säkulums ist offenkundig.“ Frevert selbst zeigt dies im Blick auf die Frauenbewegung. Um 1900 häuften sich die Prophezeiungen, dass die „Frauenfrage“ im neuen Jahrhundert bald den Sieg davon tragen und die Geschlechterordnung grundlegend verändern werde. Nur darüber, wie diese Ordnung beschaffen wäre, bestand keine Einigkeit. Ähnlich fortschrittsoptimistisch, das zeigt Thomas Welskopp, gerierte sich die Arbeiterbewegung oder, wie Hartmut Berghoff belegt, auch die technische Intelligenz der damaligen Zeit.
Die „Vielfalt der Wahrnehmungen und Perspektiven“, die der von Frevert herausgegebenen Band zu erfassen versucht, widerstreitet freilich einer allzu einheitlichen Einschätzung damaliger Mentalitäten und Diskurse. Die futuristische Technikbegeisterung, die Wolfgang Schieder untersucht, ist für die Avantgardebewegungen, zumal in Deutschland, keineswegs repräsentativ. Kennzeichnend für die Moderne um 1900 ist vielmehr gerade die Pluralität der intellektuellen und ästhetischen Positionen und die durch das Ereignis des Jahrhundertwechsels forcierte Selbstreflexivität. Die Jahrhundertwende erhalte „eine Schlüsselrolle in der selbstreflexiven Erzählung der Moderne“, konstatiert Arnd Brendecke in seinem Kapitel über das späte 19. Jahrhundert. Und Ute Frevert sieht hierin einen „Vorgriff auf jene ‚zweite‘, nämliche reflexive Moderne, die gemeinhin als prägend für das ausgehende 20. Jahrhundert angesehen wird.“
Eine der die Moderne, genauer: die Aufklärung, intensiv reflektierenden Erzähltexte der „postmodernen“ achtziger Jahre ist „Die Rättin“ von Günter Grass. Neben etlichen anderen ist auch er in Ernst Halters und Martin Müllers „Weltuntergang“-Band in Auszügen abgedruckt. Der Roman ist ein intertextuelles Spiel unter anderem mit der „Offenbarung“ des Johannes, der sich die Bedeutung des Begriffs „Apokalypse“ maßgeblich verdankt. Wenn auch meist in verweltlichter Form, die in dem Roman von Grass nicht mehr mit hoffnungsvollen Aussichten auf eine neue, bessere Welt verbunden ist, erwiesen sich apokalyptische Erzählmuster der Vergangenheit noch im späten 20. Jahrhundert als geeignet, die eigene Gegenwart zu reflektieren. Noch für den Roman von Grass trifft zu, was Thomas Kaufmann in dem „Jahrhundertwenden“-Band über die sinnstiftende Funktion von Apokalypsen behauptet: „Apokalyptisches Denken ist nicht unmittelbarer Ausdruck eines Krisenbewußtseins, sondern eine Form, dieses zu bearbeiten“.
Diese gewiss bedenkenswerte Feststellung greift freilich wie die meisten kulturwissenschaftlichen Forschungen zu dem Thema in einem wichtigen Punkt zu kurz. Apokalypsen sind weniger eine Angelegenheit des Denkens als eine der mit ästhetischen Mitteln gelenkten Emotionen. „Angst und Panik“ heißt dementsprechend eine Kapitelüberschrift in dem „Weltuntergang“-Band. Das Spiel, das apokalypatische Texte und Bilder mit Emotionen inszenieren, ist damit allerdings nur ansatzweise gekennzeichnet. Halter verweist in seiner Einleitung eher beiläufig auch auf den „enormen Lustgewinn“, der mit den apokalyptischen Schreckensphantasien einhergehen kann. Dieses Buch selbst bezieht daraus seine Anziehungskraft. Aber worin besteht dieser „Lustgewinn“? Welche künstlerischen und literarischen Mittel dienen ihm? Antworten darauf bleibt uns die Apokalypseforschung bislang weitgehend schuldig. Doch die ständige Wiederkehr der Weltende-Phantasien ist ohne das Vergnügen an apokalyptischen Gegenständen kaum angemessen zu erklären.
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