Agonale Un-Ruhe

Anmerkungen zu einer Neu-Edition von Kleists Gedichten im Rahmen der Brandenburger Ausgabe

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Rahmen seines 1927 unternommenen Versuchs, eine ideale "Bibliothek der Weltliteratur" zusammenzustellen, kommt Hermann Hesse auch auf Heinrich von Kleist zu sprechen. Seine Forderung, dessen Werke in toto aufzunehmen, "die Dramen sowohl wie die Erzählungen, Aufsätze und Anekdoten", lässt erkennen, dass zu einem "vollständigen" Kleist die Lyrik nicht zu gehören scheint. Walter Hettche, dem die einzige ausführliche Studie zu Kleists Lyrik zu verdanken ist (Frankfurt am Main 1986), folgert daraus, dieser Verzicht Hesses lasse nur den Schluss zu, bei Kleists Gedichten handele es sich seiner Ansicht nach "um eine Art Subliteratur, die man getrost vernachlässigen kann". In der Tat füllen die Gedichte in der Kleist-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags nur etwas mehr als fünfzig Druckseiten und stehen schon von daher im Schatten der Dramen und Erzählungen. Gleichwohl wird der aufmerksame Leser dieser Texte einer Vielfalt an Themen und Formen gewahr, die merkwürdig quer steht zu ihrer Missachtung von Seiten der Literaturwissenschaft.

Neben der noch am ehesten rezipierten politischen Lyrik (so ist nicht nur das "Krieglied der Deutschen", das die Franzosen mit wilden, auszurottenden Tieren gleichsetzt, bei den Zeitgenossen recht beliebt gewesen) stehen zwei im "Phöbus" erschienene Epigrammreihen, einige Übersetzungen und Nachdichtungen aus deutschen und französischen Vorlagen, eine längere Idylle, Widmungsgedichte, einige kurze, liedhafte Gedichte, die Kleist im "Phöbus" unter der Überschrift "Kleine Gelegenheitsgedichte" publiziert hat, sowie Albumeintragungen. Der Großteil des corpus lyricum umfasst also Gelegenheitsgedichte, "auf den Augenblick berechnet", wie Kleist im Kontext der "Hermannsschlacht" vermerkt hat. Peter Staengle hat im Nachwort seiner in Zusammenarbeit mit Roland Reuß jüngst veranstalteten Neu-Edition der "Sämtlichen Gedichte" (Brandenburger Ausgabe, Band III) treffend bemerkt, dass das "Spektrum von Motiven, denen sich ihre Entstehung verdankt", "von privaten Anlässen im Freundes- und Bekanntenkreis über die strategische, häufig polemisch vorgetragene Positionierung im Kontext von Literatur, Kunst und Theater bis hin zu Versuchen einer poetisch-propagandistischen Einflußnahme auf die kriegerischen und politischen Auseinandersetzungen der Zeit [reicht]". Zu Recht unterstreicht Staengle auch den Konnex von Okkasionalität und Überlieferung der Gedichte: "Den von Kleist selbst zum Druck beförderten Gedichten, von denen fast ausnahmslos keine Manuskripte erhalten sind, stehen solche gegenüber, die zu Kleists Lebzeiten lediglich im nicht-öffentlichen Raum ostensibel waren. Deren einer Teil, die persönlich adressierte Lyrik, ist in einzelnen, aus der Hinterlassenschaft der Empfänger stammenden Autographen überliefert. Der andere Teil hingegen, im wesentlichen die unpubliziert gebliebene, wiewohl zur Veröffentlichung vorgesehene politische Lyrik aus dem Jahr 1809, weist für mehrere Gedichte eine Vielzahl von Textzeugen auf".

Auffällig ist, dass Kleists Gedichte mit der romantischen Auffassung von Erlebnislyrik nicht vereinbar waren. So spricht Friedrich Gundolf in seinem Kleist-Buch von 1922 vom "Herzensgesang", der in den Gedichten fehle, und Thomas Mann vermisst in seinem Essay "Heinrich von Kleist und seine Erzählungen" "das freie und unmittelbare Sich-Aussingen". Der noch am ehesten hierhin gehörende Prosahymnus an Kleists Todesgefährtin, Henriette Vogel, vom November 1811, früher des Öfteren als "Todeslitanei" (August Sauer) bezeichnet, trägt unverkennbar die Spuren forcierter Exaltation. Das Gedicht, das den Anruf "Mein Alles" in immer wieder neuen Anläufen zu konkretisieren sucht (alles Sichtbare, alles Vergangene, alles Gegenwärtige, alles Zukünftige etc.) mündet in eine Apotheose ("Ach Du bist mein zweites, besseres Ich, meine Tugenden, meine Verdienste, meine Hoffnung, die Vergebung meiner Sünden, meine Zukunft und Seligkeit, o Himmelstöchterchen, mein Gotteskind, meine Fürsprecherin und Fürbitterin, mein Schutzengel, mein Cherubim und Seraph, wie lieb ich Dich! -"). Im Vergleich zu der wirren Aufzählung in dem parallel zu Kleists Text entstandenen Prosagedicht von Henriette Vogel (in der Edition des Deutschen Klassiker Verlags "Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden"), das in der Brandenburger Ausgabe im entsprechenden Apparat leider nicht verzeichnet ist, gliedert sich Kleists Hymnus deutlich in drei Sätze, wobei der Schluss des ersten ("wie nenn ich Dich?") dem des dritten ("wie lieb ich Dich!") korrespondiert. Dem stärker konkreten ersten Satz folgt ein stärker metaphorisch gehaltener, der zugleich das Curriculum vitae des Sprechers umfasst, während der dritte die Erhebung ins Religiöse gestaltet.

Deutlich leichter als der genuin lyrische Ausdruck fielen dem "unaussprechlichen Menschen" Kleist das Rollengedicht ("Jünglingsklage", "Mädchenrätsel", "Katharina von Frankreich") oder die fast schon als dramatisch zu bezeichnende Szene "Das Schrecken im Bad", an der sich auch die wesentliche Textur der Lyrik Kleists erkennen lässt: die Kontrafaktur. Der Untertitel des Gedichts ("Eine Idylle"; von griech. eidyllion "kleines Bild") rekurriert auf ein Corpus lyrisch-epischer Gedichte, das Menschen und menschliche Beziehungen im 'unschuldsvollen Naturzustand' des Hirtenmilieus darstellt (in der Antike etwa bei Theokrit und Vergil, in Deutschland bei Martin Opitz und Johann Heinrich Voß) und zunehmend zur Darstellung des Kontrasts zwischen Ideal und Wirklichkeit eingesetzt wurde. Kleists "Schrecken im Bade" ist intertextuell mit den überlieferten Topoi der Idyllendichtung (Belauschung im Bad, Brautgespräch am Vorabend der Hochzeit) verschränkt, destruiert aber zugleich ihre Voraussetzungen, insofern die dargebotene idyllische Handlung nur noch als Masken- und Versteckspiel möglich wird und in sich gebrochen ist durch das zum Ausdruck drängende bürgerliche Bewusstsein der Beteiligten. Die Idylle ist nur noch als Verkehrung des Tradierten, als Par-Odie auf die klassische Idyllen-Dichtung denkbar und als Per-Version reflektiert dies auch der Text, etwa in dem "umgekehrt" im "krystallnen See" sich spiegelnden "Alpen Gipfel". Klaus Müller-Salget hat in seinem Kommentar zu den Gedichten im Rahmen der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags darüber hinaus sowohl auf ein erkennbares "homoerotisches Moment" verwiesen, wie es sich auch in einer brieflichen Reminiszenz Kleists vom 7. Januar 1805 an sein Zusammensein mit Ernst von Pfuel am Thuner See findet ("Du stelltest das Zeitalter der Griechen in meinem Herzen wieder her, ich hätte bei dir schlafen können, du lieber Junge; so umarmte dich meine ganze Seele! Ich habe deinen schönen Leib oft, wenn du in Thun vor meinen Augen in den See stiegest, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet"), als auch auf das "Moment der Sexualverdrängung": Wenn Margarethe Johannas/Fritz' Worte angeblich zitiert und dabei das tatsächlich Gesagte in eine weitaus intensivere erotische Ansprache verwandelt, enthülle sie unbewusst ihr eigenes unterdrücktes Verlangen.

Die Anlage der Gedichte als Kontrafakturen und Par-Odien scheint ein durchgängiger Zug zu sein; immer wieder greift Kleist in seinem Corpus auf traditionelle Formen zurück, um sie zu destruieren. So lässt sich die "Germania"-Ode als Kontrafaktur zu Schillers Lied "Ode an die Freude" lesen, wobei die suggestive Wirkung des Textes einmal mehr nicht zum Geringsten auf seiner dialogischen Struktur beruht: Dem Aufruf Germanias in den ersten beiden Strophen antwortet der Chor zunächst mit einer Frage, dann schon mit dem begeisterten Griff nach den Waffen, und im dann Folgenden fasst er das in den 'Germania'-Partien Gesagte hyperbolisch zusammen. So bildet die Ode getreulich die erhoffte demagogische Wirkung einer aufstachelnden Rede ab, was sie in eindeutigen Gegensatz zu Schillers Ode bringt. Fraglos liegt der Höhepunkt der Par-Odien in der Formulierung gegen-klassischer Positionen in der Epigrammatik der "Phöbus"-Zeit. Auch hier rekurriert Kleist mit seinen Epigrammen - als pointierte lyrische Kurzformen - auf eine lange Tradition in der abendländischen Dichtung, die im Barock eine neue Blüte erreichte, in der Aufklärung, vor allem von Lessing als Mittel der Ironie und der Satire kultiviert wurde und die sich in Schillers und Goethes berühmten "Xenien" zur persönlichen Invektive steigerten. Kleists Epigramme lassen sich als jene "zerrissenen Bruchstücke" lesen, von denen er in einem Brief an die Schwester Ulrike vom 5. Februar 1801 spricht, als sprachliche Bruchstücke der Suche Kleists nach Sinn und Orientierung in einer Zeit, die er als eine solche der Krise der Repräsentation und der Orientierungslosigkeit empfand. Kleists "zerrissene Bruchstücke" stehen merkwürdig quer zu jenen "Bruchstücken einer großen Konfession", als die Goethe seine Lyrik definierte. Daher überrascht es auch nicht, dass die erste Reihe der Epigramme nicht nur der teilweise sarkastischen Verteidigung eigener Werke gegen die zeitgenössische Literaturkritik dienen, deren unangemessene Reaktion auf das Heftigste beklagt wird, sondern auch als Ausdruck agonalen Denkens. Die Spitzenstellung des Goethe-Epigramms ("Herr von Göthe") erklärt sich dementsprechend nicht allein aus Kleists nachhaltiger Verärgerung über Goethes missglückte Aufführung des "Zerbrochnen Krugs" am 2. März 1808 in Weimar, über dessen Weigerung, am "Phöbus" mitzuarbeiten und über dessen recht distanzierte Äußerungen über die "Penthesilea", sondern mehr noch aus Kleists Verlangen, mit dem größten Dichter seiner Zeit in einen Wettkampf zu treten.

Das wird etwa in der um die Jahreswende 1807/1808 verfassten Ankündigung des "Phöbus" deutlich, in der Sätze stehen, die klar gegen Goethe gerichtet sind: "Die Kunst, in dem Bestreben recht vieler gleichgesinnter, wenn auch noch so verschieden gestalteter Deutschen darzustellen, ist dem Charakter unserer Nation angemessener, als wenn wir die Künstler und Kunstkritiker unsrer Zeit in einförmiger Symmetrie und im ruhigen Besitz um irgend einen Gipfel noch so herrlicher Schönheit versammeln möchten". Kleists ironische Anspielung, man wolle Künstler und Kritiker nicht "im ruhigen Besitz um irgend einen Gipfel noch so herrlicher Schönheit versammeln", erinnert, wie bereits Katharina Mommsen herausgearbeitet hat, an einen Satz aus der Einleitung zu Goethes eigenem Zeitschriften-Projekt, den "Propyläen" (1798-1800), wo es heißt: "Der echte gesetzgebende Künstler strebt nach Kunstwahrheit, der gesetzlose, der einem blinden Trieb folgt, nach Naturwirklichkeit; durch jenen wird die Kunst zum höchsten Gipfel, durch diesen auf ihre niedrigste Stufe gebracht". Eine ähnliche, nur noch größere Härte lag in der von Kleist gleichfalls ironisch formulierten Ablehnung "einförmiger Symmetrie" innerhalb jenes Passus der "Phöbus"-Ankündigung. Goethes in den "Propyläen" erschienener Aufsatz "Über Laokoon", eine Reprise auf Lessings berühmte kunsttheoretische Abhandlung von 1766, enthielt ein begeistertes Loblied der "Symmetrie", mit der die antiken Künstler, "entfernt von dem modernen Wahne", ihren Werken vorbildlich "sinnliche Schönheit oder Anmut" verliehen.

Diesen Beobachtungen korrespondieren Roland Reuß' scharfsinnige Überlegungen in Heft 17 der "Brandenburger Kleist-Blätter" zu Goethes Gedicht "Über allen Gipfeln", das der Dichter erst 1815, mehr als dreißig Jahre nach seiner Entstehung am 6. September 1780, in seine Gesammelten Werke unter dem Titel "Ein gleiches" aufgenommen hat ("Über allen Gipfeln / Ist Ruh', / In allen Wipfeln / Spürest Du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur! Balde / Ruhest du auch.") und Kleists im vorliegenden Band der BKA erstmalig im Rahmen einer Ausgabe der Gedichte publiziertem Gegengedicht "Unter allen Zweigen ist Ruh": "Unter allen Zweigen ist Ruh, / In allen Wipfeln hörest du / Keinen Laut. / Die Vögelein schlafen im Walde, / Warte nur, balde / Schläfest du auch." Interessant ist, dass die Reprise Kleists fixiert war, bevor Goethes Gedicht autorisiert im Druck erschien, und dass sie nach der Umstellung der Kleist'schen Schrift im Sommer 1805 niedergeschrieben wurde. Die Kleist- und Goethe-Forschung kam nach dem Auftauchen des Manuskriptzettels rasch zu dem Ergebnis, Kleist verdanke seine Kenntnis des Goethe'schen Gedichts einem anonymen Artikel, der im Jahre 1803 in der von August von Kotzebue herausgegebenen Zeitschrift "Der Freimüthige, oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser" erschienen war. Bei der Suche nach der möglichen Quelle von Kleists Niederschrift ist man nun allerdings fündig geworden. Reuß lokalisiert (wie im Übrigen auch, ohne auf Reuß zu verweisen, Wulf Segebrecht in einem Artikel für die F.A.Z. vom 5. September 2005) den Publikationsort in der 1800 unter dem Titel "Bemerkungen über Weimar" in drei Lieferungen in der von August Hennings herausgegebenen Zeitschrift "Genius der Zeit". Im Neunten Stück des Jahres (September 1800) finden sich Goethes Verse inklusive der Fehlinformation, "seine Iphigenie entstand in einem nahe an Weimar gelegenen Walde". Diese Mitteilung nun liegt dem Text zugrunde, den Kotzebue 1803 im "Freimüthigen" in einer Übersetzung aus der englischen Zeitschrift "The Monthly Magazine" veröffentlichte, wo er bereits 1801 erschienen war. Der bislang unbekannte Autor des vom "Monthly Magazine" übersetzten Artikels war der Schriftsteller und antiidealistische Philosoph Joseph Rückert, wie aus Isaak von Gernings Brief vom 13. Dezember 1800 an Hennings hervorgeht.

Von einiger Wichtigkeit ist zudem die sich zwangsläufig anschließende Frage, ob es sich bei dem Text, den sich Kleist auf dem Zettel notiert hat, um eine weitere Kontrafaktur, möglicherweise gar eine Polemik gegen Goethe oder nur um eine einfache, das 'Original' unabsichtlich verändernde Notiz handelte. Reuß bemerkt in diesem Zusammenhang völlig zu Recht, dass in Kleists Text mitsamt seiner Ent-Stellungen "eine metaliterarische Ebene eingezogen [wird], d.h. die Verse sprechen mittels einer Transformation ihrer Vorlage zum Autor ebendieser Vorlage". Ähnlich wie die Korrespondenz der Ankündigung des "Phöbus" mit derjenigen der "Propyläen" lässt sich die Verwendung des Pronomens "du" in Kleists Par-Odie auf Goethes Gedicht primär in ihrer dialogischen Ausrichtung auf Goethe hin lesen. Der Blick auf die "Zweige" bei Kleist parodiert die "Gipfel"-Ausrichtung bei Goethe; nimmt man die Bedeutung des Wortes "Zweig" bei Adelung hinzu, das sich "von Zwey" ableitet, "weil sich da, wo der Zweig abgehet, der Stamm oder Ast gleichsam in zwey Theile theilet", so richtet sich, wie Reuß unterstreicht, "[v]on dieser Auflösung, Dissoziation aus [...] die Wahrnehmung des poetischen Ich auf das, was dieser noch zugrunde liegt, scheinbar den Boden der Erde, indem dieser aber nicht eigens genannt wird, den Abgrund alles Irdischen" - Einheit und Symmetrie versus Auflösung und Abgrund. Aus seiner Interpretation schließt Reuß, dass Kleists Gegengedicht in die Zeit der frühesten "Phöbus"-Epigramme zu legen ist (April und Mai 1808). Die Nähe zum Prolog der ersten Reihe von Epigrammen ("Herr von Göthe") ist in der Tat nicht zu übersehen. Dort deutet Kleist Goethes Beschäftigung mit der Farbenlehre als Zeichen der Abschwächung und Mäßigung des ehemals jugendlichen poetischen Impetus. Mit den Worten Reuß': "Goethe als Dichter, das liegt für ihn weit zurück. Jetzt, wo der Tod näher rückt, im Alter, ist der ursprüngliche Zauber der Bündelung und Synthesis erloschen; die Tätigkeit, die er gerade noch so ausüben kann, beschränkt sich auf das triste Geschäft einer Entzwei(g)ung, Zerlegung: 'Siehe, das nenn' ich doch würdig, fürwahr, sich im Alter beschäft'gen! / Er zerlegt jetzt den Strahl, den seine Jugend sonst warf.'".

Liest man mit Reuß in der Schlusswendung von Kleists Gedicht - "Warte nur, balde / Schläfest du auch" - eine manifeste Todesdrohung gegen das literarische Vor-Bild, so gelangt man unweigerlich zum 2. Heft des "Phöbus", dem ein durchaus 'sprechendes' Kupfer beigegeben war: Dargestellt ist dort der junge Kimon am Leichnam seines Vaters Miltiades, im Augenblick, da er dessen (schwere) Nachfolge antritt. Der berühmte Nachfolger des berühmten Vorfahren: Das Bild scheint auf die Beziehung Kleist-Goethe durchaus applizierbar. Erst recht, wenn man im Auge behält, dass Kleist martialische Bilder wählt, um seine agonale Denkweise zum Ausdruck zu bringen. In der bereits erwähnten "Phöbus"-Ankündigung spricht Kleist wiederholt von der Eröffnung eines Kampfplatzes, den er sich in schwerer Bewaffnung betreten sieht: "Wir selbst wissen unsere Arbeiten an keinen ehrenvolleren Platz zu stellen, als neben andere eigentümliche und strenge; Ansichten und Werke können sehr wohl miteinander streiten, ohne sich gegenseitig aufzuheben. Aber wie wir selbst bewaffnet sind, werden wir keinen anderen Unbewaffneten oder auch nur Leichtbewaffneten auf dem Kampfplatz, den wir hierdurch eröffnen, neben uns leiden. Große Autoren von längst begründetem Ruhm werden mit uns sein". Diesen Gedanken entspricht der "Phöbus"-Umschlag, der auf der Rückseite einen Kupferstich von Johann Christian Benjamin Gottschick zeigt; zur Darstellung gelangt sind hier die Attribute des Phöbus Apollon: die Leier über Köcher mit Pfeilen und Bogen, alles umgeben von einem Lorbeerkranz. Evident ist die Hervorhebung der kriegerischen Seite Apollons. Auf dem Kupfer nehmen die martialischen Attribute besonders großen Raum ein; spürbar wird, welch beträchtliche Un-Ruhe Köcher, Pfeil und Bogen in Verbindung mit der Leier bringen: Dichtung als agonale Un-Ruhe, als Kontrafaktur Goethischer Ruhe.

Programmatischen Charakter hat selbstredend auch die Publikation des "Organischen Fragments" aus der "Penthesilea" im ersten Heft des "Phöbus", das bereits die charakteristischen Szenen von Streit und Wettkampf zweier so verschiedenartiger, aber an Kraft und Ruhm ebenbürtiger Gegner (Achilles und Penthesilea) brachte. Die "Penthesilea" ist nicht nur eine kreative intertextuelle Antiken-bricolage mit einer Re-Vision des antiken "Theaters der Grausamkeit" (Artaud), sondern auch eine programmatische Kampfansage an den Klassizismus von Weimar, eine "Anti-Iphigenie" par excellence. Kleists Figur der Amazonenkönigin ist im genauen Gegenentwurf zu Goethes Dianapriesterin konzipiert, die sich ihrerseits an mehreren Stellen des Goethe'schen Dramas expressis verbis zur Anti-Amazone stilisiert hatte. Kleists gesamtes Trauerspiel in seinem hochdramatischen Furor, seinen extremen Triebenergien zielt also auf die radikale Inversion und Kontrafaktur von Goethes Drama in seiner 'ruhigen' und humanen Serenität: die Macht der irrationalen Triebe und Instinkte, der erotischen Leidenschaft und des sexuellen Begehrens replizieren auf das aufklärerisch-humanistische Vernunftideal des Goethe'schen Dramas mit der Provokation einer neuen, nachidealistisch-skeptischen Anthropologie.

Orchestriert wird Kleists Per-Version der rationalen Fähigkeiten der Vernunft und Sprachfähigkeit von den "Penthesilea"-Epigrammen im "Phöbus". So galt bereits das neunte Epigramm der ersten Reihe ("Der Theater-Bearbeiter der Penthesilea": "Nur die Meute, fürcht' ich, die wird in W ... mit Glück nicht / Heulen, Lieber; den Lärm setz' ich, vergönn', in Musik") als Anspielung auf Goethe, da mit "W ..." in der ersten Zeile unverkennbar Weimar gemeint ist. Die Worte des Distichons sind Goethe in den Mund gelegt; ausgegangen wird von der Fiktion, Goethe hätte damals beabsichtigt, die "Penthesilea" in Weimar zu inszenieren, was nicht der Fall war. Kleist gibt allerdings zu verstehen, dass sein Trauerspiel durch eine Theater-Bearbeitung Goethes in ähnlicher Weise "zerlegt" worden wäre wie der "Zerbrochne Krug", den Goethe in drei Akte aufteilte, was zwei Pausen zur Folge hatte und den Misserfolg möglicherweise mitverursachte. An den Hundemeuten mit ihrem "gräßlichen Geheul", die am Schluss des Trauerspiels eine so große Rolle spielten, hätte Goethe Anstoß genommen. Die Wendung, dass er diesen "Lärm" dann "in Musik gesetzt hätte" (Penthesilea versus Iphigenie!) imaginiert eine zum Scheitern verurteilte Aufführung. Nimmt man all dies zusammen, bleibt es eines der großen Rätsel der deutschen Literaturgeschichte, wie Kleist allen Ernstes auf den Gedanken verfallen konnte, sein schockierendes Drama zur Begutachtung ausgerechnet an den Weimarer Antipoden zu schicken, es dem Autor der "Iphigenie" "auf den Knieen meines Herzens" (Kleist an Goethe, 24. Januar 1808) darzubringen als "dem einzigen Richter, auf dessen Urteil es ihm ankömmt" (Adam Müller an Goethe, 17. Dezember 1807).

Nimmt man alle diese Beobachtungen zusammen, so wird deutlich, dass die Gedichte Kleists, vor allem die "Phöbus"-Epigramme, zu Unrecht zu den weithin vergessenen Texten in der deutschen Literatur gehören, gewähren sie doch (mindestens) als Kon-Texte der Dramen und Erzählungen ausgesprochen interessante Neu-Einblicke. Die von Staengle und Reuß einmal mehr hervorragend edierten und mit großem ästhetischen Gespür komponierten Texte laden vehement zu einer Re-Lektüre von Kleists Lyrik ein. Wenn nicht mit Hilfe dieser einzigartigen textkritischen Kleist-Ausgabe, mit welcher sonst?


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Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Band III: Sämtliche Gedichte - 2 Bände. Im Anhang: Brandenburger Kleist-Blätter 17.
Herausgegeben von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
362 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 387877737X

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