Bohemian Rhapsody im Hinterzimmer

Diederich Diederichsens gesammelte Kolumnen sind mehr als nur Millieu-Verständigung

Von Christian WerthschulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Werthschulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine überraschend beliebte Konversationsgelegenheit in meinem politisch einigermaßen gebildeten Bekanntenkreis stellte die letzte Bundestagswahl dar. Zwar schien allgemeiner Konsens, dass auf das kleinere Übel jetzt das Größere folgen würde, aber nicht die "Niederungen der Parteipolitik", wie es in mit kulturellem Kapital gut ausgestatteten Kreisen gerne heißt, waren Anlass der Empörung, sondern die Wahlempfehlung von Ulf Poschardt, ehemals Chefredakteur des SZ-Magazins und selbsttitulierter Ex-Linker. Dieser sprach sich begeistert für das Kreuz mit den Freien Demokraten aus, weil nur diese den nötigen Nonkonformismus vertreten würden, der dem Pop erst seine Legitimation verleiht. Begleitet wurde diese reichlich absurde Vorstellung von einer nicht besonders innovativen Klärung der Schuldfrage: Linke Lehrer und Professoren halten das Land politisch unter der Knute und ästhetisch bei der Sandale. Zum Zwecke allgemeiner Besserung der Lage müsse Deutschland schöner, seine Bevölkerung flexibler und seine Leistungsträger besser entlohnt werden, eine Programmatik, die Andreas Fanizideh zutreffenderweise als das "Lala-Land der Neocons" bezeichnete.

Relativ spät in dieser Debatte kam der klärende Beitrag von Diedrich Diederichsen, der Poschardt vorwarf, aus der Not eine Tugend gemacht zu haben: uneingeschränktes Gutfinden einer eigentlich unerträglichen Gegenwart nur um des Gutfindens der Gegenwart willen, dabei den utopischen Gehalt von Pop mit seiner dystopischen Realisierung verwechselnd. Ein vollkommen richtiges Argument in einer leider wenig beachteten und politisch vermutlich folgenlosen Diskussion, die dennoch ein Licht darauf wirft, wie nach der zu parlamentarischem Ruhm gelangten Auseinandersetzung um eine nationalistische Quotierung des Rundfunks ein breiter Teil des Kulturbetriebs organisch mit dem politischen Zeitgeist verwachsen ist.

Dass Pop nicht gleich Populismus bedeutet, sondern eher einem "Treibhaus, in dem das Versprechen über der Tür hängt, eine Position sei folgenreich - und nicht nur lukrativ" -, ähnele, stellt dagegen Diederichsen eindrucksvoll in seinem neuen Buch "Musikzimmer" klar. Dem aufmerksamen Fan wird der Großteil der Texte bekannt vorkommen, handelt es sich doch um eine Zusammenstellung von Kolumnen aus dem "Berliner Tagesspiegel", ergänzt um ein lesenswertes Vorwort. Dies erklärt auch den fragmentarischen Charakter des Buchs, das zwischen Kommentar zum Tagesgeschehen des Kulturbetriebs und dringend notwendiger Aufklärung in Sachen unentdeckter Versprechen schwankt. Gekonnt werden bespielsweise die Geräuschmusik-Improvisationen von Otomo Yoshihide mit Bob Dylans Selbstbeschreibung des musikalischen Ideals als "electronic grid" hin zur Übersetzung als "elektronische Grütze" durch einen SZ-Journalisten verknüpft. Gleichfalls erheiternd ist die Anekdote über Joni Mitchell, die den Fernsehsender MTV für das Verhalten ihrer dreijährigen Nichte, die sich vor ihren Augen in den Schritt griff, verantwortlich machte. Nun wäre es aber verkehrt, die versammelten Artikel als Geschichtenreservoir für den samstäglichen Partygebrauch abzutun, zeugen doch die beachtlichen 20 Seiten, auf denen Diederichsen die erwähnten Tonträger und Bücher auflistet, von der langwierigen aber nicht langweiligen Auseinandersetzung mit Popmusik und ihren Konsequenzen, die den Texten innewohnt.

Diese Konsequenzen scheinen es zu sein, die Pop in erster Linie von einer durchaus erträglichen "Welt, in der sich Teenager-Wahnsinn und Künstler-Extremismus begegnen konnten" zu einer No-Go Area verändert haben, und so wundert es auch nicht, wenn der Untertitel des Buches "Avantgarde und Alltag" lautet. Nach der Öffnung für interessante Gegenwartsphänomene in den mittleren und späten 90ern scheint nämlich nicht nur die Berichterstattung über Popmusik in den Feuilletons der großen Tageszeitungen wieder auf konventionellere Formen des Journalismus wie das Jubilieren des Geburtstags ergrauter Rockgrößen und ihrer neuen Auswürfe ausgewichen zu sein, auch Popmusik selbst zeichnet sich durch ein wenig originelles Recyclen des eigenen Zeichenmülls aus: "Wenn Pop nicht mehr half, konnte vielleicht die Avantgarde helfen. Die wollte zwar nicht mehr ins Leben und war längst zufrieden, in der Kunst zu wirken. Aber wenigstens ist Avantgarde-Musik als Kunst nicht so langweilig wie eine Pop-Musik, die nichts mehr versprechen kann. Natürlich hat aber andererseits niemand, der je in sie investierte, die Hoffnung auf Pop-Musik ganz aufgegeben."

Und angesichts der hier besprochenen Künstler braucht das auch niemand zu tun, deshalb für den kaufunwilligen Leser eine repräsentative Auswahl: Ekkehard Ehlers, Animal Collective, Cornelius Cardew, Luc Ferrari, Cher, No Neck Blues Band, John Fahey, Akira Rabelais, Annette Peacock, Vibracathedral Orchestra und Arnold Schönberg. Es ist also leicht ersichtlich, dass sich die musikalische Bandbreite der im "Musikzimmer" vertretenen KünstlerInnen nur schwer in Worte fassen lässt. Diederichsen gelingt es trotzdem unbeschadet: "Animal Collective verblüffen über die bloße Breite dessen, was geht. Wenn man eine gewisse Ruhe weg hat, die zugleich ins Hypnotische lappt: langes zauselig entrücktes Spielen, mit elektronischen und wie akustischen, stets sehr liebevoll ausgesuchten Klangkörpern, deren Bestandteile nicht brüllend mitteilen müssen, wo genau sie originellerweise herkommen und wie geil sie zitiert sind."

Schön, wie sich hier die musikalische Akkuratesse in der sprachlichen widerspiegelt, doch auch die weniger auf Popmusik als ihre leider meistens wenig begeisternden Begleiterscheinungen in Film, Funk, Fernsehen und Feuilleton ausgerichteten Beiträge verfehlen ihre Wirkung nicht: "Wir Feuilletonisten kennen das Leben, wir sind im Kino gewesen: Das Pop-Business ist shady, und das ist gut so. Dicke Zigarren, Ernest-Bornegine-Gesichter und Hinterzimmer. Staatliche Gremien und Fördermittel wären der prosaischste Tod jeder Poesie eines schön schlimmen Millieus und schwitzig schöner Projektionen, die sich eine Pop-Musik wünschen, die riecht wie Joe Cocker am Morgen danach. Nicht gut", kommentiert Diederichsen eine Bitte der SZ, doch bitte öffentliche Fördermittel und Pop-Musik getrennt zu belassen. Hier zeigt sich eine bislang unbekannte Facette des bislang eher durch Materialkenntnis überzeugenden Kritikers, nämlich seine unverhüllte Forderung nach sozialdemokratischer Förderung. Ob dies der Prekarität der Berliner Kulturpolitik geschuldet ist oder einem Wandel der politischen Position, sei dahingestellt. Interessant ist es trotzdem, denn an dieser Stelle zeigt sich deutlich die Abhängigkeit der hier vorgestellten künstlerischen Entwürfe, ein "Brain Drain, der Pop-Musiker zwingt, aus ökonomischen Gründen Kompromisse mit Bildender Kunst oder Universität zu schließen, obwohl das kulturelle Millieu, mit dem sie produktiv im Gespräch sind, das der Pop-Musik, der Clubs und des Nachtlebens ist."

Der Lektüre dieses liebevoll kompilierten Bands schadet er jedoch nicht, und wenn sich Diederichsen nicht ausdrücklich gegen einen Journalismus aussprechen würde, der lediglich die Frage der Kaufentscheidung beantwortet, es wäre ein Leichtes, dieses Buch zu empfehlen. So bleibt lediglich der Hinweis darauf, dass das "Musikzimmer" auch eineinhalb Jahre nach seiner Schließung ein sehr geeigneter Ort ist, kenntnisreich über avancierte Pop-Musik parlieren zu können, auch und gerade als Nicht-Berliner.


Titelbild

Diedrich Diederichsen: Musikzimmer. Avantgarde und Alltag.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
239 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3462036440

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