Literary recycling

Für Bernd Seidensticker gilt die Antike als ein konstitutiver Teil der Moderne

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem 1943 veröffentlichten Essay "Der Mythos von Sisyphos" sucht Albert Camus eine Methode herauszuarbeiten, wie man sich einer Situation stellen kann, in der der Welt jeder Sinn entzogen ist. Camus' Text bietet eine "strahlende Einladung, mitten in der Einöde zu leben und zu schaffen". Denn so sah Camus die Welt, als eine "Wüste", in der die Religion ihre Grundlage verloren hat und die Wissenschaft keinen Einblick in die tiefe spirituelle Krise bietet, die die Angehörigen seiner Generation durchlebten. "Ich begreife: wenn ich die Erscheinungen wissenschaftlich fassen und aufzählen kann, dann kann ich damit noch nicht die Welt einfangen", schreibt Camus. Jedes Absolutum ist zerschlagen worden, und selbst die Philosophie muss jeden systematischen Anspruch auf "Wahrheit" aufgeben. Die Bedeutung ist verloren gegangen, und ein Gefühl unheilbarer Verzweiflung stellt sich ein, mit anderen Worten: Das Leben wird "absurd".

Ganz nebenbei hat erst Camus' Text den Sisyphos-Mythos revitalisiert, der viele Jahrhunderte hindurch relativ wenig Beachtung gefunden hat. Viele Legenden umgeben seither diesen Arbeiter aus der Unterwelt, der von Zeus auf ewig dazu verurteilt ist, einen riesigen Felsbrocken einen Berg hinaufzurollen, ihn im letzten Augenblick wieder hinabrollen zu sehen und wieder von vorn beginnen zu müssen. Ob dies die Strafe für Gotteslästerung war, dafür, dass er den Tod zu betrügen versuchte, oder für seine Liebe zu anderen menschlichen Wesen auf Kosten der Götter, spielt kaum eine Rolle. Er steht für den absurden Helden schlechthin. Er erreicht nichts; er erhält keine Belohnung; er ist allein und spiegelt damit die fundamentale Unbehaustheit des modernen Individuums. Camus "interessiert Sisyphos auf dem Rückweg. [...] Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schritts zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels".

Sisyphos verbleibt nur der Augenblick des Bewusstseins, wenn er zusieht, wie der Felsbrocken den Berg wieder hinunterrollt, und feststellt, dass ihm alleine das Widerstehen gegen jegliche Hoffnung eine Überlegenheit gegenüber seinem Schicksal verleiht: "Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er während des Abstiegs nach. Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. [...] Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Bergs. Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Größe leugnet und die Steine wälzt. Der Kampf gegen Gipfel kann ein Menschenherz ausfüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen". Für Camus bringt das Absurde einen Impuls zur Selbstzerstörung hervor, und als Antwort darauf ergibt sich die Notwendigkeit, eine bestimmte Haltung zum Leben einzunehmen. Diese Verpflichtung exemplifiziert Sisyphos. Sie wird apodiktisch übernommen, das heißt jeder empirischen Erfahrung und jedem rationalen Argument vorgreifend, sodass der Interpretation der Existenz hinsichtlich einer vorgängigen, persönlichen Moral Raum gelassen wird.

Bernd Seidensticker erinnert in einem Beitrag zu dem von ihm gemeinsam mit Walter Jens herausgegebenen Sammelband "Ferne und Nähe der Antike" anhand des Steinwälzers Sisyphos und der Arbeit an der Mythen-Textur bei Camus an die starke Präsenz des Mythos in ganz unterschiedlichen Bereichen der Kultur. Seidensticker unterstreicht mit einigem Recht, dass die evidente "Gegenwart des Mythos" Teil eines Gesamtphänomens "Gegenwart der Antike" ist: "Überall finden sich Anspielungen und Zitate, Bearbeitungen und Metamorphosen, auch aus den Bereichen Sprache, Geschichte, Kunst und Literatur. Vor allem aber sind es die Gestalten und Geschichten des griechischen Mythos, die weiterleben: die olympischen Göttinnen und Götter und die archetypischen Sinnbilder der menschlichen Existenz wie: Prometheus und Herakles, Orpheus und Odysseus, Niobe und Kassandra, Antigone und Medea, Ikaros und Sisyphos".

An allen Um-Schriften der mythischen Figuren sind jedoch schon früh Tendenzen der "bricolage" (Claude Lévi-Strauss) bzw. einer radikalen Reduktion festzustellen. So ist für die moderne Arbeit am Sisyphos-Mythos zu konstatieren, dass nicht dessen Streit mit Zeus, nicht die Begegnung mit Autolykos und auch nicht die doppelte Überlistung des Todes, sondern ausschließlich das böse Ende des so lange Erfolgreichen rezipiert wird: die Bestrafung des Sisyphos, wie sie Odysseus in der Unterweltszene der Homerischen Odyssee beobachtet und beschreibt. Doch bedeuten diese Komprimierungen nicht, wie Seidensticker hervorhebt, Verarmung, sondern Polyvalenz: "Die entstandenen Chiffren sind [...] offen für immer neue Variationen mit immer neuen Bedeutungen und Wertungen". Daher ist "auch die Chiffre Sisyphos in immer neuen Kontexten und mit immer neuen Interpretationen für politische und gesellschaftliche, für philosophische und poetologische Fragestellungen fruchtbar gemacht" worden. Die Lebendigkeit ergibt sich aus ihrer Relevanz für die kulturelle Gegenwart des Um-Schreibenden oder, wie Bertolt Brecht in seinen Reflexionen "Wie soll man heute Klassiker spielen?" ausführt, aus ihrem "Materialwert" für die Beschreibung und Deutung zentraler Fragen der jeweiligen Gegenwart. In häufig direkter Auseinandersetzung mit Camus haben Philosophen und Psychologen, Anthropologen und Politologen Sisyphos als Modell für Überlegungen und Thesen zur Existenz des Menschen genutzt. Interessant sind vor allem die immer neuen Variationen, die Künstler und Literaten am Mythos Sisyphos bzw. an seiner Um-Schrift bei Camus herausarbeiten.

Das hier zu beobachtende literary recycling zwischen kanonischen Mythen-Texturen und ihren modernen Retraktationen und Metamorphosen wirft auch einen bezeichnenden Blick auf das Feld der Antike-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart, das Seidensticker schon seit einigen Jahren ausgesprochen erfolgreich kartiert hat. Bereits in seinem Aufsatz "Antikerezeption in der deutschsprachigen Literatur nach 1945" hat Seidensticker festgestellt, dass in der Literatur der alten Bundesrepublik (sowie in Österreich und der Schweiz) der antike Mythos (wie auch die Antike insgesamt) lange Zeit eine eher marginale Rolle spielte, wobei die Gründe nicht einfach zu bestimmen sind. Seidensticker verweist auf drei mögliche Antworten: Es könnte erstens daran gelegen haben, dass es "im Westen keine so beherrschende Vaterfigur wie Brecht gab, die mit ihrem Beispiel der Antikerezeption den folgenden Generationen Anregung und Rechtfertigung zugleich hätte liefern können"; denkbar wäre zweitens auch die Richtigkeit der These von Peter Hacks, derzufolge "die unbedingte Originalitätssucht und der allgemeine Traditionsverlust der westlichen Moderne verantwortlich oder doch mitverantwortlich" dafür seien, dass "die jahrhundertealte Kontinuität der Antikerezeption gestört erscheint"; schließlich führt Seidensticker noch die Vermutung Karl-Heinz Bohrers an, der im Zusammenhang mit dem nachhaltigen Schock, den die Verführbarkeit und die Verfügbarkeit des Humanismus durch die nationalsozialistische Ideologie auslöste, von einem "Mythosverbot" der westlichen Intelligenz sprach. Für Bohrers Annahme spricht immerhin, dass sich das Bild in den letzten beiden Jahrzehnten doch erheblich verschoben hat, denkt man etwa an Ransmayrs Bestseller "Die letzte Welt", an Nadolnys Hermes-Roman "Der Gott der Diebe", an Köhlmeiers noch nicht abgeschlossene Odysseus-Tetralogie oder auch an Handke und Strauß, die sich in vielen ihrer Texte intensiv mit antiken Mythen beschäftigt haben. Möglicherweise liegt es aber auch daran, dass mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auch die wesentlich reichere Rezeption der Antike in der ehemaligen DDR adaptiert wurde. In diesem Kontext ist vor allem an Heiner Müllers lebenslange Auseinandersetzung mit griechischen Texten zu erinnern, an die intensive Antike-Rezeption auch bei Peter Hacks, Franz Fühmann, Günter Kunert, Karl Mickel, Christa Wolf und Volker Braun, Hartmut Lange und Stefan Schütz, Jochen Berg und Durs Grünbein.

Der von Michael Theunissen geäußerte Gedanke, "daß die Moderne sich selbst nur richtig verstehen kann, wenn sie sich aus der Antike versteht", scheint sich an der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur der letzten Jahre zu bestätigen. Aber auch umgekehrt wird die 'Antike', wie Antje Wessels zu Recht unterstreicht, immer wieder neu von der Moderne und ihren Lesarten bestimmt und geprägt: "Wenn antike Ideen oder literarische Texte, Stoffe und Figuren, Orte und Geschehnisse in modernen Kontexten weiterleben, so bedeutet das immer auch - neben der vielbeschworenen 'Lebendigkeit der Antike' -, daß der Autor sein individuelles und gesellschaftlich bestimmtes Antikebild dem Leser vermittelt". Damit einher geht eine deutlich zu erkennende Präsenz und Bedeutung des Mythos in der Gegenwartskultur, zu dessen Rehabilitation nach 1945 ganz verschiedene Wissenschaften beigetragen haben: Ethnologie und Anthropologie ebenso wie Psychoanalyse und Religionswissenschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft. In erster Linie ist es aber der Kunst und Literatur zu verdanken, dass das mythische Denken nicht als Ausdruck primitiver Irrationalität (miss-)verstanden wird, sondern als artifizielle Diskursform, die Realität zu ordnen, zu verstehen und zu erklären. Die Untersuchung des literary recycling antiker Mythen in der Gegenwartsliteratur vermag daher einen wesentlichen Einblick in das Verständnis der (Post-)Moderne und zur Erhellung ihrer ästhetischen, literarischen und dramatischen Physiognomie im Spannungsfeld von Traditionalität und Innovation, Kanonreferenz und anxiety of influence zu geben. Bernd Seidenstickers Arbeiten ist diesbezüglich vieles zu verdanken.


Titelbild

Bernd Seidensticker: "Erinnern wird sich wohl noch mancher an uns ...". Studien zur Antikerezeption nach 1945.
Herausgegeben von Friedrich Maier, zusammengestellt von Antje Wessels.
C. C. Buchner, Bamberg 2003.
160 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3766154524

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Walter Jens / Bernd Seidensticker (Hg.): Ferne und Nähe der Antike. Beiträge zu den Künsten und Wissenschaften der Moderne.
De Gruyter, Berlin 2003.
287 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-10: 3110172380

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