Ludwig Klages und Sigmund Freud

Ein Seitenstück zur 'Jung-Krise'

Von Wolfgang MartynkewiczRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Martynkewicz

Im Jahre 1913 war das Verhältnis zwischen Freud und Jung hoffnungslos zerrüttet. In einem Brief an Jung vom 3. Januar hatte Freud vorgeschlagen, die "privaten Beziehungen" aufzugeben. Jung antwortete postwendend: "Ich werde mich Ihrem Wunsche, die persönliche Beziehung aufzugeben, fügen, denn ich dränge meine Freundschaft niemals auf. Im übrigen werden Sie wohl am besten selber wissen, was dieser Moment für Sie bedeutet. 'Der Rest ist Schweigen'." Die Korrespondenz beschränkte sich in den kommenden Monaten auf das Geschäftliche.

Es war eine Waffenruhe auf Zeit, die nur dazu dienen sollte, für das große Gefecht zwischen 'Wien' und 'Zürich' die Truppen zu ordnen und die Schlachtordnung festzulegen. Freud sieht den "Sturm", wie er am 30. Dezember 1912 an Ferenczi schreibt, unweigerlich auf sich zu kommen; ein Sturm, der von innen kommt, von den Analytikern selbst. Er rechnet in diesen Monaten mit dem Schlimmsten, einer feindlichen Übernahme des renommierten "Jahrbuches für psychopathologische und psychoanalytische Forschungen" durch Jung, der zu dieser Zeit noch Herausgeber der Publikation war. Vor allem aber befürchtet Freud den "Zusammenbruch der Organisation", der mühsam aufgebauten und zusammengehaltenen Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Jung war nach außen hin noch immer der von Freud inthronisierte Nachfolger, es gab vereinzelte Kritik, aber er saß als Präsident der Vereinigung anscheinend ziemlich fest im Sattel. Zumindest konnte Freud nicht so recht abschätzen, wie stark sein Rückhalt in der Organisation war, wer von den Analytikern - wenn es zum Treueschwur kommen sollte - hinter dem einstigen Kronprinzen stehen würde. Freud, der in der wechselvollen Geschichte der psychoanalytischen Bewegung immer mal wieder mit dem Untergang sympathisierte und zu heroischen Selbststilisierungen neigte, schreibt im Mai 1913 an Ferenczi: "Es ist ganz gut möglich, dass man uns diesmal wirklich begräbt, nachdem man uns so oft vergeblich das Grablied gesungen hat. An unserem Schicksal wird es viel ändern, an dem der Wissenschaft nichts. Wir sind im Besitz der Wahrheit; ich bin so sicher wie vor fünfzehn Jahren."

Ein merkwürdiger Brief

Während Jung im Juni 1913 in seiner Eigenschaft als Präsident der Vereinigung für den 7. und 8. September zum psychoanalytischen Kongress nach München einlädt, schickt Alphonse Maeder, Präsident der Züricher Ortsgruppe und ein enger Mitarbeiter Jungs, einen Brief an Sándor Ferenczi, der die Sache umgehend an Freud weiterleitet: "Hier eine neue, ganz verworrene Epistel Maeders. Ich glaube, dass es am besten wäre, auf die Einzelheiten seiner Auslassungen gar nicht einzugehen, sondern sich höflich - unter Wiederholung des schon Gesagten - zurückzuziehen. Ich bitte um Ihre Ansicht." Das Schreiben hat sich nicht erhalten, aber aus der Reaktion Freuds geht hervor, dass Maeder den Konflikt zwischen Wien und Zürich als Kampf zwischen Juden und Nichtjuden interpretierte. Die unterschiedlichen Anschauungen über Psychoanalyse seien letztendlich in einem nicht zu überwindenden 'rassischen' Gegensatz verwurzelt, den zwischen Semiten und Ariern. Die durch den semitischen Geist entwickelte Psychoanalyse führe in der Hand der Arier nicht nur zu einer anderen therapeutischen Praxis, sondern auch zu gänzlich anderen wissenschaftlichen Ergebnissen. Freud, der die Auseinandersetzung mit Jung vornehmlich als Vater-Sohn-Konflikt gedeutet wissen wollte, stand einer 'rassischen' Interpretation - wie sie insbesondere auch Karl Abraham um diese Zeit ins Spiel brachte - schroff ablehnend gegenüber. Eine solche Akzentuierung des Konflikts hätte womöglich eine Lawine ausgelöst, der Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Judentum war eine prekäre Geschichte, die Freud lieber unter dem Teppich halten wollte. Er sah sich in diesem Punkt in der Defensive und befürchtete, dass seine Entdeckungen am Ende zu einem Spezialfall des 'jüdischen Geistes' herabgestuft würden. Was die Züricher - und Jung insbesondere - auch immer an abweichenden Positionen geäußert hatten, Freud konnte es genauso hinnehmen wie die persönlichen Verletzungen und Enttäuschungen, mit der 'rassischen' Deutung des Konflikts, war jedoch für ihn eine Grenze überschritten - die Nerven lagen blank.

Noch ganz in Rage schreibt er sogleich an Ferenczi zurück: "Sie haben recht. Unsere lieben Schweizer sind meschugge geworden. Maeder hat das Dozierende wie Jung das Prahlerische. Für uns guter Anlass, sie zu 'behandeln'. Wenn Sie meinen Rat haben wollen, ich würde Maeder diesmal noch erwidern, unter Festhaltung Ihres angegebenen Grundtones. [...] Zum Semitism: Es gebe gewiß große Unterschiede vom arischen Geist. Wir überzeugten uns alle Tage davon. Daher werde es sicherlich hier und dort verschiedene Weltanschauungen und Kunst geben. Besondere arische oder jüdische Wissenschaft dürfe es aber nicht geben. Die Resultate müßten identische sein, und nur die Darstellung könnte variieren. [...] Gingen diese Differenzen in die Auffassung objektiver Verhältnisse in der Wissenschaft, so sei etwas nicht in Ordnung. Wir begehrten ihre entferntere Weltanschauung und Religion nicht zu stören, hielten aber unsere für ganz günstig, mit ihr Wissenschaft zu treiben."

Die Handschrift Sigmund Freuds: Alphonse Maeder konsultiert Ludwig Klages

Ob der Vorstoß Maeders mit der Züricher Ortsgruppe oder C. G. Jung abgesprochen war, ist nicht bekannt, er war aber - das lässt sich mit Bestimmtheit sagen - kein spontaner Einfall. Maeder hatte sich schon Jahre bevor der Konflikt ausbrach, in einer Zeit, als Jung noch als unangefochtene Lichtgestalt galt, mit der Frage beschäftigt, ob die Psychoanalyse nicht eine spezifisch jüdische Angelegenheit sei, die so nicht verallgemeinerbar ist. Im Jahre 1909/10 (der genaue Zeitpunkt lässt sich nicht feststellen) machte Maeder die Bekanntschaft mit dem Philosophen und Grafologen Ludwig Klages. Die Ansichten von Klages, denen Maeder zunächst durchaus abwartend und skeptisch gegenüberstand, haben ihn in der folgenden Zeit mehr und mehr beeindruckt. Klages Forschungen über den "hysterischen und jüdischen Charakter" und eine 1910 für Maeder angefertigte Analyse der Handschrift Freuds, wurden dann offenbar zur Initialzündung. Maeder - das geht aus einem Brief von Klages vom 7. Mai und dem Gutachten zur Handschrift Freuds vom 9. Mai 1910 hervor - hat dem Grafologen nicht nur Material und Literatur zur Psychoanalyse übermittelt, sondern ihm auch mehrere Schriftstücke Freuds (vermutlich an Maeder gerichtete Briefe oder Teile von Briefen) zur näheren Untersuchung überlassen.

Solche Expertisen in Auftrag zu geben, war damals - wir werden noch darauf zurückkommen - gar nicht so selten. Auch Freuds Handschrift ist in späteren Jahren des öfteren von Grafologen unter die Lupe genommen worden. Im Jahre 1950 widmet sich die Zeitschrift "Psyche" dem Thema. Unter der Überschrift "Die Handschrift Sigmund Freuds und das Problem der Graphologie" werden eine Analyse von Lucy Weizsäcker aus dem Jahre 1928 und zwei Deutungen von Max Pulver und Ania Teillard-Mendelssohn publiziert. Wie aus den einleitend dokumentierten Briefen Freuds an Viktor von Weizsäcker und dessen Cousine Lucy Weizsäcker hervorgeht, war Freud trotz der in diesem Fall sehr positiven Deutung und mehreren Bitten nicht bereit, einer Veröffentlichung zu Lebzeiten zuzustimmen: "[...] wenn Ihnen am Bekanntwerden der Schriftanalyse so viel gelegen ist, ein wenig Geduld! Ich bin 72 Jahre alt, von schlechter Gesundheit, glaube nicht an irgend eine Fortdauer des Persönlichen nach dem Tode und kann Ihnen darum versprechen, dass ich Sie nicht mit meinem Groll verfolgen werde, wenn Sie die Missetat nach meinem Ableben zur Ausführung bringen werden." Freud war, wie auch Viktor von Weizsäcker in seiner Vorbemerkung feststellt, sehr skeptisch, was den Wert der Grafologie angeht. Er attestierte Lucy Weizsäcker eine bewundernswerte "Kühnheit" und räumte ein, dass einige ihrer Aussagen "gewiss richtig" seien, doch dazu wäre, seiner Ansicht nach, nicht die Schriftdeutung vonnöten.

Für die Zunft der Grafologen blieb Freuds Handschrift ein dankbares Objekt, aus dem man viel heraus- und noch mehr hereindeuten konnte. Der Grafologe Fritz Schweighofer hat im Jahre 1976 eine umfassende Untersuchung zum Komplex "Psychoanalyse und Graphologie" vorgelegt. Schweighofer analysiert nicht nur die Handschrift Sigmund Freuds, sondern unterzieht gleich das gesamte Umfeld einer grafologischen Deutung: Er beginnt bei den Lehrern und Weggefährten Freuds, analysiert die Handschriften berühmter Fälle der Psychoanalyse (Anna O., der Wolfsmann, der kleine Hans) und widmet sich im Hauptteil ausgiebig dem Schülerkreis -: Die Schriftproben von Adler, Jung, Stekel, Rank, Ferenczi, Abraham, Eitingon, Lou Andreas-Salomé und vielen anderen aus der analytischen Zunft werden untersucht. Das Material stammt aus veröffentlichten Quellen oder ist von Archiven und Nachlassverwaltern zur Veröffentlichung freigegeben worden.

In der erstmals 1950 veröffentlichten Arbeit von Lucy Weizsäcker werden die zur Deutung herangezogenen Schriftproben nicht ausgewiesen, es heißt lediglich, sie würden alle aus den Jahren 1917 und 1918 stammen. Die Analyse von Ania Teillard-Mendelssohn bezieht sich auf einen Brief Freuds, den dieser am 18.1.1928 an Oskar Pfister schrieb und den die Redaktion der "Psyche" als Faksimile der Ausgabe beigeheftet hat. Sie vergleicht die Schrift mit einem "Vulkanausbruch" -: "eine geballte Masse hoher stachliger Zäune, undurchdringlich ineinander verhakte Zeilen, schwerer schwarzer Druck, nach oben, und besonders nach unten, vorstoßende Längen der mittleren Buchstaben." Diese Schrift sei völlig untypisch für einen Denker. Besonders charakteristisch sei die Rechtslage, die in Verbindung mit dem starken Druck und den schroffen Winkelformen einen "unaufhaltsamen Willen zu etwas" ausdrücken würde. Als weitere Merkmale verweist Ania Teillard-Mendelssohn auf die "Polarität" und die "ungewöhnliche Affektivität" dieser Schrift.


Teil eines Briefes von Freud an Oskar Pfister vom 18.1.1928 (aus: "Psyche", IV. Jg. (1950), H. 4)

Auch Max Pulver bezieht sich mit seiner Deutung auf diesen Brief, doch stößt man bei der Lektüre seiner Arbeit überraschenderweise noch auf eine ganz andere Quelle: "Ich besitze durch Güte des verstorbenen Prof. Bleuler, der mir Freuds Schrift zu experimentellen Zwecken vorlegte, einen halben Brief aus dem Jahre 26." Dieses Dokument kontrastiert Pulver mit dem Brief an Pfister, und er stellt fest, dass hier ein ganz 'anderer Freud' sichtbar würde. An Bleuler hätte Freud mit einer hellblau-dunkelblauen Tinte geschrieben: "Das gibt dem Dokument etwas Warmes, Verbindlicheres. Freud schließt sich hier einem alten Freund gegenüber auf."

Ich will an dieser Stelle die weitere Deutung von Pulver nicht referieren, sondern nur auf das bemerkenswerte Faktum hinweisen, dass der langjährige Direktor der Kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Burghölzli, Eugen Bleuler, einen Grafologen konsultiert, um Freuds Handschrift charakterologisch deuten zu lassen. Ebenso verfährt bereits 1910 der jüngere Kollege von Bleuler, Alphonse Maeder. Über die genauen Motive lässt sich nur spekulieren, vielleicht wollte er sich einfach informieren, was die Grafologie, anhand der Schriftproben, über Freuds Charakter herausbekommt. Den 'Vater der Psychoanalyse' zu analysieren, das haben so manche seiner Schüler versucht, einige (siehe C. G. Jung oder Otto Rank) sind dabei offen und direkt vorgegangen - die Folgen sind bekannt. Maeder wählte offenbar andere Wege, dass er aber Klages mit einem Gutachten betraut, lässt doch aufhorchen: Klages war damals Vorsitzender der Deutschen Grafologischen Gesellschaft und galt als einer der ehrgeizigsten und profiliertesten Vertreter der Grafologie, bekannt war aber auch seine antisemitische Einstellung.

'Kosmiker'-Streit und 'Jung-Krise'

Ludwig Klages lebte in München und hatte 1901 in Chemie promoviert. Das Studienfach hatte er nicht ganz freiwillig, sondern auf väterlichen Druck hin gewählt, seine Interessen und Neigungen lagen eher auf literarischem und philosophischem Gebiet. Noch während seiner Studienzeit kam Klages in Kontakt mit Stefan George, Karl Wolfskehl, Friedrich Huch und Ludwig Derleth. Mit Franziska Gräfin zu Reventlow hatte Klages eine heftige Liebesbeziehung -: Es war die Zeit der Schwabinger Boheme, der Klages mit einiger Reserve gegenüberstand. Prägend für Klages wurde die Bekanntschaft mit dem Privatgelehrten Alfred Schuler, ein Fundamentalist und Anti-Moderner, der spätrömische Welt- und Lebensanschauungen propagierte und der zurück wollte zu den heidnischen Ursprüngen und Mysterien. In den 1890er Jahren bildete sich um Klages, Schuler, Wolfskehl und George ein loser Zusammenschluss von Gleichgesinnten, die so genannte 'kosmische Runde'. In dieser Zeit entdeckten die Kosmiker die bereits 1861 erschienene Schrift über das "Mutterrecht" von Johann Jakob Bachofen. In dem Werk des Schweizer Historikers und Religionsgeschichtlers erkannte man die eigenen Positionen wieder, vor allem seine Kritik am abstrakt-geistigen, männlichen Prinzip, das, Bachofen zufolge, eine Ablösung vom Weiblich-Stofflichen darstellt und in der Neuzeit zu einer Verengung des Entwicklungsweges geführt habe, beeindruckte die Kosmiker. Aus dem Werk Bachofens leiteten sie eine Untergangsvision ab, die vom Ursprung abgelöste Moderne, so meinten sie, habe sich erschöpft und befinde sich im Zustand des Verfalls und der inneren Zersetzung.

Klages und Schuler haben eine bestimmte Variante dieser Untergangsvision vertreten, sie machten den Geist und das mechanistische, begriffliche Denken verantwortlich, insbesondere aber den 'jüdischen Geist' und den 'jüdischen Charakter'. Dies führte im Winter 1903/04 zum berühmt-berüchtigten Kosmiker-Streit, der mit einem Zerwürfnis endete: Klages forderte in dieser Auseinandersetzung von Stefan George, sich vom jüdischen Einfluss zu befreien, was unter anderem auf den Juden Karl Wolfskehl zielte: "Wolfskehl", schreibt Klages später, "war nicht sowohl Zionist als vielmehr ein Sendling des Zionismus oder was man heute den 'eingeweihten' Juden nennen würde". In dem schon eine ganze Weile schwelenden Konflikt zwischen George und Wolfskehl auf der einen und Klages und Schuler auf der anderen Seite standen zunächst inhaltliche Differenzen und persönliche Eitelkeiten im Vordergrund. Die unumschränkte Verehrung, die George entgegengebracht wurde, das Verhältnis von 'Meister' und 'Jünger', hat Klages heftig - aber erfolglos - kritisiert. 1903/04 setzt er dann auf eine andere Karte, er deutet den Konflikt als 'rassischen' Gegensatz, als Auseinandersetzung zwischen Juden und Ariern. Wir haben es hier also gewissermaßen mit einer ähnlichen Konfliktlage zu tun, wie zehn Jahre später bei der 'Jung-Krise' in der psychoanalytischen Bewegung. Klages sieht den Dichterkreis um George jüdisch unterwandert: es seien, sagt er später, vor allem "die Juden und Halbjuden" gewesen, die den Ruhm des 'Meisters' durch Führsprache und Gefolgschaft mehrten. [...] Von Juden oder Halbjuden ließ er [George] sich gern porträtieren; jüdische oder halbjüdische Häuser dienten ihm als Absteigequartiere in den Großstädten, die er als Werber seiner Verskunst besuchte [...]; sein pädagogisches Eros galt zumal jüdischen Jünglingen." 1903/04 appelliert Klages an den 'Arier' George, endlich Flagge zu zeigen und Ordnung in den eigenen Reihen zu schaffen - wozu dieser aber nicht bereit war.

Die Anfänge der wissenschaftlichen Grafologie

Nach dem Bruch mit George verabschiedete sich Klages von der Literatur, er wandte sich nun konsequent der Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Grafologie und einer allgemeinen Ausdruckswissenschaft zu. Bereits 1896 hatte er mit dem Philologen und Gelegenheitsschriftsteller Hans Hinrich Busse und dem Medizinstudenten Georg Meyer die Deutsche Grafologische Gesellschaft gegründet. Für die noch im Studium befindlichen Freunde, Klages und Meyer, war es zunächst vor allem auch ein attraktiver Nebenverdienst. Über die eingereichten Schriftstücke fertigten sie grafologische Essays in der französischen Tradition von Michons 'Zeichenlehre' an, für die sie vier Mark verlangten, grafologische Skizzen lieferten sie schon für zwei Mark, eine grafologische Biografie kostete 20 Mark. Einige Auftraggeber wollten ihre eigene Handschrift gedeutet haben, andere übermittelten Schriftstücke ihres Geschäftspartners, wieder andere trugen sich mit Heiratsabsichten und schickten Handschriftenproben ihrer Verlobten. Die Anwendungsgebiete waren vielfältig, die Nachfrage war groß und das Geschäft blühte. Schon bald traten die Grafologen auch als Gutachter vor Gericht auf und wurden Sachverständige in verwickelten Kriminalfällen.

Die Aufbruchstimmung unter den Grafologen um 1900 kann man mit den Gründerjahren der Psychoanalyse vergleichen. In den Anfangsjahren glaubte man sich im Besitz der Wahrheit und nahm im wilden Deutungsdrang alle nur auffindbaren Schriftproben unter die Lupe: Handschriften prominenter Persönlichkeiten wie (Napoleon, Beethoven, Bismarck), Dichterhandschriften (Goethe, Jean Paul und die Romantiker), aber auch die Schriftzeugnisse von Kriminellen, Alkoholikern, Epileptikern und Hypnotisierten wurden zur Untersuchung herangezogen.


Handschrift eines Hypnotisierten, der sich für Napoleon hält. (aus: Klages: "Die Probleme der Graphologie". 1910, S. 3).

Die Beziehung von Charakter und Handschrift, der Einfluss von Gefühlen und Stimmungen, die Bedeutung des Triebhaften, der Sexualität und des Hypnotismus oder auch geschlechtsspezifische Unterschiede, spielten von Anfang an in der Handschriftendeutung eine große Rolle. 1898 veröffentlichte Busse in den "Berichten der Deutschen graphologischen Gesellschaft" eine Untersuchung in mehreren Teilen über "Handschrift und Geschlecht". Grundsätzlich gibt es für Busse geschlechtsspezifische Unterschiede in der Handschrift, die männliche und weibliche Psyche fixieren sich auf je eigene Weise. Vor dem Hintergrund der Frauenemanzipation und der prekärwerdenden Geschlechterdifferenz um 1900, sieht Busse jedoch in den Handschriften eine zunehmende Nivellierung des geschlechtsspezifischen Ausdrucks: "Je mehr das weibliche Geschlecht sich männliches Denken und Wollen aneignet, umso schwieriger wird die Bestimmung des Geschlechts auf Grund der handschriftlich fixierten seelischen Eigenschaften, umgekehrt involviert künstlerische Tätigkeit bei den Männern eine Tendenz zu so genannten weiblichen Eigenschaften." Busse lässt den Vermutungen, die er in diesem Beitrag ausspricht, ein Jahr später eine konkrete Untersuchung folgen: "Deutsche Schriftstellerinnen der Gegenwart. Graphologische Beiträge zur Psychologie des Weibes". Anhand zahlreicher Schriftproben untersucht er, wie sich die Emanzipation, in der er eine Vermännlichung der Frau sieht, in der Handschrift niederschlägt. Eingangs stellt Busse fest, dass der Grafologe in besonderer Weise zu einer solchen Untersuchung aufgerufen sei, denn er habe "einen reichen Einblick in das weibliche Seelenleben, wie er selbst dem Geistlichen und dem Arzt nicht möglich ist." Über Laura Marholms Handschrift schreibt Busse: "Ihre kleine, einfache, steile, sehr verbundene und druckkräftigte Handschrift zeugt von Schärfe und ziemlich nüchterner Objektivität des Denkens, sowie von hartnäckig ausdauernder Energie. Allerdings ist die Handschrift durchaus nicht gleichmäßig ruhig; sie verrät eine schlagfertige und oft rücksichtslose Leidenschaftlichkeit, deren Äußerungen nur vielfach beherrscht werden." In einem zweiten Teil der Untersuchung wird auch eine Probe von Lou Andreas-Salomé herangezogen: In ihrer Handschrift erkennt Busse "eine durchaus nüchtern-objektiv denkende und urteilende Natur, die frei ist von jeder impulsiven Schroffheit." Bei der Münchner Schriftstellerin Anna Croissant-Rust versucht sich Busse in einer Art "graphischer Symptom-Analyse": der hoch nach rechts voran gestellte i-Punkt verrät: "leichte Gefühls-Erregbarkeit neben temperamentvoller idealer Begeisterungsfähigkeit." Wie über viele Geschichten aus der Keimzelle der psychoanalytischen Bewegung, der 'Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft', kann man heute über so manche Dinge, die da anhand von Strichbreite, Neigungswinkel, Schreibdruck, Bögen, Haken, Arkaden und Girlanden analysiert und gedeutet wurden, nur schmunzeln.

Die Analytiker der Handschrift

Nahezu zeitgleich setzte in der Psychoanalyse und in der Grafologie ein Prozess der Verwissenschaftlichung ein, im Zuge dieser Entwicklung wurden auf der einen Seite die 'wilden Analytiker' marginalisiert und ausgegrenzt; auf der anderen Seite die ohne methodische Strenge vorgehenden, 'wilden Handschriftendeuter'. Ludwig Klages gehörte zu denjenigen, die den Prozess der Verwissenschaftlichung vorantrieben. In seiner grundlegenden Schrift "Die Probleme der Graphologie. Entwurf einer Psychodiagnostik" (1910), die er bereits 1903/04 in Angriff nimmt, markiert er die Grenzlinie zwischen der dilettantischen und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Handschriften: "In gewiss nur 'allzu menschlichen' Zügen tief verankert ist die 'Zeichendeuterei' stets und überall eine gern gepflogene Unterhaltung der Geister gewesen. An sich selber harmlos entfaltet sie doch leider eine sehr unheilvolle Wirksamkeit, sobald sie sich mit wissenschaftlicher Einsicht verwechselt." Klages würdigt den Gründervater der neuzeitlichen Grafologie, den Franzosen Jean Hippolyte Michon, der 1875 in seinem Werk "Système de Graphologie" zum ersten Mal die Beziehung zwischen Handschrift und Charakter umfassend dargestellt hat. Er attestiert Michon den "intuitiven Scharfblick des Entdeckers". Nur habe er über keine Methode verfügt, er trifft zwar mit seiner unvergleichlichen Intuition oft ins Schwarze, doch "Wissenschaft hat es mit Beweisen und Gesetzen zu tun: Michon jedoch hat die wirklich brauchbare Beweisführung nicht einmal vorbereitet. Er stellte Erfahrungsregeln auf und erzeugte damit das Objekt einer Wissenschaft."

Klages kann sich bei seinem Versuch, wissenschaftliche Methoden und Techniken der Deutung zu entwerfen, vor allem auch auf die Arbeiten seines bereits erwähnten Freundes Georg Meyer stützen. Meyer hatte 1901 unter dem Titel "Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie" eine Studie veröffentlicht, die den Gegenstand exakt zu beschreiben versucht und eine grundlegende Terminologie aufstellt. Entscheidend ist, dass Meyer die Blickrichtung grafologischer Deutung präzisiert: Im Vordergrund sollen die "unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen" stehen, die nicht bewusst steuerbaren Elemente der Handschrift: Druck, Steilheit, Enge, Links- oder Rechtsschräglage sind willentlich beeinflussbar, nicht aber zum Beispiel der Rhythmus. Meyer hat experimentell nachgewiesen, dass die Schrift zwar in gewissen Grenzen durch Überlegung, Selbstbeherrschung oder Zurückhaltung variiert werden kann, gleichwohl gibt es aber typische Eigenarten, die sich, trotz aller Entstellungen, immer wieder durchsetzen. Der Mensch, der unter Alkoholeinfluss steht oder große Müdigkeit empfindet, produziert zwar eine vom normalen Zustand und Befinden abweichende Schrift, doch bestimmte, für den Laien zunächst nicht erkennbare, Formelemente setzen sich trotzdem durch. Meyer unterscheidet die Oberfläche oder manifeste Ebene der Handschrift von der "unwillkürlichen Eigenart", die sich - psychoanalytisch gesprochen - unbewusst in jeder Schrift ausdrückt. Diesen (unbewussten oder latenten) Gehalt aufzuspüren und zu dechiffrieren, dazu bedarf es der Sachkenntnis eines Grafologen, der mithin eine Art Analytiker der Handschrift ist.

Grafologie und Traumdeutung - Klages und Freud

Mit seinem Werk "Die Probleme der Graphologie" geht Klages einen Schritt weiter. Sah Meyer in der Grafologie noch einen "Zweig der Psychologie"(1901), so zielt Klages auf eine "Fundamentierung der Wissenschaft vom Ausdruck überhaupt". Seine grundlegende Definition lautet: "Jede innere Tätigkeit nun, soweit nicht Gegenkräfte sie durchkreuzen, wird begeleitet von der ihr analogen Bewegung: das ist das Grundgesetz des Ausdrucks und der Deutung [...]. Von der Bewegung des Ausdrucks schließt Klages auf psychische Prozesse. Die Handschrift ist für ihn eine manifeste Spur, in der seelisches Geschehen zum Ausdruck kommt und analysierbar wird. Er will zeigen, dass Handschriften einer Deutung zugänglich sind, die wissenschaftlichen Kriterien entspricht. In der Handschriftendeutung sieht Klages nicht nur einen möglichen Weg zur Ergründung der Seele des Schreibenden, sondern einen besonders erfolgversprechenden und privilegierten Weg.

Wer Vorwort und Einleitung der Studie liest, wird sich erinnert fühlen an das erste Kapitel der "Traumdeutung" von Sigmund Freud. War für Freud der Traum der 'Königsweg' zur Entdeckung des Unbewussten, so ist es bei Klages die Handschrift, die ihn zur unwillkürlichen Ausdrucksbewegung führt. Beide versuchen einen - auf den ersten Blick - obskuren und mit vielen Vorurteilen umstellten Gegenstand, der eher in den Bereich okkulter Geheimlehren zu gehören scheint, unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu rekonstruieren und neu zu betrachten. In den jeweiligen Anfangskapitel stellen beide Forscher die vorwissenschaftliche Auffassung ihres Gegenstands (Traum bzw. Handschrift) dar, beide kommen zu dem Schluss, dass es - um es mit Freud zu sagen - für die wissenschaftliche Erkenntnis des Phänomens "eines Unterbaus von gesicherten Resultaten" bedarf. Gleich zu Beginn des zweiten Kapitels der "Traumdeutung" schreibt Freud in einem ganz ähnlichen Tenor wie später Klages: "Ich habe mir vorgesetzt zu zeigen, dass Träume einer Deutung fähig sind [...]. Mit der Voraussetzung, dass Träume deutbar sind, trete ich sofort in Widerspruch zu der herrschenden Traumlehre [...], denn 'einen Traum deuten' heißt, seinen 'Sinn' angeben, ihn durch etwas ersetzen, was sich als vollwichtiges, gleichwertiges Glied in die Verkettung unserer seelischen Aktionen einfügt."

Auch für Klages stellen sich die seelischen Aktionen zunächst als Verkettung bzw. "Verknüpfung" von "isolierten Einzelheiten" dar, die er als bewirkt denkt, "von einer Kraft, die aus dem Wesen des Schreibers stammt." Diese dem Schreiber selbst unbewusste Kraft zu deuten heißt, so Klages, "seine Herkunft bis zum Ort seines Ursprungs aus dem Impulse verfolgen." Die Richtung und Deutungsperspektive teilt Klages mit Freuds Technik der Traumdeutung. Beide Projekte stellen sich explizit gegen die herrschende Wissenschaft: der 'Traum' bzw. die 'Handschrift' sollen in einer Weise aufgefasst werden, die von den bisher bestehenden Lehrmeinungen nicht beachtet oder gänzlich negiert wurde. Es geht aber nicht nur darum, der herrschenden Wissenschaft einen neuen Gegenstand hinzuzufügen, beide Gegenstände erfordern vielmehr eine andere Art des wissenschaftlichen Begreifens, der wissenschaftlichen Tätigkeit: Nicht von ungefähr macht sich Freud mit seinen eigenen Träumen selbst zum ersten Objekt der neuen Wissenschaft - auch Klages zieht des öfteren seine eigene Handschrift heran; und beide plädieren dafür, keine vorgestanzten Erklärungsmuster zur Deutung des Gegenstands zu benutzen, also den Traum nicht etwa mit inhaltlich festgelegten Symbolen zu deuten bzw. die Handschrift mit einer Symptomatik bestimmter Eigenschaften zu analysieren. "Das Verfahren", so Klages, "hat es vielmehr mit Größen zu tun, deren Sinn in jedem Einzelfalle neu ermittelt sein will. [...] Größe und Kleinheit, Weite und Enge, Kurve und Winkel: das alles gibt es nicht schlechthin, sondern nur als zwar unterschiedliche Seiten an immerdar einzigartigen Gebilden. In diesen muss daher der Schlüssel zu ihrer spezielleren Bedeutung liegen. Nur aus dem lebendigen Ganzen heraus wird die tiefere Ursache der begrifflich isolierten Einzelheit verständlich." Die wissenschaftlichen Aussagen, die auf diese Weise gewonnen werden, sind immer wieder kritisiert und angezweifelt worden, weil sie sich den normalen Bedingungen der Falsifikation entziehen. Das trifft sowohl auf die Grafologie wie auch auf die Psychoanalyse zu.

Die Ziele und Begriffe der beiden Projekte sind höchst unterschiedlich, aber in der Intention und Blickrichtung zeigen sich doch verwandte Züge.1898 veröffentlicht Klages in den "Berichten der Deutschen graphologischen Gesellschaft" eine Aufgaben- und Zweckbestimmung, die mit dem, was die Psychoanalyse will, gewisse Schnittmengen aufweist: "Die Graphologie will aufgefasst sein als eine der Bemühungen, die auf die Gewinnung eines nüchternen, gleichsam unpoetischen Wissens vom Menschen gerichtet sind. Ihr besonderer Gegenstand ist die individuelle Seele, die sie auf eine sehr neue Art und Weise, nämlich nicht durch Zergliederung und Schätzung ihrer großen Taten, Werke und Worte, sondern der ungewussten, unwillkürlichen und meist auch nahezu unsichtbaren Begleiterscheinungen ihres sichtbaren Tuns erraten will." Die Schnittmengen werden bezeichnender Weise da geringer, wo sich Klages dem Terrain Freuds nähert. Das zeigt sich in seiner 1919 veröffentlichten Arbeit "Vom Traumbewusstsein", insbesondere aber auch in seiner Auffassung der Hysterie.

Der "hysterische" und der "jüdische Charakter"

Von der selbstverordneten, nüchternen Einstellung sind weite Teile des grundlegenden Werks "Die Probleme der Graphologie" geprägt. Klages beschreibt zahlreiche Schrifteigenschaften, die unter psychodiagnostischen Zwecken von Bedeutung sind: Auf der einen Seite jene Eigenschaften die der Willkür, der bewussten Kontrolle unterliegen, dann die "gänzlich außerhalb der Sphäre des Willens" liegenden Eigenschaften (z. B. die individuelle Rhythmik und die Arkade). Jede Handschrift pendelt zwischen zwei Ausdrucksbewegungen, die Klages tabellarisch einander gegenüberstellt: Lösung und Bindung.


(aus: Klages: "Die Probleme der Graphologie", S. 152)

Lösung beschreibt die ursprünglichen Züge, Bindung, die erworbenen Züge. Klages ordnet den beiden Ausdrucksformen nicht nur eine Reihe von Merkmalen zu, er versieht diese Merkmale überdies mit einer eindeutigen Wertigkeit: Lösung ist für ihn verbunden mit Bewegtheit, Lebendigkeit, Eigenart; Bindung mit Spannung, Unbewegtheit, Wille, Geist. Diese Zuordnungen haben mit seiner anthropologischen Weltsicht zu tun: Der Mensch, der sich vom Ursprung entfernt, büßt seine natürliche Eigenart ein. Die kulturelle Entwicklung, die intellektuellen und technischen Fähigkeiten, werden als Verzerrung, Verfremdung und Deformation wahrgenommen. Klages beurteilt eine Schrift danach, wie stark sie vom Willen (Geist) oder vom Leben (Seele) geprägt ist. Lebendigkeit und Ursprünglichkeit werden zum Kriterium sui generis.

Da sich, nach der Definition von Klages, Lebendigkeit und Eigenart nicht entwickeln und erwerben lassen, gibt es zwei festgefügte Klassen: Auf der einen Seite Menschen, in denen die Ursprünglichkeit und Lebendigkeit vorhanden ist und aufleuchtet; auf der anderen Seite Menschen, die sich von der Ursprünglichkeit teilweise oder ganz entfernt haben bzw. sie nie besessen haben. Letzteres trifft, Klages zufolge, insbesondere auf die Juden zu. Grafologie und Weltanschauung sind bei Klages nicht zu trennen. Folgerichtig kommt er auch in seinem grafologischen Grundlagenwerk auf den "jüdischen Charakter" zu sprechen. Diese Passagen sind in der Sache mit den grafologischen Auffassungen verwoben, im Ton aber fallen sie deutlich aus der ansonsten eher konzisen und trockenen Darstellung heraus. Klages parallelisiert den "jüdischen" und den "hysterischen Charakter". In beiden Fällen diagnostiziert er eine spezifische Ausdrucksstörung, die immer weitere Kreise ziehe und zum alles beherrschenden Signum der Kultur zu werden drohe.

Das Kapitel über typische Ausdrucksstörungen beginnt mit einer Betrachtung des "bald stärker, bald schwächer" entwickelten "Ausdrucksunvermögens". Ein solcher Charakter hat zwar starke Gefühle, er möchte sich äußern, ist aber unfähig seinem 'Herzen Luft zu machen', er hat geradezu einen "Widerwillen gegen Gefühlsergüsse" und gegen jede Form der Selbstdarstellung. Klages führt diese Disziplinierung auf den "Zwang zur sittlichen 'Mäßigung' zurück, der im Ausdrucksvermögen Gehemmte stößt sich beständig "am eigenen Ich und wird von den Gegenständen seines Interesses weg- und in sich selbst zurückgeworfen."

Die zweite Spielart der Ausdrucksstörung liegt am anderen Ende der Skala, es ist ein nicht zu unterdrückender Ausdrucksdrang. Klages spricht auch von einem "krankhaft erregten Ausdruckshunger", der in keinem Gefühl mehr verankert ist und sich von allen lebendigen Trieben löst. Solche Symptome zeigt der Hysteriker, der von einem "schauspielerhaft vergrößernden Darstellungswillen" besessen ist, er muss in einem fort beweisen, "dass er leide, rase, glühe, liebe, schwärme." In Wirklichkeit ist sein Zustand gar nicht vorhanden, er spielt ihn nur vor: "Die Lücke erlöschender oder toter Instinkte füllt die Sucht nach instinktiven Gebärden aus und eine gelungene Geste wird seine höchste Tat." Wie der Schauspieler braucht auch der Hysteriker Zuschauer: "Sein Darstellungstrieb verlangt nach Rapport aus einem 'Publikum' und seine Grimassen verhelfen ihm zu einigem Glauben an inneres Leben nur, soweit er für sie Beachtung findet und gleichsam bestätigendes Mitgefühl." Das Augenmerk des Hysterikers ist nicht auf die Sache gerichtet, sondern auf den Effekt und den Erfolg. Diese Merkmale sind, Klages zufolge, nicht nur typisch für den Hysteriker, sie sind typisch für eine ganze Kultur, vor allem aber für den "jüdischen Charakter".

Gleich am Anfang seiner Betrachtungen stellt er fest: "Nur wer sich nicht völlig die Sinne verderben ließ von europäischen Humanitätsgerede, wird noch zu leugnen wagen, dass es so etwas wie einen 'jüdischen' Charakter gibt. Nicht jeder Jude braucht ihn zu haben und durchaus nicht nur Juden haben ihn." Wie Klages in einer Anmerkung hinzufügt, gibt es immer häufiger Individuen, "in denen der Zug der Rasse überhaupt erloschen ist." Aber auch dieses "Zeichen der Zeit" bringt er in Verbindung mit dem "semitisch bedingten Rassenverfall" Was Klages zuvor zum "hysterischen Charakter" ausgeführt hat, den Drang zur Darstellung, zur Übertreibung, wiederholt er nun noch einmal mit schärferen Akzenten bei der Behandlung des "jüdischen Charakters" -: "kein 'Jude' ist jemals völlig 'bei der Sache' - und kein 'Jude' ist jemals völlig 'bei sich'. Ein Teil von ihm ist stets beim Zuschauer. In seinem Geiste bleibt immer noch Raum für die Erwägung, wie er sich ausnehme - schärfer gesagt, wie er seinem 'Nächsten' gegenüber als bewandert und heimisch erscheine, auf welchem Gebiet man sich gerade bewege. In Wahrheit: er war niemals 'zu Hause', auch im Altertum nicht (was historisch streng beweisbar) und das unterscheidet ihn von sämtlichen übrigen Rassen. Während die nämlich dem Zug der Landschaft folgend mit der allgemeinen Umgebung verschmelzen oder bei ungünstigen Bedingungen zugrunde gehen: bleibt der 'Jude' unter jedem Himmelstrich unvernichtbar und im Innersten unveränderbar er selbst: aber beflissen, Gewohnheiten und Sitten seiner Wirte zu teilen und damit den Schein zu wecken wesentlicher Gleichheit.". Solange sich die Ambitionen des Juden nur auf den Handel erstreckt hätten, wären diese Charakterzüge nicht bedenklich gewesen, in neuerer Zeit aber würden die Juden Geist und Kultur der Völker erobern und "zum bloßen Tauschobjekt" entwerten. Klages schließt seine Betrachtung zum "hysterischen" und "jüdischen Charakters" mit der Feststellung: "ein imitiertes Menschentum scheint aufzukommen, wo die alteingesessenen Rassen der Zersetzung anheimfallen."

Im Gesamtkontext des Buchs - wir haben oben schon darauf hingewiesen - wirken die Passagen über den "hysterischen" und "jüdischen Charakter" wie ein Fremdkörper, eine Polemik, die sich auch sprachlich von der übrigen Darstellung deutlich unterscheidet. Die Passagen sind in der Tat in das wissenschaftliche Werk montiert worden, sie stammen aus einem anderen Kontext und aus einer anderen Zeit. Klages hat diesen Text auf den Höhepunkt der Kosmiker-Krise geschrieben. Als er 1903/04 mit Stefan George brach, entstand die Abhandlung: "Typische Ausdrucksstörungen und das Wesen der Hysterie", die 1904 im VIII. Jahrgang der "Graphologischen Monatshefte" veröffentlicht wurde. In "Probleme der Graphologie" werden die Passagen nur unwesentlich entschärft erneut abgedruckt.

Klages analysiert Freud

Klages kündigt in dem bereits erwähnten Brief an Maeder vom 7. Mai 1910 sein im Druck befindliches Werk an. Dabei macht er Maeder explizit auf jene Passagen über den "hysterischen" und "jüdischen Charakter" aufmerksam. Gerade diesen Teil beabsichtigt er auszubauen, er bittet Maeder diesbezüglich um Unterstützung und um Schriftproben aus seiner Praxis.

Gleich nach Erscheinen hat Alphonse Maeder das Buch von Klages im "Zentralblatt für Psychoanalyse" rezensiert. Er preist "das psychologische Verständnis" des Verfassers: "Klages ist durchweg originell, er holt das Gute wo er es findet, ohne Vorurteile, ohne Dogmatismus." Nach einer längeren Eloge kommt Maeder auch auf die Ausführungen zum "hysterischen" und "jüdischen Charakter" zu sprechen und meldet Bedenken an: Bei der Beschreibung der hysterischen Reaktion bliebe Klages "an der Oberfläche", sie seien überdies zu "subjektiv gehalten", was auch für die Bemerkungen zum Semitismus gelten würde, die "nicht in ein solches Buch" gehören. Auf die Bemerkungen selbst geht Maeder nicht weiter ein. Trotz der angeführten Bedenken kommt er am Ende seiner Besprechung zu einer rundherum positiven Einschätzung. Er lobt das groß angelegte und sehr anregende Werk und schlägt eine gegenseitig befruchtende Zusammenarbeit zwischen Psychoanalytikern und Grafologen vor: "Die Psychoanalytiker wären besonders gut imstande, die Resultate der Handschriftendeutungskunde mit den Resultaten ihrer Analysen zu prüfen." Was Maeder unerwähnt ließ: Er selbst befand sich bereits in einer solchen Kooperation und war gerade dabei, die Resultate der Handschriftendeutungskunde an einem ganz konkreten Fall zu prüfen - an der Handschrift Freuds.

Im Nachlass von Klages, der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt wird, hat sich eine Kopie des Gutachtens über Freuds Handschrift erhalten. Das Gutachten umfasst fünf Seiten und elf Zeilen. Die Seiten sind in Schreibmaschinenschrift überliefert und weisen zahlreiche handschriftliche Korrekturen auf. Das Gutachten besteht aus zwei Teilen, die durch einen unterschiedlichen Zeilenabstand deutlich voneinander abgesetzt sind: Mit einfachen Zeilenabstand (etwa ein dreiviertel Seiten) ist eine Vor- und Nachbemerkung geschrieben. In der Vorbemerkung wendet sich Klages direkt an Maeder und erläutert seine Herangehensweise. Die restlichen Seiten sind mit doppeltem Abstand geschriebenen und enthalten das eigentliche Gutachten. Über der Kopie steht mit Bleistift: "Gutachten aufgrund der Hds. Freuds / München 9. Mai 1910".

Klages merkt eingangs an, dass er von dem Schreiber der Handschrift die "Traumdeutung" zu "Zweidrittel" gelesen habe, er könne deshalb als befangen erscheinen und habe darum die Schriftproben drei weiteren Grafologen vorgelegt, ohne aber den Namen des Schreibers preiszugeben. Die drei Positionen werden zu Anfang kurz wiedergegeben. Relevant im Zusammenhang des Gutachtens ist vor allem die Deutung des Grafologen A, der sich Klages, wie er in der Nachbemerkung an Maeder schreibt, vom Tenor her anschließt. Der Grafologe A erkennt zum Beispiel sofort, dass es sich um die Handschrift eines Juden handelt, der temperamentvoll, vielfältig interessiert, strebsam und ehrgeizig sei, dem es aber an Ideen fehle. Auch Klages sieht "ein intensives Streben" als Hauptcharakteristikum, der Schreiber habe keine Fähigkeit zur Kontemplation und stehe unter permanenter Anspannung: "Unbefriedigtheit" und "Rastlosigkeit" kennzeichnen ihn. Es fehle ihm an innerer Harmonie und Ausgeglichenheit. Doch könne sich der Schreiber nur über äußere Widerstände entwickeln, er bedarf "der Störung als eines Reizmittels", es handele sich nämlich um keinen innerlichen, sondern einen vollständig nach außen orientierten Charakter.

Hatte Klages über den "jüdischen Charakter" geschrieben, dass er sich nach außen darstellen muss und unter einem permanenten Ausdrucksdrang steht, so sieht er nun in der begutachteten Handschrift Freuds den exemplarischen Fall eines solchen Charakters. Der Schreiber wende seine ganzen Interessen nach außen und lebe nahezu vollständig aus dem Wachbewusstsein, was - wie Klages mit gespielter Verwunderung anmerkt - für einen Theoretiker, der sich dem Traum verschrieben habe, doch merkwürdig sei. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum, das sich aus der Handschrift herauslesen lasse, sei der enge Zusammenhang von Person und sachlichem Interesse. Der Schreiber würde sich, bei aller Sachlichkeit und Nüchternheit, die er in den Vordergrund stellt, nie selbst vergessen, er habe ein ausgeprägtes Bedürfnis zu herrschen und zu gelten. Klages diagnostiziert in diesem Zusammenhang eine Diskrepanz, die Handschrift deute nicht nur auf Strebsamkeit, sondern auf eine Person, die über sich hinaus will und darstellen möchte, was ihr nicht oder nicht im gewünschten Maße zu eigen ist. So würde zwar der Schreiber mit den Mitteln des Geistes eine Rolle zu spielen versuchen, doch eine im eigentlichen Sinn "geistiger Charakter" sei er nicht. Es gehöre zu den Antinomien des Schreibers, dass er zu Übertreibungen neige, dem stünden aber andere, ausgleichende Charaktereigenschaften gegenüber: "Nüchternheit und Präzisität", daneben eine "vortreffliche Auffassungs- und Beobachtungsgabe", eine "Tendenz zu logischer Gedankenverbindung" und "Besonnenheit".

Mit Nachdruck betont Klages, dass es sich um keinen labilen Charakter handelt. Die Stärke des Charakters beruhe jedoch nicht auf Wahrheit, sondern auf einem Geltungsanspruch. Streben nach Wahrheit und bewusste Aufrichtigkeit sei dem Schreiber deshalb aber nicht abzusprechen, die Handschrift weise jedoch, selbst für den "Durchschnittgraphologen" erkennbar, "Merkmale der 'Unaufrichtigkeit'" auf. Diese Feststellung ist insoweit interessant, weil Jung später in seiner Autobiografie ("Erinnerungen, Träume Gedanken", 1962) als Hauptgrund der Trennung von Freud angibt, dass er "persönliche Autorität über Wahrheit" gestellt habe.

Klages bringt in diesem Zusammenhang auch die "Verdrängung" ins Spiel und zieht, wie auch an anderen Stellen, psychoanalytische Begriffe und Konstrukte zur Deutung von Freuds Charakter heran. "Freud'sche Lieblingsgedanken aus Freud's Charakter zu erklären" sei deshalb möglich, sagt er in der Nachbemerkung, weil es sich um einen besonders typischen Charakter handele, ein geradezu "kulturgeschichtlicher" Typus. In sozialer Hinsicht hätten wir es mit einem Menschen zu tun, der Gefühle der Gegenseitigkeit braucht und viel Sinnlichkeit und Genussfreude besitzt. Ausdrücklich weist Klages darauf hin, dass der Schreiber beharrlich sei und "von einem optimistischen Glauben an das Gelingen geleitet wird."

Am Ende des Gutachtens kommt Klages zu dem Schluss, dass es sich bei allen diesen Charaktereigenschaften um "eine Spielart (übrigens nicht die modernste) des jüdischen Wesens" handele. Eine nähere Begründung dafür gibt er nicht. Überhaupt fällt auf, dass Klages die Bemerkungen zum Charakter des Schreibers an keiner Stelle konkret auf die Handschrift bezieht. Bei den später veröffentlichten Gutachten über Beethoven, Schopenhauer, Nietzsche oder Karl May geht Klages anders vor, er bezieht sich relativ konkret auf unterschiedliche Schriftproben und trifft charakterologische Aussagen im engen Zusammenhang mit bestimmten Schrifteigenschaften. 1920 formuliert Klages ein solches Vorgehen als wesentliche Bedingung der Wissenschaftlichkeit seiner Deutungen. In einem Brief an Rudolf Pechel, den Herausgeber der "Deutschen Rundschau", schreibt Klages: dass seine "Analysen gänzlich ohne Rücksicht auf die vermeintliche Bedeutung oder die Bedeutungsansprüche der Schrifturheber sowie ohne jeden Seitenblick auf deren sonstwie bekannte Tätigkeit nach streng wissenschaftlicher Methode ausschließlich aufgrund des Ausdrucksgehalts der Handschrift abgegeben werden. Es treten dabei oft auch bei geschichtlichen Persönlichkeiten ganz erhebliche Differenzen mit den Bildern zu Tage, die man sich von den Charakteren renommierter Persönlichkeiten üblicher Weise zu machen pflegt." Vielleicht hatte Klages vor, ein in diesem Sinn wissenschaftliches Gutachten über Freuds Handschrift zu erstellen, denn er teilt Maeder mit, dass er eines der eingesandten Schriftstücke behalten habe und ein Klischee davon machen wolle, vorausgesetzt der Einsender (also Maeder) stimme der Sache zu. Klages versieht die Anfrage gleich noch mit dem Hinweis, dass Freud, der sich fortwährend mit Analyse beschäftige, die Analyse des eigenen Charakters ja sicher nicht scheuen würde.

Klages wird analysiert - Ein Vortrag vor der 'Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft'

Freud und die Wiener Analytiker hatten die Empfehlung Maeders im "Zentralblatt für Psychoanalyse" sicherlich mit Interesse gelesen. Die Verbindungen, die Maeder zwischen Psychoanalyse und Grafologie andeutete, weckte Erwartungen. In den Köpfen vieler Analytiker gab es zu der damaligen Zeit Vorstellungen, die weit über das eigene Fach hinausgingen. Psychoanalyse sollte nicht nur eine therapeutische Methode, nicht nur eine Angelegenheit von Ärzten sein, sondern zu einer allgemeinen Kultur- und Menschheitswissenschaft werden. Im Herbst 1911 hatte Freud selbst die Studie "Totem und Tabu" in Angriff genommen, mit der er die Genese der Individualpsyche aus der Gattungsgeschichte und aus mythischen Konstrukten zu erklären versuchte. Der Blick ging in diesen Jahren ins Weite, und ein Mann wie Klages, dessen Werk, wie Maeder schrieb, "groß angelegt" sei, kam da gerade recht.

Am 25. Oktober 1911 hält Ludwig Klages vor der 'Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft' einen Vortrag zum Thema: "Zur Psychologie der Handschrift". Dem Protokoll zufolge machte Klages gleich am Anfang den Anspruch geltend, nicht nur eine wissenschaftlich fundierte Psychologie der Handschrift entworfen zu haben, sondern das Konzept einer allgemeinen Ausdrucks- und Charakterpsychologie. In diesem Kontext bildet die Handschrift "den unzweifelhaftesten Angriffspunkt der Bewegungsdiagnostik, weil sie uns flüchtige Bewegung aufbewahrt." Klages erläutert dann die Abhängigkeit der Handschrift von der Psyche und bezieht sich insbesondere auf affektive Einflüsse, die sich in einer "ungleichmäßigen Schrift" niederschlagen. Mit einiger Spannung werden die Analytiker die Ausführungen über die unbewussten Ausdrucksbewegungen und -erwartungen angehört haben. Der Begriff des Unbewussten wird denn auch in der anschließenden Diskussion sofort aufgegriffen. Viktor Tausk und Hanns Sachs sehen die Gemeinsamkeit in der Determiniertheit aller psychischen Äußerungen durch das Unbewusste, nur habe der Vortragende vom Unbewussten offenbar eine etwas andere Vorstellung als die Analytiker. Die nämlich würden das Unbewusste dynamisch als das Verdrängte auffassen, für Klages hingegen sei alles unbewusst, was sich der momentanen Kontrolle des Individuums entziehe. Klages erkennt in seiner Stellungnahme den Unterschied an, viel entscheidender sei für ihn aber die Differenz, dass die Analytiker von "Bewusstseinstatsachen" ausgehen, er jedoch von Ausdruckstatsachen" und beide Richtungen "dahinter etwas anderes suchen." Klages spielt auf das Sexuelle als das erkenntnisleitende Interesse der Analytiker an - und er belässt es nicht bei dieser Anspielung.

Bei einer weiteren Stellungnahme stellt er klar, dass für ihn die "sexuellen Tatsachen" nur "Symptome des Charakters" seien, der selbst in einer "tieferen Schicht" begründet sei. Durch diese Klarstellung fühlte sich Wilhelm Stekel offenbar provoziert, der die sexuellen Eigentümlichkeiten der Handschrift betont, aber den Wert der Grafologie entschieden bestreitet. Dem Protokoll zufolge hat Stekel dann coram publico Ludwig Klages auf Grund seiner eigenen Handschrift analysiert. Näheres dazu ist nicht vermerkt. Klages reagiert entsprechend heftig, er hoffe nicht, "dass diese Deutungen [...] das Wesen der Psychoanalyse widerspiegeln." Gleich danach gereift Freud mit einem entschiedenen Schlusswort in die Debatte ein und nimmt Klages ausdrücklich in Schutz: Die Analytiker könnten "offenbar nichts Neues annehmen" und erwarteten "vom Vortragenden ihre eigene Sprache zu hören". Besonders tadelt er Stekels Ad-hoc-Analyse, die keineswegs - das versichert er Klages - von allen Anwesenden geteilt würde. Zur Ausdruckspsychologie und zur Grafologie nimmt Freud eher abwartend Stellung, hebt aber "interessante Analogien" hervor, so verweist er unter anderem auf die "gewollte und ungewollte Handschrift" und spricht auch die Hysterie an. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, dass Freud zu diesem Zeitpunkt "Die Probleme der Graphologie" gelesen hatte. Auch die an diesem Abend versammelten Wiener Analytiker waren offenbar über die Dimensionen und die Stoßrichtung der Handschriftendeutung von Klages nur unzureichend informiert. Hätte jemand aus dem Kreis die Ausführungen über den "hysterischen und jüdischen Charakter" gekannt, die Diskussion wäre sicher noch heftiger verlaufen, vermutlich aber hätte man Klages erst gar keine Bühne geboten.

Klages jedenfalls nimmt die denkbar schlechtesten Eindrücke aus Wien mit. In den Anmerkungen zu seinem Buch "Die Grundlagen der Charakterkunde" (1926) polemisiert er heftig gegen die Psychoanalytiker; eine Spezies, die man psychologisch mal untersuchen sollte, was "immerhin um einiges unterhaltender wäre als die Psychoanalyse" Gleichwohl solle kein Leser auf die Idee kommen, dass er sich mit seinen Ausführungen an die Analytiker selbst wenden wolle: "Einen 'richtigen' Psychoanalytiker widerlegt man nicht, man wäre sogar ein Narr, es auch nur zu versuchen. [...] Macht man einem richtigen Psychoanalytiker Einwände, so kümmert er sich um deren Beweiswert nicht einen Augenblick, sondern er fragt sich nur, durch welche 'Komplexe' und - wie sich versteht, sexuell bedingten - Verdrängungen der Sprecher wohl verhindert werde, das Licht der Wahrheit, der psychoanalytischen Wahrheit zu erkennen und anzuerkennen." Nur einen will Klages bemerkenswerter Weise von seiner polemischen Kritik ausnehmen: "Ausdrücklich sei [...] hinzugefügt, dass vorstehende Andeutungen über die Natur des Psychoanalytikers auf einen unter ihnen, uneingeschränkt nicht passen: nämlich auf Freud." Der nämlich sei "aus gänzlich anderem Holz geschnitzt als die Jünger!" Klages bedauert zwar, dass Freud einen "engen Gesichtskreis" habe, stärker als im Gutachten betont er aber nun die positiven Seiten des Charakters: "diesem Mann eignet sicher ein Stück Forschersinn, dazu Temperament und zäher Eigenwille." Freud "ist Initiator und, falls von seinem Werk irgendetwas übrigbleiben sollte, so wird es und mit Recht an seinen und nur an seinen Namen geknüpft sein."

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