Zweierlei Schuld

Wolfgang Wippermann rechnet vor, warum der verdrängte NS-Völkermord an den Sinti und Roma genauso auf das Konto deutscher Verbrechen gehört, wie die Shoah

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist der nationalsozialistische Genozid an den Sinti und Roma mit der Ermordung der europäischen Juden vergleichbar? Der Berliner Antiziganismus-Experte Wolfgang Wippermann bejaht diese umstrittene Frage in seinem Buch "'Auserwählte Opfer?' Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse" dezidiert.

Die anhaltenden Debatten um eine historische Einordnung des "Porrajmos" (wörtlich übersetzt: "das Verschlungene"), wie zuerst US-amerikanische Interessenverbände der Sinti und Roma den NS-Genozid an ihrem Volk nannten, sind bis heute durch Vorurteile und (pseudo-)wissenschaftliche Abwege gekennzeichnet.

Wippermanns schmaler Band fasst diese komplexen Kontroversen auf gerade einmal 170 Seiten zusammen. Dem Autor gelingt es zudem, in seinen kurzen geschichtswissenschaftlichen Forschungsüberlicken so etwas wie eine korrigierende Inventur der internationalen NS-Historiografie zu unternehmen, die darauf abzielt, die deutsche Schuld an der Shoah nicht etwa zu relativieren, sondern um die eines weiteren Völkermords zu erweitern: den an den Sinti und Roma.

In was für einen vertrackten Interessenkonflikt sich Wippermann allerdings damit einmischt, zeigen schon die vorsichtigen Formulierungen seines Vorworts. Hat er sich doch hier u. a. mit der umstrittenen These des US-Historikers Guenter Lewy auseinander zu setzen, wonach nur die Juden "auserwählte Opfer [des Holocausts] gewesen" seien.

Der Nobelpreisträger Elie Wiesel brachte die Überzeugung, dass die Shoah einzigartig und mit anderen Genoziden nicht zu vergleichen sei, mit den Worten auf den Punkt: "Nicht alle Opfer (= des Nationalsozialismus) waren Juden, doch alle Juden waren Opfer". Dagegen führen jedoch die deutschen Interessenverbände der Sinti und Roma seit Ende der 70er-Jahre ins Feld, sie seien sogar "härter und länger verfolgt und diskriminiert worden als die Juden, weil sie 'in Auschwitz vergast (und) bis heute verfolgt' wurden", wie Wippermann referiert.

Der Historiker von der Freien Universität Berlin betont nun in seinem Buch, für Angehörige der "deutschen Täternation" (Saul Friedländer) dürfe es jedoch "kein Tabu und auch keine Hierarchie oder gar Auserwähltheit der Opfer geben, weil Juden sowie Sinti und Roma Opfer der deutschen Täter waren. [...] Ihre Schuld wird durch die Anerkennung, dass es mit dem Porrajmos einen zweiten Völkermord gegeben hat, der daher auch mit der Shoah verglichen werden kann, nicht kleiner, sondern ganz im Gegenteil größer". Und er fügt etwas verlegen hinzu: "Von dieser Erkenntnis bin ich ausgegangen [...], wobei ich hoffe, niemanden gekränkt oder gar verletzt zu haben".

Wer die Publikationen des nach Meinung des Geschichtswissenschaftlers Hans Mommsen "einzigen deutschen Fachhistorikers", der sich seinerzeit auf die Seite Daniel Jonah Goldhagens ("Hitlers willige Vollstrecker", Berlin 1996) schlug, kennt, weiß jedoch, dass derartig handzahme Formulierungen nicht unbedingt Wippermanns Spezialität sind. Stattdessen teilt der faschismustheoretische Schüler des späteren Revisionisten Ernst Nolte in seinen Büchern gerne und deftig aus. Seit den neunziger Jahren gehört Wippermann zu den schärfsten Kritikern seines ehemaligen Doktorvaters Nolte, und überall dort, wo sich Historiker seither einer Relativierung von Auschwitz auch nur annäherten, waren sie der treffsicheren Polemik des Berliner Historikers gewiss.

So liegt Wippermanns Verdienst auch in dem vorliegenden Band vor allem darin, die Leser daran zu erinnern, dass die Fokussierungen und Tendenzen der sich gerne so "objektiv" gerierenden Geschichtswissenschaft nicht etwa in einem ideologiefreien Raum entstünden. Stattdessen macht er deutlich, dass auch das notorische Desinteresse der deutschen Historiografie am Porrajmos nach 1945 zunächst einmal mit dem allgemeinen politischen Ziel zusammenhing, "Wiedergutmachungszahlungen" an die Überlebenden Sinti und Roma von vornherein auszuschließen.

Saßen doch in den juristischen Kommissionen, die über solche Fragen zu entscheiden hatten, in den 50er-Jahren die alten NS-Täter der ehemaligen "Zigeunerpolizei" und behaupteten nach wie vor, dass es sich bei den Opfern nun einmal um "Verbrecher" gehandelt habe, die vor 1945 in Deutschland "nicht aus rassistischen Gründen, sondern wegen (ihrer) asozialen und kriminellen Haltung verfolgt und inhaftiert" worden seien.

Eine zählebige antiziganistische Vorstellung, die selbst in aktuellen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zum Thema begegnet, wie Wippermann enthüllt.

So etwa ausgerechnet bei dem israelischen Historiker Gilad Margalid, dessen Dissertation das angesehene "Zentrum für Antisemitismusforschung" der Technischen Universität Berlin herausgegeben hat. Wippermann weist zwar auch fair auf einzelne Verdienste Margalids hin, zerlegt die Argumentation seines Buchs jedoch sodann genauso fachkundig wie knapp in alle Einzelteile.

Begehe Margalid doch u. a. den unter NS-Historikern weit verbreiteten Irrtum, das zeitweise persönliche "Zigeuner"-Brauchtums-Interesse des "Reichsführers SS", Heinrich Himmler, der Ende 1942 plötzlich ein "Zigeuner"-Reservat am Neusiedler See einrichten wollte, zu überschätzen und damit das antiziganistische Vernichtungsprogramm der Nazis zu verharmlosen. Himmler wurde von Hitler höchstpersönlich zurückgepfiffen, da "der Führer nicht billgen" werde, dass man auch nur "einem Teil der Zigeuner seine alten Freiheiten wiedergäbe", wie sein Sekretär Martin Bohrmann wissen ließ.

Wippermann weist Margalids Idee, dem Massenmörder Himmler geradezu "romantisierende Vorstellungen" "reinrassiger Zigeuner" anzudichten, als "grotesk" zurück. Haarklein zählt er darüber hinaus alle möglichen antiziganistischen Stereotypen auf, die der Historiker in offensichtlicher Unkenntnis der Fakten tradiert, um damit allen, die den deutschen Genozid an den Sinti und Roma mit dem an den Juden vergleichen wollen, eine Relativierung der Shoah oder gar antisemitische Ressentiments zu unterstellen. "Dies entbehrt jeder Logik", dekretiert Wippermann: "Eins plus Eins ist doch nicht Null. Ein Völkermord plus ein weiterer ergeben doch nicht gar keinen Völkermord".

Sein Buch entlarvt jedoch zu allererst die verlogene deutsche Gedenkkultur und die revisionistischen Bestrebungen hiesiger Geschichtsprofessoren vor und nach dem berüchtigten "Historikerstreit" von 1986. Gleichzeitig kennt sich Wippermann besser in der aktuellen israelischen Historiografie zum Thema aus, als mancher Kollege, weswegen sein Buch auch als wichtige Einführung in die Thematik rezipierbar ist.

Schade nur, dass man seine Studie offensichtlich unredigiert gedruckt hat. Da erfahren wir etwa erstaunt, "daß Antisemitismus und Antiziganismus so etwas wie kommuniszierende [sic] Röhren waren" und müssen ohnehin fast auf jeder Seite so viele Druck-, Tipp- und Rechtschreibfehler tolerieren, dass es am Ende fraglich erscheint, ob Wippermann in seinem neuen Verlag "Frank & Timme" wirklich gut aufgehoben ist. Das wäre ihm in Zukunft zu wünschen.


Titelbild

Wolfgang Wippermann: "Auserwählte Opfer?". Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2005.
170 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3865960030

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