Faszinierendste Beziehungsgeschichten

Zeruya Shalevs genauer Blick auf das, was zwischen Frau und Mann läuft

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2000 erschien im Berlin Verlag der Roman "Liebesleben" von Zeruya Shalev und nicht nur Leserinnen (und Leser) waren begeistert, auch die Kritik verfiel in einhelliges Lob - zu Recht. Der israelischen Autorin, mit Jahrgang 1959, war es gelungen, von den kleinen und großen Kriegen zwischen den Geschlechtern in einer präzisen, hocherotischen Sprache zu erzählen. In "Mann und Frau", deutsch 2001, drang Shalev noch weiter in die eheliche Zweisamkeit ein. Nach Außenbeziehungen und Trennungen finden sich Mann und Frau wieder, ob der Neuanfang von Dauer sein wird, bleibt offen.

Mit "Späte Familie" liegt nun der dritte Roman von Zeruya Shalevs großer Trilogie über die Liebe vor. Und was für ein Roman. Von der ersten Seite an ist die Leserin gefesselt, diese Sprache ist umwerfend, die Spannung ohnegleichen. Obwohl die Autorin mitnichten eine neue Geschichte erzählt. Ella Miller trennt sich, mehr aus einer plötzlichen Gewissheit, denn aus gewachsener gefühlsmäßiger Überzeugung heraus, von ihrem Ehemann. Amnon hat die gemeinsame Wohnung sofort zu verlassen, Ella bleibt mit dem sechsjährigen Sohn zurück. Doch was als Befreiung aus einer gescheiterten Beziehung geplant war, entwickelt sich zu einem Alltag der Leere, der Verlassenheit und der Verzweiflung, nie erwartete Schuldgefühle machen sich in Ella breit. Trotzig, doch durchaus ambivalent, weist sie alle Annäherungen von Amnon ab, denn was sie sich einmal vorgenommen hat, gibt sie nicht so rasch wieder auf. Die erfolgreiche Wissenschaftlerin schlittert in eine existenzielle Krise, die sie sich selber zuletzt eingesteht. Von früher Kindheit an in Schuldgefühlen geübt, verstärkt sich die Gewissheit, dass sie keinen Anspruch auf eine eigene Geschichte haben darf. Die Selbstzweifel führen zu beinahe lustvoller Zerstörung von allem, was sie neu beginnen könnte.

Ella stellt an sich den hohen, fast unerfüllbaren Anspruch, allein in der Welt zu bestehen. Gleichzeitig sehnt sie sich nach Nähe, Geborgenheit und Liebe. Die Freundinnen, die sie durchaus unterstützen würden, weist sie ab, von der Herkunftsfamilie wird sie ausgeschlossen, die Beziehung zu Gili, dem Sohn, ist kompliziert, die hohen Ansprüche, die die Mutter an den kleinen Jungen stellt, kann er nicht erfüllen. Auch lässt er sich nicht so ohne weiteres vom Vater trennen und stellt die Forderung, beide Elternteile als Bezugspersonen zu behalten. Ella sucht in ihrer Verzweiflung wieder Unterschlupf bei Amnon, der sie nun aber seinerseits ablehnt, was sie in eine tiefe Krise stürzt. Sie rutscht in eine tiefe Depression und findet professionelle Hilfe bei einem Psychiater, der gleichzeitig der Vater eines Schulkollegen von Gili ist und ebenfalls in Trennung lebt. Sie verliebt sich. Sie gibt sich ihm beinahe hin, und gleichzeitig zerstört sie jede Annäherung. Schmerzhaft zu lesen ist, wie Ella sich nichts mehr zugesteht, wie sie verletzt, um nur nicht selbst verletzt zu werden. Sie begibt sich immer mehr in eine Sackgasse, die sie mit Autonomie verwechselt, und gerät so in Abhängigkeiten, aus denen sich zu befreien sie größte Anstrengungen unternimmt. Dabei ist es beinahe unerträglich mitzuverfolgen, in welche Situationen sich eine intelligente erfolgreiche Frau begibt, wie sie sich entwürdigt, indem sie sich missbrauchen lässt. Sie wird hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich wieder in eine Familiengemeinschaft einzufügen, und dem Anspruch, das Leben allein zu meistern. Ella fürchtet sich am meisten vor sich selbst und ihrem Hang, sich nur in eine totale Abhängigkeit begeben zu können. Und wenn sie das nicht will, muss sie gänzlich draußen bleiben.

Doch in Oded findet Ella einen Mann, der ihr seine Liebe anbietet, aber nicht um jeden Preis und bedingungslos. Er kann Bedürfnisse von ihr respektieren, ohne dass er dadurch seine Gefühle in Frage stellt. Liebe ist nicht abhängig von Sieg oder Niederlage, wie es Ella bisher erlebt hat: Nur wenn sie sich fügt, wird sie geliebt, nur wenn sie alles Eigene aufgibt, erfährt sie Zuwendung. Oded funktioniert nicht so, was Ella vor ganz neue Herausforderungen stellt. Sie nimmt sie an, unwissend, was werden wird. So bleibt am Schluss offen, wie sich diese neue "späte Familie" entwickeln wird und ob es Ella und Oded, die ihre je eigene Geschichte mit Kränkungen, Verletzungen und Brüchen mitbringen, gelingt, miteinander in die Zukunft zu gehen und den ebenfalls entwurzelten Scheidungskindern eine neue Heimat zu bieten.

Dieser dritte Roman von Zeruya Shalev entwickelt einen unglaublichen Sog. Unter den Figuren gibt es keine, die sich zur Identifikation anbieten würde. Dass Ella nicht länger mit Amnon zusammenleben will, lässt sich leicht nachvollziehen, doch schwierig wird es dann, wenn Ella einseitig alle Verantwortung dem Mann auflädt. Oded ist in seinen Handlungen spontan und denkt nicht an die nächsten Jahre. Was er entscheidet, soll nicht Gültigkeit für die Ewigkeit haben. Und doch ist es ihm ernst mit der Beziehung zu Ella. Mit diesen Widersprüchen kommt Ella schlecht zurecht, wünscht sie sich doch nichts mehr als garantierte Sicherheit, um sich gleich wieder von diesem Bedürfnis abzuwenden. Ella ihrerseits verstrickt sich zunehmend in Verzweiflung und Trotz und handelt immer wieder gegen ihre eigenen Interessen - von außen betrachtet. Zeruya Shalev gelingt es, diese Zerrissenheit in einer Sprache darzustellen, die bedingungslos mitreißt und verhindert, zu urteilen. Wie Beziehungen zerstört werden, kann die Autorin in Worten wiedergeben, die fast körperlich spüren lassen, was vor sich geht. Zeruya Shalev gelingt es, die alte Geschichte "Frau trennt sich, geht zum Psychiater, verliebt sich in ihn und beginnt mit ihm eine Beziehung" frei von allen Klischees zu erzählen - das sei hier noch besonders hervorgehoben. Und: Mit einer unglaublichen (Sprach-)Intensität, wie sie nur selten gelingt, sind auch die erotischen und sexuellen Begegnungen beschrieben. Hier muss auch endlich die ausgezeichnete Übersetzung von Mirjam Pressler erwähnt werden, deren Deutsch zu lesen zum Genuss wird.


Titelbild

Zeruya Shalev: Späte Familie. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Berlin Verlag, Berlin 2004.
352 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3827004748

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch