Ohnmacht und Hoffnung

Ulla Berkéwicz über die Liebe zweier Menschen aus verfeindeten Machtsystemen

Von Christiane HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christiane Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Amsterdam im Jahr 1987. Hier, am Amstelende, lebt seit vier Jahrzehnten die siebzigjährige Tatjana Orlowa mit ihrer obskuren kasachischen Kneipe, dem "Ural". Obwohl sie nach eigener Aussage "alt, grotesk, fett und behindert" ist, leidet sie gleichwohl noch immer an ihrem hoffnungslosen und unerfüllbaren Lebens- und Liebeshunger. Um sich geschart hat sie ein bizarres Grüppchen von gescheiterten Existenzen und Sonderlingen, die ebenso wie sie im "Ural" einen Heimat- und Familienersatz gefunden haben.

Ulla Berkéwicz erzählt uns in bildhafter, oft sehr pathetischer Sprache eine Geschichte von Wahn, Ideologien und Liebe: Vor dem Hintergrund hasserstarrter Fronten treiben unaufhaltsam zwei Menschen aufeinander zu, die als Vertreter politischer Todfeinde scheinbar unauflöslich in ihre Systeme eingebunden sind: Alon Katznelson, ein nicht mehr junger israelischer Hirnforscher und damit beauftragt, eine Waffe zur Manipulation des menschlichen Bewusstseins zu entwickeln, und Olga Michelizki, eine junge Agentin der DDR, die auf ihn angesetzt wurde. Beide lernen sich in Tatjanas Kneipe kennen.

Trotz dieser Konstellation passt der Roman nicht in das Klischee der üblichen Agenten-Love-Stories, denn die eigentliche Geschichte spielt sich im Bewusstsein der sich zu einer Konfliktlösung hinquälenden Protagonisten ab. Von Beginn an steht das Ahnen um das Wissen des Gegenübers zwischen ihnen: "Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß, daß du weißt". Nur wieviel sie voneinander wissen, bleibt unklar. So schleichen Alon und Olga gleichsam umeinander her, magisch voneinander angezogen und alarmiert vom Bewusstsein ihrer scharfen Bewachung durch die Geheimdienste. In der für sie fast unerträglich werdenden Spannung beginnen sie die Ideologien in Zweifel zu ziehen, die man ihnen jahrelang pausenlos eingehämmert hat, und viele Male fragen sie sich, inwieweit sie bereits Opfer der Waffe sind, die doch erst noch entwickelt werden soll.

Durch die Äußerungen der Zeugin und Ich-Erzählerin Tatjana erfahren wir mindestens ebenso viel über sie selbst wie über die Protagonisten. Sie kommentiert, leidet mit, beschützt und betreut Alon und Olga, wird zur Vertrauten, ja zur "Mutter" der beiden. Tatjana selbst ist physisch und psychisch längst zerbrochen. Durch Alons und Olgas Schicksal scheint sie, die längst die Hoffnung für sich aufgegeben hat, zum letzten Mal zu erwachen. In ausschweifenden Passagen erzählt sie uns von ihren aufflackernden mystischen Erinnerungen an ihr zerrissenes Leben, ihre elementaren Versäumnisse und von den sich damit vermischenden gegenwärtigen Leiden der Liebenden. An anderer Stelle wieder überrascht sie durch ihre knappe Direktheit: "Seine Augen waren blau. Das Blau fuhr mich an."

Tatjanas Sprache und damit die der Erzählung liest sich, vor allem wegen der überlangen Sätze, phasenweise anstrengend, hat aber durch ihre lyrischen Momente auch viele Male einen besonderen Zauber. Hier eine Kostprobe: "Bevor ich dann aber den Schlaf zuließ, erinnerte ich mich noch einmal der Raskowskaja, die mich hatte glauben lassen, sie wisse, was man tun und wie weit man gehen müsse, um in jenes Land zu gelangen, das Belowodje genannt wird, und die mir, wenn ich erwacht war, weil ich Bilder vom Tod der Eltern gehabt hatte oder von jenen Orten, wo solche Bilder wohnen, und wie sie sagte, nur drauf warten, über Kinder herzufallen, die ihre kleinen Seelen vor dem Einschlafen nicht zum Spielen in den Garten von Belowodje geschickt hätten, die Gewißheit zu geben gewußt hatte, daß Wunder nicht im Gegensatz zur Natur stehen, sondern nur im Gegensatz zu dem, was wir über die Natur wissen."

Die äußere Handlung, dicht, vielleicht zu dicht angefüllt mit innerlich zerstörten Menschen, scheint ebenso wie die innere auf ein unausweichlich negatives Ende zuzutreiben. Dieses Leiden an einem Leben, in dem unmenschliche Machtsysteme und Ideologien Menschen manipulieren und sie einsam, ohnmächtig und hoffnungslos werden lassen, ist das eigentliche Thema des Romans.

Durchschnittliche Alltagsmenschen kommen in diesem Buch nicht vor, und manchmal wünscht man sich eine Spur mehr Normalität. Keine der Haupt- und Nebenfiguren ist im Laufe ihres Lebens ohne tiefe Verletzungen davongekommen, sie alle sind entweder schwer krank, behindert oder verrückt und leiden an ihrem Leben. Amsterdam und der "Ural" fungieren für diese gescheiterten Existenzen als Sammelbecken und zugleich als Logenplätze, von denen aus sie als Zuschauer aus dem Leben von Alon und Olga einen Tropfen Leben aufzusaugen versuchen. Dadurch wird die Geschichte zumindest phasenweise zur "schweren Kost".

Trotzdem ist ein durchaus positives Fazit zu ziehen. Einmal definiert Tatjana eine ihrer Empfindungen mit "Neugier", und diese sei vielleicht "eine Spielart der Hoffnung". Letztlich bestätigt sich in diesem Buch, dass nicht nur der Lebens- und Liebeshunger Tatjanas, sondern der aller Menschen berechtigt ist. Es lohnt sich daher, die Reise durch Ulla Berkéwiczs Buch anzutreten.

Titelbild

Ulla Berkéwicz: Ich weiß daß du weißt daß ich weiß daß du weißt.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
261 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 351841061X

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