Vom Kopfabschlagen und Managerseminaren

Gerhard Bierwirth dekonstruiert die Bushido-Erzählungen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die sieben Samurai", "Ronin", "Yojimbo", "Ghost Dog" - viele kennen diese alten und neuen Samurai-Filme, in denen Einzelgänger oder eine Gruppe von Kampfkunstmeistern, von Zen-Kriegern gegen das Böse kämpfen. Diese heroischen Gestalten haben alle eines gemeinsam: Bushidô, den Samurai-Geist. Sie alle gehen den "Weg des Kriegers" (wie er übersetzt heißt), sie alle sind bewusste, ganz im Hier und Jetzt lebende Krieger mit einem strengen Kodex: Heldentum, Aufopferung, Todesverachtung. In Japan gibt es Bushidô schon lange, die Samurai lebten danach. Heißt es immer. Heute wird das Bushidô zum Management-Training eingesetzt, Texte wie das "Hagakure" oder Musashis "Buch der fünf Ringe" werden in Filmen zitiert und als Strategiebücher empfohlen: Von Japan lernen heißt siegen lernen, scheint die Devise zu sein.

Und jetzt soll das alles nur Text sein, alles erfunden? Der Japanologe Gerhard Bierwirth meint: Ja. Natürlich gab es strenge Regeln und Verhaltensvorschriften, denen sich auch die Samurai, die traditionelle Kriegerkaste in Japan, unterworfen haben. Aber so wie wir das heute verstehen, wenn wir auf einschlägige Seminare gehen, Ju Jutsu lernen oder uns Kurosawa-Filme ansehen, so eindeutig, so genau festgelegt, mit dieser mythisch-mystischen Dimension hat es das nie gegeben.

Bierwirth geht sogar noch einen Schritt weiter: Der Bushidô, wie wir ihn heute verstehen und wie er uns von Aikido-Lehrern in aller Heiligkeit vermittelt wird, ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Damals musste sich Japan unter dem Druck amerikanischer Kanonenboote öffnen, nachdem es 250 Jahre lang für alle westlichen Ausländer außer verschlossen geblieben war (außer für die Holländer, die auf der kleinen Insel Deshima residieren durften - streng bewacht). Schnell wurde den Japanern klar, dass sie sich nicht mehr ihrer "splendid isolation" hingeben konnten, dass sie sich nicht nur öffnen, sondern auch ganz schnell modernisieren mussten. Sie lernten in einem wahnsinnigen Tempo. Sie holten sich die besten Wissenschaftler, Gelehrten, Bürokraten, Techniker ins Land und reformierten alles: Staatssystem, Verkehr, Militär, Verwaltung, Medizin, Wissenschaft, einfach alles. Der Kaiser schaffte es, von einer bedeutungslosen Nebenfigur zu einem richtigen Machthaber aufzusteigen. Innerhalb von 20, 30 Jahren wurde damals aus einer rückständigen Feudalgesellschaft eine der modernsten Gesellschaften der Welt. 1905 besiegte Japan in einem Seekrieg Russland und wurde damit anerkanntes Mitglied der Moderne.

Aber Japan brauchte nicht nur technische Neuerungen. Um das Land vor dem Zersplittern zu bewahren, um eine gemeinsame Zukunft aufbauen zu können, brauchte das Land damals auch eine neue Ideologie, etwas, an das sich Kaufleute, ehemalige Samurai, Bürokraten und Bauern halten konnten, etwas, das ihnen allen eine neue, moderne japanische Identität gab, etwas, das ihnen in der Krise Halt gab. Möglichst natürlich etwas aus ihrer eigenen Geschichte. Zudem sahen sich japanische Intellektuelle dem westlichen Vorwurf ausgesetzt, es mangele ihnen noch an moderner Moral. Und so entwarfen sie mit dem Bushidô, das ursprünglich nur, mehr oder weniger kohärent, die traditionelle Lebenspraxis der Samurai meinte, ein moralisches Gesetz der "Ritterlichkeit", eine Art Knigge für den modernen Japaner. Vor allem aber eine "kompensatorische und herrschaftslegitimatorische Maßnahme für die als soziale Klasse entmachteten, aber de facto als Bürokraten herrschenden Samurai".

Bierwirth stellt an mehreren Beispielen das dar, was er als Erfindung des Bushidô bezeichnet. Für ihn, als Dekonstruktivisten, der allerdings auch Ausflüge in eine "dialektische Text-Hermeneutik" unternimmt, ist dabei alles Text und sogar, da die Texte unterschiedlich rezipiert wurden, gleichzeitig Meta-Text. Seien es die Ausführungen des Japanologen Basil Chamberlain, der Bushidô schon recht früh als die Erfindung einer neuen Religion kennzeichnet, seien es die Samurai-Erzählung von Katsu dem Verlierer, Mishimas Eloge auf das "Hagakure" von 1967, die vielen japanischen Schwertkampffilme, die in Japan ein eigenes Genre bilden, oder Romane: Bierwirth zieht alle Genres zu seinem kleinen Essay heran. Dabei schlägt er manchmal weite Bögen, vom Recht eines jeden Samurai, unhöflichen Bauern kurzerhand den Kopf abzuschlagen (kirisute gomen), bis zu den Verbeugungen und Willkommensgrüßen, die uns heute noch in Kaufhäusern begegnet: "Irasshaimase!" heißt der Ruf, der sich manchmal wie ein Echo durch den ganzen Laden fortpflanzt, sobald man beim Eintreten gesichtet wird.

Vor allem in Krisensituationen wie im 19. Jahrhundert, sagt er, seien die Samurai-Erzählungen wichtig geworden. Hier bot sich vor allem der "Rônin" als Identifikationsfigur an, jener Samurai, der keinen Herren mehr hatte. Denn nach der Öffnung Japans waren auch die meisten Samurai arbeitslos (man denke an "Die sieben Samurai" von Kurosawa: alles Rônin, die sich irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen müssen). Er war eine interessante, ebenso zerrissene, aus dem traditionellen Gleis gebrachte Figur wie sie, ebenso auf der Suche nach einer Individualität: ein Mann, der nicht mehr nur für die Gesellschaft lebt und sich bedingungslos unterordnet, sondern der durchaus seinen eigenen Willen hat, mit dem "'image' des unabhängigen und exzentrischen Kriegers". Dabei bleibt aber die Rezeption durchaus ambivalent: "In diesem Kampf [Individualismus gegen Anpassung, GP] kämpft das Individuum, in dem sich je die Konformität der Gruppe, die paternalistische Abhängigkeit und die Einsamkeit der Masse spiegeln, aber immer zugleich auch gegen sich selbst."

Vor allem diese Ambivalenz macht die ständige Faszination aus: Jeder kann seine eigenen Wünsche und Sehnsüchte in die Bushidô-Texte hinein- und dann wieder herauslesen. Der eine den extremen Individualismus, den Kampf aller gegen alle, der andere die Unterordnung unter eine transzendente Instanz (Buddha, Zen oder was auch immer), der dritte den Aufruf, die Welt zu erobern, sei es militärisch oder wirtschaftlich. Im Bushidô-Text, wie ihn Bierwirth dekonstruiert, lässt sich alles finden. Leider ist sein Essay etwas zu wissenschaftlich geschrieben (mit ein paar wenigen Redundanzen), als dass er eine breite Wirkung entfalten könnte. Dabei wäre sein Buch eine schöne Ergänzung zu den apologetischen Entwürfen, denen man nicht nur in Esoterik-Buchhandlungen, Aikido-Seminaren und Manager-Schulungen begegnen kann. Er wäre ein schönes, sachliches Korrektiv für all den emotionalen Überschwang.


Titelbild

Gerhard Bierwirth: Bushidô. Der Weg des Kriegers ist ambivalent.
Iudicium Verlag, München 2005.
154 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3891298242

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch