Der 11. September und die Russenmafia

Robert Wilson erzählt ein zweites Mal von seinem Inspector Javier Falcón in Sevilla

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Santa Clara ist ein nobler Vorort von Sevilla mit Villen, Parks und Pools. Heiß ist es da im Sommer, unerträglich heiß. So heiß, dass man sich kaum regen mag. Und vielleicht dreht auch der eine oder andere durch. Wie Rafael Vega. Der Bauunternehmer mit dem unbekannten Vorleben wird an so einem heißen Tag in seiner Villa gefunden, mit einer kräftigen Portion Abflussreiniger vergiftet. Und seine Frau liegt in ihrem Schlafzimmer, mit einem Kissen erstickt. Eine Familientragödie? Ein Mord und anschließender Selbstmord? Inspector Javier Falcón weiß es nicht genau. Aber er glaubt es nicht. Irgendwie sieht es alles seltsam aus. Der Selbstmord lässt zumindest psychologisch auf ein enormes Schuldbewusstsein schließen (Selbstreinigung!), auf einen dunklen Hintergrund voller Geheimnisse. Obwohl er außer seinem vagen Gefühl keine richtigen Beweise hat, ermittelt Falcón weiter.

Die ganz normale Routine beginnt, und Falcón befragt die Nachbarschaft: Consuelo Jiménez, die die Toten gefunden hat und die er von einem früheren Mordfall her kennt, Martin Krugman, einen Architekten, und seine sehr attraktive und etwas mannstolle Frau Madeleine, außerdem den bekannten Schauspieler Pablo Ortega. Sie alle hatten kein besonders gutes Verhältnis zu Vega. Aber die Reichen kann man eben nicht so unter Druck setzen wie die Armen: Sofort steht ein Rechtsanwalt parat, ein befreundeter Staatsanwalt oder ein hoher Politiker, die ihrerseits Druck ausüben. Ein Skandal bei den Reichen? Das will keiner. Und so wird erst einmal vertuscht.

Aber der Gärtner, ein wichtiger Zeuge, ist und bleibt verschwunden. Und der seltsame Zettel in der Hand des Toten ist unverständlich und führt nicht so recht weiter: "... in der dünnen Luft sein, die ihr atmet, vom 11. September bis zum Ende...". Was hat der Anschlag auf das World Trade Center mit diesen Todesfällen zu tun? Es dauert eine Weile, bis Falcón daran erinnert wird, dass der 11. September für viele Menschen mit einem ebenso schlimmen Verbrechen zu tun hat: mit dem Putsch in Chile, der mit amerikanischer Hilfe durchgeführt wurde, der Ermordung des Präsidenten Allende, den KZs und Todesschwadronen und dem Faktum, dass Pinochet nie zur Verantwortung gezogen wurde.

Der Fall verzweigt sich sehr schön, mäandert in alle möglichen Bereiche, die manchmal nur wenig direkt mit ihm zu tun haben, viel aber indirekt. Da lässt sich der Staatsanwalt Esteban Calderón, der sich mit Falcóns Exfrau Ines verlobt hat, von Madeleine umgarnen, bis es fast zu einem weiteren Crime Passionel kommt, da beginnt der Inspektor eine Affäre mit einer der Zeuginnen und verliebt sich ernsthaft in sie. Da muss er sich auch wieder mit seiner eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen, die mancher vielleicht aus seinem Roman "Der Blinde von Sevilla" kennt: Sein als Künstler weltberühmter Vater war gar nicht sein Vater, sondern ein Mörder und Betrüger. Deswegen ist Falcón nach einem Nervenzusammenbruch auch immer noch in psychotherapeutischer Behandlung. Vor allem aber gerät er in das Visier der russischen Mafia, die sich in ihren Geschäften in Spanien gestört fühlt und ihn sehr subtil bedroht.

Falcón lässt nicht nach. Es gibt viele Indizien, viele Ungereimtheiten in diesem Fall. Falsche argentinische Papiere, ein Journalist, der herausfindet, dass Vega ein Folterer im Dienste Pinochets gewesen ist, ein junger Mann, der einen Knaben entführt hat und seitdem im Gefängnis sitzt, obwohl er ihn nicht missbraucht oder ihm irgendetwas angetan hat. Und dann auf einmal: weitere Selbstmorde und Tote, unter ihnen ein hoher Polizeibeamter.

Der Fall führt zur Russenmafia, zum Kindesmissbrauch, verschwiegener Schuld, erzwungener Prostitution, Menschenhandel, Brandstiftung. "Die Toten von Santa Clara" ist ein atmosphärisch sehr dichter Roman, sehr mitfühlend geschrieben, mit einem sensiblen und manchmal etwas verstörten Inspector, der aber nie locker lässt. Wie in den Krimis von Hammett und Chandler arbeitet sich der Ermittler an den verkrusteten Gesellschaftsstrukturen ab, stößt auf innige Beziehungen zwischen Unterwelt und Polizeiapparat und bekommt ganz direkt den Rat, nicht zu viel herauszufinden. Denn schließlich hat auch die Polizei, die teilweise noch tief in der faschistischen Franco-Ära steckt, selbst viel zu verbergen.

Am Schluss sind viele tot, und der Fall ist auch nicht richtig gelöst. Wer will auch gegen die eng geflochtenen Netze aus alten und neuen Machthabern angehen, gegen die übermächtige Russenmafia, gegen die eigenen Kollegen, gegen CIA und Pädophile, die aus der Spitze der Politik stammen? Wilsons Krimi beschreibt das Leiden seines Helden an der Macht mit solcher Lebendigkeit und Sympathie, Spannung und Glaubwürdigkeit, dass man versteht, wieso der Verlag den seltsamen Namen Page & Turner hat (ein Imprint von Goldmann). Und das, obwohl es alles sehr gemächlich vor sich geht, es keine überstürzten Handlungen gibt, keine Verfolgungsjagden, keine Hektik. Spannung ist eben auch so zu erzeugen: durch eine überzeugende Sprache und gute Dialoge, durch lebendige und hintergründige Charaktere, durch einen guten, fein konstruierten Plot und eine präzise Beschreibung der Gesellschaft.


Titelbild

Robert Wilson: Die Toten von Santa Clara. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Kristian Lutze.
Page & Turner Verlag, München 2005.
510 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3442202949

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch