Ertappte Seelen

Lothar Pikulik untersucht Schiller als dramatischen Psychologen

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Büchner spottete einmal, Schiller sei nur im Stande gewesen, "Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos" zu gestalten. Vorgeführt werde ein Puppentheater mit idealisch erhobenen Häuptern. Doch sollte dieses holzgeschnitzte Volk etwa beseelt sein, befähigt, menschlich zu handeln und zu fühlen? Dies zumindest behauptet Lothar Pikulik, der es sich in seiner aktuellen Arbeit über Schiller zur Aufgabe macht, die psychologische Leistung des dramatischen Dichters zu analysieren.

Was Schiller antreibt, sei die Absicht, seine Bühnenfiguren seelisch zu entblößen. Dieses methodische Programm, das in der Vorrede zu den Räubern formuliert wird, macht sich auch Pikulik zu eigen: "die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen". Während er überwiegend an der mentalen Disposition von Schillers Helden interessiert ist, geht es ihm aber zunächst um die seelische Verfassung von Schiller selbst. Denn die "Psychologische Selbsterfahrung" sei die Voraussetzung für das dramatische Schaffen. Doch die forcierte Verankerung Schillers in der empfindsamen Lebenswelt führt zu eigenwilligen Ergebnissen. Vor allem die Briefe aus den 1780er Jahren werden nicht nur herangezogen, um Schillers "Werther-Ähnlichkeit" festzustellen, auch sollen sie aufzuzeigen, dass seine Heirat erstaunlicherweise allein aus "therapeutischen Gründen" erfolgt sei.

Abgesehen von derart tiefenpsychologischen Ausflügen in die Seelenwelt des Dichters erweist sich die Studie jedoch als kompetenter Wegweiser durch den Kosmos Schiller`scher Dramen. Medizingeschichtliches, philosophisches und anthropologisches Gedankengut des 18. Jahrhunderts wird skizzenhaft vorgestellt, um die spezifische "Konzeption der Psyche" darzulegen. Besonders zwei Aspekte treten hier hervor: Einerseits das Moment der Seelenstärke, das sich im vehementen Ausdruck bewusster Handlungswünsche artikuliert, und andererseits das Moment der seelischen Nachtseiten, das in der Gegenbewegung auf die Hegemonie des Unbewussten zielt.

Kurzum: Der von Schiller dargestellte Mensch ist ein zerrissener. Da er als solcher zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen europäischen Gegenden anzutreffen ist, liegt es in der Absicht Pikuliks, möglichst viele Begegnungen zu arrangieren. Das gelingt im Rahmen seiner konzisen Werkinterpretationen, die den größten Raum des Buchs einnehmen. Großes Augenmerk gilt wiederholt der Körpersprache, da der sprechende Körper oftmals mehr verrät als alle mündliche Kommunikation. Denn im Erröten oder Erbleichen ist die innerste Seelenbewegung eher zu entdecken als in der geschwungenen Sentenz.

Ein Ausblick auf die ästhetische Konzeption rundet Pikuliks Studie ab. Schillers dramenpoetische Demonstration erhabenen Verhaltens soll auch den Leser animieren, den Vorbildern nachzueifern, um sich gleichfalls über die Fährnisse des Alltags zu erheben. Damit das möglich werde, sei die Kenntnis der Mitmenschen vonnöten. Diese Kenntnis aber vermittelt die Bühne, ihr Anliegen sei es, den "den Menschen mit dem Menschen bekannt" zu machen. Und der Leser erfährt, wie dramatisch Menschenkunde mitunter doch sein kann.


Titelbild

Lothar Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe. Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und Dramentheorie.
mentis Verlag, Paderborn 2004.
347 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 389785239X

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