Sterben will er nicht...

...und muss es doch. Zu Linn Ullmanns traurig-wunderbarem Roman "Gnade"

Von Sanja ZecRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sanja Zec

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johan Sletten ist kein besonders herausragender Mensch. Mut- und leidenschaftslos, zweifelbeladen, weder begehrt noch bewundert blickt er im Alter von 70 Jahren auf ein Leben zurück, in dem er stets darauf bedacht gewesen war, sich im Hintergrund zu halten. Als er erfährt, dass er aufgrund eines Krebsgeschwürs nur noch ein halbes Jahr zu leben hat, bricht seine Welt zusammen. Er hat Angst. Vor den Schmerzen, dem Sterbenmüssen und dem Tod. Doch dieser kommt in nur allzu großen Schritten näher.

Linn Ullmanns neuer Roman "Gnade" ist ein trauriges Buch - die Beschreibung einer trostlosen Biografie mit traurigem Ende. Denn Johan verharrt selbst nach dieser Diagnose in der gleichen Lethargie, die bereits sein ganzes Leben bestimmt hat. Er gibt sich zwar nicht auf, doch sein Überlebenswille überzeugt nicht. Es ist zweifelhaft, ob er überhaupt selbst daran glaubt, wenn er mit "dünner Stimme" seiner zweiten Ehefrau Mai versichert: "Ich will kämpfen."

Neben Johan steht die 17 Jahre jüngere Kinderärztin Mai im Zentrum des mittlerweile dritten Buches der norwegischen Autorin. Durch sie erfährt der frühzeitig pensionierte Feuilletonjournalist zum ersten Mal wahres Glück - ohne zu wissen, womit er diese in seinen Augen so wunderbare Frau eigentlich verdient hat. Seine erste Ehe mit Alice verlief bei weitem nicht so glücklich: Sie war dem introvertierten Johan viel zu aufgedreht und zu laut. "Wäre Alice nicht - nach zwanzigjährigem Zusammenleben mit ihm - von einem schwarzen Kombi auf dem Frognerveien angefahren, getötet und somit zum Schweigen gebracht worden, hätte er sie selbst angefahren, hatte Johan oft gedacht."

Mai umzubringen, fällt Johan hingegen im Traum nicht ein. Obwohl er auch mit ihr bereits über zwei Dekaden lang verheiratet ist, erscheint sie ihm immer noch wie ein zauberhaftes Rätsel. "Er zweifelte nicht an Mais Liebe. Er verstand nur nicht, warum sie ihn liebte." Sie scheint seine Schuldgefühle zu mildern, er nennt Mai liebevoll "seine Gnade": "Sie war seine Gnade und er war ihre Bürde." So bittet der Todkranke sie, ihm zu helfen, "in Würde" zu sterben - wenn er den Zeitpunkt für richtig hält.

Doch was zunächst wie die vielleicht mutigste Entscheidung seines Lebens aussieht, muss bald in Frage gestellt werden. Johans Angst vor dem Kontrollverlust in der Todesstunde wurzelt tief in seiner Jugend: Auch der Vater war unheilbar krank - und musste unter schwersten Schmerzen, schreiend und tobend von Johans Mutter im Schlafzimmer weggesperrt, alleine sterben. Sie habe nicht die Kraft gehabt, in den letzten Stunden bei ihm zu sein, erklärt die Mutter später. Doch erinnere sie sich seitdem nur noch an ihren sterbenden Mann. So gesteht sie einmal ihrem Sohn: "Jedes Mal, wenn ich versuche, Vater vor mir zu sehen, sehe ich nur Bilder der letzten Tage. [...] Ich versuche, andere Bilder vor mir zu sehen. Gute Bilder. Aber ich schaffe es nicht. Ich kann mich gegen all das Ekelhafte nicht wehren." Wenn er also sterben muss, dann nicht so wie der Vater, dessen ist sich Johan bewusst. Doch sterben - und an diesem Punkt trifft den Leser die ganze Traurigkeit des Buches - will er eigentlich nicht. Als Mai schließlich zur Tat schreitet, um den körperlich Ausgemergelten endgültig zu erlösen, wird sie entzaubert. Eine kleine Katastrophe nimmt ihren Lauf.

In einer bemerkenswerten Sprache der Leichtigkeit führt die Autorin den Leser durch eine Geschichte, die sich beinahe ausschließlich um schwermütige Gedanken, Krankheit und Tod dreht. Das außergewöhnliche Gespür für Sprache und Struktur, die sehr feine Beobachtungsgabe und die psychologisch genaue Zeichnung der Charaktere machen "Gnade" zu einem außergewöhnlichen Roman. Mutig ist die Wahl des Protagonisten, und sie wird belohnt. Johan Sletten ist einer der wohl menschlichsten Romanhelden seit langem. Sein Leben, das wie ein Film vor seinem inneren Auge abläuft, wird greifbar, keine Episode ist überflüssig. Wer hier nicht mitleidet, wer hier nicht erschrickt vor der Grausamkeit des Lebens, der hat dieses Buch nicht verstanden.


Titelbild

Linn Ullmann: Gnade. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Droemersche Verlagsanstalt, München 2004.
160 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3426196522

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