Die Verwalter Goethes

Einblicke in die Geschichte der Weimarer Goethe-Gesellschaft

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Goethe in Gesellschaft" lautet der Titel dieses Bands zur "Geschichte einer literarischen Vereinigung". Es ist allerdings nicht "eine" literarische Vereinigung, sondern - um das Selbstverständnis der "Vereinigung" zu antizipieren - es ist die wichtigste literarische Vereinigung des deutschsprachigen Raums. Sie vertritt den exponiertesten Autor um 1800: Johann Wolfgang Goethe. 1885 in Weimar gegründet, ist sie zwar nicht die älteste deutschsprachige Literaturgesellschaft - die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft wurde noch etwas früher ins Leben gerufen, was wohl auch der Grund für den ersten Beitrag im Sammelband über ebendiese ist -, aber die älteste, die sich einem deutschsprachigen Autor widmet.

Stellt das Buch die Frage nach Goethes Gesellschaft? Oder ob Goethe sich überhaupt in Gesellschaft befindet? Mit dem etwas platten Wortspiel und dem scheinbar intendierten Wechselspiel mit der Titelabbildung, die eine Gruppe von Büsten der literarischen Protagonisten Weimars um 1800 gibt, von denen nicht einer seinen Blick Goethe zuwendet, gehen es die Herausgeber des Bands mit großen Schritten an. Mit 14 Beiträgen versuchen die Autoren Goethe und seiner "Verwaltung" in einer Literaturgesellschaft näher zu kommen. Zeitabschnitte des Bestehens der Gesellschaft werden mit einzelnen Aufsätzen skizziert und unter verschiedenen Blickwinkeln abgearbeitet.

Das Themenspektrum deckt aber nur spezielle Aspekte der Goethe-Rezeption im Kontext der Goethe-Gesellschaft ab und lässt viele Fragen, die ein kritischer Beobachter an die Geschichte der Gesellschaft und an die "Goethesche Erbeverwaltung" im deutschen Kaiserreich, im Nationalsozialismus und bis hinein in die Gegenwart stellt, offen. Den im Raum stehenden Fragestellungen zu den Wechselwirkungen von organisierter institutionalisierter Literaturverwehrung und nationalen Identitätsdefinitionen am nächsten kommt noch Norbert Oellers mit seinem Aufsatz zur Sophien-Ausgabe als nationaler Unternehmung.

Darüber hinaus findet man noch eine ansehnliche Anzahl von Beiträgen, denen man an manchen Stellen den Charakter von Vorträgen hätte nehmen können - der Band ist aus einem 2002 veranstalteten Symposion hervorgegangen -, die aber trotzdem für die Goetherezeption wichtige Aspekte bearbeiten. Positiv hervorgehoben sei der Aufsatz von Stefan Breuer über "Goethekult - Eine Form des ästhetischen Fundamentalismus?", Angelika Pöthes mit "Gründung der Goethe-Gesellschaft - Frühe Formen der Goethe-Pflege" und der Beitrag von Ehrhard Bahr "Julius Petersen und die Goethe-Gesellschaft in Weimar zwischen 1926 und 1938".

Völlig unverständlich bleibt dabei aber, warum sich der Beitrag über die Hauptversammlungen der Gesellschaft auf die Jahre 1954 bis 1960 beschränkt, sind diese doch im Zusammenhang mit den jeweiligen Festvorträgen eines der markantesten Indizien für die Entwicklung der Literaturgesellschaft - in politischer wie auch in kulturhistorischer Sicht. Problematisch bleibt auch die Feststellung im Vorwort des Bandes zum Verhältnis von Nationalsozialismus und Goethe-Gesellschaft. Denn nicht etwa die Rolle des Vorstandes der Gesellschaft ist gemeint, z. B. von Julius Petersen und dem Insel-Verleger Anton Kippenberg zu den nationalsozialistischen Organisationen und Vereinigungen und ihr diesbezügliches Taktieren, sondern es ist die Beschreibung des Verhältnisses von Goethe zu den faschistischen Machthabern und eine damit einhergehende merkwürdige Trennung von Goethe und Nationalsozialismus: "Die Hinwendung zu Goethe blieb für Mitglieder der Gesellschaft Trost und humaner Fluchtpunkt auch in barbarischer Zeit, zumal die Nazis mit Goethe im Grunde nicht viel anzufangen wußten und insgeheim zynisch auf das 'Aussterben' der Gesellschaft hofften."

Vielleicht ist die Formulierung auch nur missverständlich oder undifferenziert formuliert, aber beschrieben wird hier eine naive Auffassung, Dichter, Leser und Literatur könnten durch die humanistische Qualität der Inhalte vor Barbarei, vor Faschismus und Menschenverachtung geschützt werden. Möglicherweise passt die Erklärung, Goethe hätte für die nationalsozialistischen Funktionäre keinerlei Bedeutung gehabt, besser in einfach strukturierte Welterklärungsmodelle - zumindest bleibt Goethe dabei unbeschadet von der Vergangenheit, von der Gegenwart dann allerdings nicht mehr. Denn dass diese Auffassung zu kurz greift und an einem Teil der Goetherezeption vorbeidenkt, darauf verweist die Rezeptionsgeschichte Schillers, Hebbels, Kleists und natürlich auch Goethes, und dies ist nach den Forschungsergebnissen der letzten zwanzig Jahre nicht wirklich überraschend. Daher ist es vielleicht auch nicht so verwunderlich, dass z. B. den Aktivitäten der auch nationalsozialistisch organisierten Vertreter in der Goethe-Gesellschaft wenig Beachtung geschenkt wurde, obwohl dazu schon verschiedene Untersuchungsergebnisse vorgelegt wurden. Dies wird dann wohl eher einer kritischen monografischen Arbeit über die Goethe-Gesellschaft vorbehalten bleiben.

Der Band ist trotz dieser Anmerkungen ein Schritt auf dem Weg zu einer kritischen Institutionsgeschichte. Es sei ihm die ihm gebührende Verbreitung zuteil.


Titelbild

Jochen Golz / Justus H. Ulbricht (Hg.): Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland.
Böhlau Verlag, Köln 2005.
215 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3412188050

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