Das große Einsammeln der Welt
Die Märchen des ungarischen Filmtheoretikers und Dichters Béla Balázs sind neu erschienen
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBéla Balázs war ein von Märchen Besessener. Hätte er gekonnt, er hätte wohl ein Ministerium für Märchen gegründet. 1919, als er sich im Nachkriegsungarn für die kommunistische Räterepublik engagierte, richtete er im "Volkskommissariat für das Unterrichtswesen" seines Freunds Georg Lukács als Erstes eine Märchenabteilung ein. Sehr zum Ärger der sozialistischen Hardliner, für die verwunschene Prinzen oder schlafende Prinzessinnen nur kapitalistische Überbleibsel waren. Balázs hatte an sie noch appelliert: "Nehmt den Kindern nicht das Märchen! [...] Das Kind sieht um sich herum Märchen, für das Kind ist jeder Gegenstand lebendig, auch wenn wir ihm Marx vorlesen."
Dabei hatte der ungarische Dichter, der der Nachwelt einzig als Filmtheoretiker in Erinnerung bleiben sollte, Märchen kaum weniger nötig. Zwei Jahre später, 1921, als der Traum von einer neuen Gesellschaft längst ausgeträumt war, musste er im Wiener Exil von Auftragsarbeiten leben. Eine davon war, in wenigen Tagen zu 20 Aquarellen "in grotesk chinesischem Stil" von Mariette Lydis kurze Geschichten zu schreiben. "Sie müßten, um noch zu Weihnachten erscheinen zu können, in drei Wochen fertig sein. (Also täglich ein Märchen.) Der sportliche Aspekt der Sache reizte mich - ich nahm an. Am ersten Tag schrieb ich zwei kleine Märchen auf Deutsch, als Probe. Sie gefielen sehr. Dann, im wundervollen Oktober in Reichenau, habe ich das ganze Buch fertiggeschrieben, leicht wie im Flug. [...] Es war ein vergnügliches Spiel. Schöne Frauen haben mir dabei geholfen, auch der Kaffee und der Schnaps, mit dem ich mich (wegen der Eile) ausnahmsweise stimulierte."
Soweit Balázs Version der Entstehungsgeschichte. 1922 sind die 16 "chinesischen Novellen" schließlich unter dem Titel "Der Mantel der Träume" erschienen. Ein erstaunlicher, aber erklärbarer Schaffensrausch. Denn der heimatlos gewordene Balázs, der sich selbst als "ewigen Wanderer" bezeichnete, hätte sich kaum bessere Vorlagen wünschen können als Lydis' rätselhafte Motive voller Wehmut. Wie jenen bis an die Zähne bewaffneten chinesischen Krieger. Einsam steht er in der Einöde, die untergehende Sonne im Rücken, und blickt den Betrachter an, als breche er gleich in Tränen aus. Gleich drei Mal lässt Balázs ihn um die Hand von Königstöchtern kämpfen und siegend verlieren. Denn seine maßlose Kraft ruft nicht Liebe, sondern nur Trauer um den verstümmelten Unterlegenen hervor.
"Fabelnde Deutungen höchst launenhafter Vorlagen, und in dieser Eigenschaft wirklich bewunderungswürdig", urteilte seinerzeit Thomas Mann über diese bezaubernd melancholischen, mitunter auch schaurigen Texte, die übrigens auf Deutsch geschrieben wurden. Dafür, dass sie jetzt zusammen mit Lydis' Aquarellen und einigen frühen Märchen Balázs' neu erschienen und damit nach über 80 Jahren erstmals wieder erhältlich sind, darf man dem Herausgeber Hanno Loewy dankbar sein.
Es sind einfache, aber wirkungsvolle Mittel wie Wiederholungen, exotische Requisiten und bizarre Details, mit denen der in ostasiatischen Weisheitslehren bewanderte Balázs die Illusion von Authentizität erzeugt. Gekonnt verleiht er seinen Geschichten von wiedergeborenen Flöhen, alten Kindern und ungeschickten Göttern die archetypische Aura von Volksmärchen. Balázs' Fabulierlust zeigt sich gerade an der Titelgeschichte, die dem Herausgeber "wie der poetische Entwurf zu seiner Ästhetik des Kinos" erscheint. Um ihre Ehe zu retten, näht die ruhelose Gattin für ihren Mann, den Kaiser, einen Mantel, prächtig bestickt mit dem ganzen Traumland, "nach dem ihre Seele sich sehnte". "Ich habe eine träumende Seele, weil ich in meinem vorigen Leben zu früh gestorben bin. Und es schweift mein Blick von dir weg, unsere Liebe leidet Schaden, und ich kann meinen Schwur nicht halten. Darum sollst du meine Träume an dir tragen, damit ich dich sehen kann, wenn ich ihnen nachsehe, und wenn ich ihnen nachgehe, soll ich ankommen in dir."
Zieht also der Kaiser den bestickten Mantel an, ruht der Blick seiner Gattin auf ihrem Mann und den Projektionen ihrer Fantasie gleichermaßen. Wunsch und Realität kommen in der Imagination überein - freilich um den Preis, Mann und Mantel auf Distanz halten zu müssen, nicht anders als eine Kinoleinwand. Kaum weniger fragil erscheint die Wunscherfüllung in der Novelle "Die Sonnenschirme". Ein armer, von all dem Reichtum auf der Straße geblendeter Mann kauft sich einen Schirm nach dem anderen. Mit den herrlichsten Himmeln der Erde sind ihre Innenseiten bemalt, doch keiner vermag den Mann glücklich zu machen. Erst ein Herbstabendhimmel, auf dem Wildgänse nach unbekannten Fernen ziehen, befriedigt Blick und Seele.
Solche Kompromisse mit der Wirklichkeit sind nicht immer möglich. In "Das Buch des Wan Hu-Tschen" wird der Protagonist vom Geschöpf seiner Phantasie für immer ins "Tal der weißen Apfelblüten" geführt. Ähnlich ergeht es dem armen Fischer in "Der Mondfisch", als er einen jener unzähligen Splitter findet, zu der ein heruntergefallener Zauberspiegel zerbrochen ist. Von ihnen heißt es: "Weil aber in jedem Splitter das Bild der Mondfee war, lebten alle Bilder als silberne Fische im Wasser weiter und warteten auf das große Einsammeln der Welt."