Berliner Geschichten

Elisabeth Herrmann betreibt Vergangenheitsbewältigung

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bücher verdanken sich allzu oft Anliegen und Botschaften, die mit ihrer Hilfe an Mann und Frau gebracht werden sollen - und nicht immer sind es diese Anteile, die die Texte lesenswert machen. Das ist bei Elisabeth Herrmanns Krimi-Erstling "Das Kindermädchen" nicht anders: In diesem Fall sind es die ganz Jungen unter den sowjetischen Zwangsarbeitern im Dritten Reich, für die Aufmerksamkeit gefordert wird. Auch deren Schicksal ist vielleicht sogar zu wenig bekannt, auch ihre Ansprüche sind gerecht, und auch ihnen gegenüber besteht die Ungerechtigkeit nicht nur darin, dass sie verschleppt und in den Dienst gepresst worden sind, sondern auch darin, dass dieses Unrecht nach 1945 verdrängt worden ist.

Trotzdem ist Herrmanns Buch kein Plädoyer und kein Aufruf zur politischen Aktion, sondern ein ganz normaler Krimi, in dem die zu bewältigende Vergangenheit die Handlung antreibt und die wichtigsten Akteure, die sich schließlich dem Auftrag verschreiben, das verwirrte Garnknäuel von Vergessenem und Erinnerungen, alter Schuld und neuen Forderungen aufknüpfen. An dessen Ende steht dann - auch hier - ein gelöster Fall, ein überführter Täter (unsympathisch) und Ermittler, die sich selbst aus sämtlichen Verwicklungen haben befreien können und zu neuen Tataufklärungen bereit sind. Im Vergleich dazu ist der politisch-moralische Ausgangspunkt fürs Schreiben nebenrangig.

Das "Dritte Reich" ist und bleibt eine der wichtigsten Inspirationsquellen für das Kriminale, unabhängig davon, ob tatsächliche oder erfundene Vergehen die Untaten der Gegenwart hervorbringen, unabhängig davon, ob die NS-Vergangenheit als Wiedergänger auftritt, ob Verschwörungstheorien sich ins braune Gewand kleiden, ob angebliche oder tatsächliche Mythen (Das Bernsteinzimmer, gab's das überhaupt? Der Goldschatz der Nazis, wo soll der sein?) ihrer endlichen Aufklärung harren. Aufklärung über verdrängtes und vergessenes Unrecht und willkommene Folie für jede beliebige Spinnerei: Das Dritte Reich muss und kann für alles herhalten. Und was davon als genretypischer Überbau oder als gesellschaftlicher Auftrag wahrgenommen wird, ist lange noch nicht heraus. In diesem Sinne ist also Herrmanns Anliegen sympathisch, aber ob die Autorin ihr Anliegen angemessen transportieren kann, das bleibt offen. Um nicht zu sagen: Eigentlich spielt das überhaupt keine Rolle.

Bleibt also das Porträt einer Zeit und ihres Personals, und da zeigt sich Herrmann in der Tat von einer starken Seite. Zumal sie einige Themen fast schon souverän miteinander verbindet: Politisches und Genderthemen, dazu Porträts der sozialen Berliner Oberschicht wie der politischen Klasse im neuen Deutschland. Mit Joachim und Marie-Luise erfindet sie ein Ermittlerpärchen, das bereits jetzt viel Spaß macht, gerade weil es so gegensätzlich und unvereinbar zu sein scheint. Beide sind Rechtsanwälte und werden im Laufe des Romans von Gegnern zu Partnern, die sich sogar an die Aufklärung geheimnisvoller Morde machen.

Die ausgeflippte Feministin mit der großen Klappe, die darunter leidet, dass sie nur die Geliebte eines abgehalfterten Szeneanwalts ist, der Schwiegersohn, Partner und Politikerinnengatte in spe, der innerhalb weniger Stunden zum Ex in allen Fällen wird und schließlich gar zur vernachlässigten Mutter ziehen wird. Vergessen wir also die Passagen, in denen uns Autorin, Erzähler oder Figuren die Welt allzu hausbacken erklären müssen und konzentrieren wir uns auf die Lösung des Falles und die Präsentation der Begleitumstände.

Dazu gehört, dass Männer und Frauen gleichermaßen gemischte Charaktere sind, keiner ist nur toll und keiner nur blöde. Nur der Böse ist durchgängig indiskutabel, und so geschieht es ihm recht, wenn er am Ende seiner eigenen Habgier und der Hand der getäuschten Liebhaberin zum Opfer fällt. Marie-Luise muss am Anfang lauter haltlose Sätze sagen, die vielleicht politisch korrekt sind, aber mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Joachim darf so begriffsstutzig sein, wie nur ein Mann sein kann (wenn man gewöhnlich derart urteilenden Kreisen folgen darf). Sigrun, seine spätere Ex - Hauptstadtpolitikerin auf dem Sprung zu höheren Aufgaben und nervös, weil knapp vor der Wahl - verliert im Laufe des Romans nicht nur den Mann, sondern auch die Contenance. Die weltgewandte Oberschichtendame, deren Terminkalender auch die Beziehungsgespräche mit dem zukünftigen Gemahl verzeichnet, gerät zum hilflosen und angsterfüllten Töchterchen aus gutem Hause, das sich die Welt so zurecht legt, wie sie ihr gefällt. Ihr Vater, Utz, hingegen, der sich anfangs den aufklärerischen Attacken seines künftigen Partners verweigert, mutiert zu einem einigermaßen abgeklärten Patriarchen, der von seinem imaginären Thron steigt und sich seiner Schuld und damit seiner Vergangenheit stellt - eine Nacht unter der Erde, eingemauert, kann Wunder wirken.

Ausgangspunkt des Ganzen ist eine alte Frau, die eines Tages aus dem Nichts auftaucht und verlangt, dass der Hausherr, Utz, einen russisch verfassten Zettel unterschreibt. Gut fünfzig Seiten später folgt eine deftige Prügel-, genauer: Verprügelszene, der erneut Joachim zum Opfer fällt (wie auch später sein Gesicht diverse Demolierungsstufen durchlaufen darf). Das Anfangstempo ist also hoch, und - mit einigen lahmeren Passagen, die der Politaufklärung dienen - es bleibt auch hoch. Dass beide Frauen nach dem Vater der Braut fragen und kurz danach verschwinden - die eine tot aufgefunden wird, während die andere unters Auto gerät -, ist mehr als bedenklich, und Joachim fängt in der Tat an zu denken, und zu fragen.

Aber niemand will Fragen hören, und Antworten gibt es ebenso wenig. Zum Beispiel auf die Frage, wer die geheimnisvolle Natalja sein soll, die so viele Sendboten nach Berlin schickt, damit Utz einen Zettel unterschreibt. Wir erfahren nach und nach, dass der Zettel Natalja die erhoffte Entschädigung für ihre Zwangsarbeiterjahre verschaffen soll, dass Utz sich ganz gegen seine anfänglichen Behauptungen sehr gut an sie erinnern kann, aber sie für tot gehalten hat, hingerichtet für ein Vergehen, das eigentlich er begangen hat. Diese Schuldverarbeitungsgeschichte wird eng verknüpft mit einer Kunstschatzsuche. Aber - gerecht wie es in der Welt des Kriminalromans zugeht - verbrennt die Beutekunst, die über fünfzig Jahre in einem Keller in Ostberlin überdauert hat. Der Enkel dessen, der diese Kunst versteckt hat, die aus den großen Raubzügen Görings durch die Museen Europas stammt, wird sich von der Habgier überwältigen lassen und deshalb am Ende leer ausgehen.

Dass, wie in solchen NS-Folge-Räuberpistolen zumeist, das unverhofft wieder erschienene Kulturgut den Flammen zum Opfer fällt, lässt sich selbstverständlich hervorragend symbolisch einsetzen, als zweite Vernichtung nach dem Raub durch die Nazis, als Zeichen dafür, dass die deutsche Schuld überdauern wird, oder ähnliches mehr. Aber letztlich ist auch das nur eine blinde Spur. Die Fülle der Zeichen, Verweise, Irrwege, der verbalen und handgreiflichen Attacken verbietet ein solches Verfahren hingegen, der Roman zieht sich statt dessen darauf zurück, dass am Ende alle Fäden aufgenommen, alle Bösen bestraft sind und die Wirklichkeit dort draußen nicht - via Literatur - um einige Meisterwerke der klassischen Moderne reicher geworden ist.


Titelbild

Elisabeth Herrmann: Das Kindermädchen. Roman.
Rotbuch Verlag, Hamburg 2005.
433 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3434531386

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