Ein siegreicher Rotarmist

Das "Deutschland-Tagebuch" des Wladimir Gelfand berichtet vom Kriegsende in Berlin aus der Sicht eines Soldaten der Roten Armee

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Befreiung der Deutschen vom Hitlerfaschismus ist im Osten des damaligen Deutschen Reichs mit dem Vormarsch der Roten Armee verbunden. Im kollektiven Gedächtnis haften geblieben sind die Bilder langer elender Flüchtlingstrecks, getrieben von Ängsten, die die Nazipropaganda erfolgreich geschürt hatte, indem sie die heranrückenden Soldaten der Sowjetarmee als grausame, unzivilisierte, auf Rache sinnende Unmenschen beschrieben hatte.

Über den einzelnen Rotarmisten, der sein Leben einsetzte im Kampf gegen die zusammenbrechenden Reste des großdeutschen Wahnsinns, ist bis heute wenig bekannt. Sein Gesicht verschwindet im diffusen Bild des Kollektivs der Roten Armee. Doch sie alle hatten Namen - einer von ihnen war der 22-jährige Offizier, Wladimir Gelfand. Er kam aus der Ukraine, seine jüdische Familie gehörte einem proletarisierten Milieu an, das im Zuge der forcierten Industrialisierung der Sowjetunion entstanden war. In diesen Lebensverhältnissen legten die Eltern Wert auf Bildung. Der Junge entwickelte literarische Neigungen. So geprägt trat er 1942 in den Großen Vaterländischen Krieg ein. Er wurde Soldat der Sowjetarmee. Als Führer eines Granatwerferzugs überschritt er im Januar 1945 die deutsche Grenze, kämpfte in der vordersten Linie und kam schließlich mit den siegreichen Spitzen der Roten Armee nach Berlin. Bis zu seiner Demobilisierung im September 1946 blieb er in Deutschland. Während seiner Soldatenzeit führte Gelfand ein Tagebuch. Dieses Tagebuch, ergänzt um einige Briefe und den Soldatenalltag illustrierende Dokumente aus den anderthalb Jahren des Deutschlandaufenthalts, liegt nun vor. Überliefert hat es der Sohn des Verfassers, als er 1995 nach Deutschland auswanderte. Eine zusätzliche kleine Fußnote in der Geschichte deutsch-russischer Beziehungen...

Die Aufzeichnungen setzen am 13. Januar 1945 ein. Noch befindet sich die Armee auf polnischem Gebiet, aber schon am 28. 1. notiert Gelfand: "Deutschland hat uns unwirtlich empfangen, mit Schneegestöber, heftigem Wind und leeren, fast ausgestorbenen Dörfern. Die Leute hier, die Deutschen fürchten den Zorn des Russen. Sie fliehen und lassen ihr Hab und Gut zurück." Nicht wenig ließen sie zurück, wie der Tagebuchschreiber zwei Tage später notiert: "Der Luxus der Einrichtungen ist kaum zu beschreiben, der Reichtum und die Erlesenheit dieser Sachen sind überwältigend. Unsere Slawen werden Augen machen!" Es wird geplündert und der Chronist bemerkt: "Niemand verbietet uns, den Deutschen das zu nehmen und zu zerstören, was sie zuvor bei uns geraubt haben. Ich bin durchaus zufrieden." Das rechtfertigt in seinen Augen aber keine besinnungslose Zerstörung. Als jemand eine Goethe-Büste zu zerschlagen droht, greift er ein und entreißt sie "diesem Narren": "Genies können nicht mit Barbaren gleichgesetzt werden, und ihr Andenken zu zerstören ist für einen zivilisierten Menschen eine große Sünde und Schande." Die Episode ist bemerkenswert, weil sie den Chronisten so zeichnet, wie er sich selbst mit Stolz sieht: als "zivilisierten Menschen" - dem Gegenteil dessen, was die Deutschen von ihm denken.

Doch nicht alle Sieger verhielten sich derart den Besiegten gegenüber. Leidvoll erfuhren dies vor allem die Frauen und Mädchen. Von den massenhaften Vergewaltigungen war lange Zeit keine Rede, erst in letzter Zeit rückte dies demütigende Siegerverhalten wieder in den Augenschein. Typisch für den Ausnahmezustand jener Tage, von welchem der Bericht einer "Anonyma" aus Berlin beeindruckend zeugt, ist eine Begebenheit, die Gelfand wenige Tage nach der Eroberung Berlins berichtet. Als er zwei Frauen auf der Straße seine Hilfe anbieten möchte, reagieren diese eigenartig, denn "plötzlich blickten mich unerwartet diese smaragdenen Augen an, blickten mich so verteufelt eindringlich an. [...] Ich musste unbedingt herausfinden, was diese Frauen quälte. [...] Schreckerfüllt erzählten sie von dem Leid, das ihnen die Sturmtruppen der ersten Nacht, als die Rote Armee einrückte, zugefügt hatten." Dann aber "bedrängte mich das Mädchen plötzlich. [...] Du kannst mit mir machen, was Du willst, doch nur Du allein. Ich bin bereit mit Dir (fick-fick), zu allem bereit... nur rette mich vor all diesen Männern mit diesen Schw...!" Mit der leiderfahrenen Überlebensstrategie des "Essen Anschlafens" der Frauen kann der junge Rotarmist wenig anfangen. Zwar lässt auch er sich auf sexuelle Kontakte ein, aber er vermerkt, er stimme "mit den deutschen Frauen [...] ideologisch und moralisch nicht überein..."

Stattdessen zeugt das Tagebuch von einer normalen, jugendlich idealisierten Liebessehnsucht. Sie ist Teil einer Persönlichkeitsstruktur, die es schwer hat in den Kriegs- und Militärrealitäten. Immer wieder berichtet das Tagebuch von Konflikten mit Vorgesetzten und Kameraden. Er fühlt sich benachteiligt und falsch beurteilt: "Was soll ich machen?" notiert er einmal. "Bei wem soll ich Wahrheit und Gerechtigkeit suchen? Gott gibt es nicht und außer ihm kann niemand wissen, was ich durchgemacht habe. Rapporte, auf die pfeift man für gewöhnlich überall. Oh Schicksal!" Zugleich aber widersetzt er sich bewusst der tumben Trägheit des Militärapparates. Nach dem strengen Fraternisierungsverbot für die sowjetischen Soldaten notiert er am 9. August 1945: "Das kann doch nicht sein! Wir sind Menschen, wir können nicht in einem Käfig sitzen, um so mehr, als... die Bedingungen und das Leben in den Kasernen uns bereits, verflixt noch mal, zum Halse raushängen. [...] Was will ich? Freiheit! Die Freiheit zu leben, zu denken, zu arbeiten, das Leben zu genießen. Jetzt ist mir alles genommen." Zwar weiß er sich immer wieder der ungeliebten Kasernenroutine zu entziehen, endgültig befreit ihn aus der Strenge aber erst die ersehnte Demobilisierung, die Rückkehr nach Hause.

Interessant sind diese Tagebuchaufzeichnungen, weil sie so 'normal' sind. Die Aufzeichnungen eines jungen Mannes bieten keine spektakulären Einsichten, auch keine bedeutsamen Reflexionen zum Zeitgeschehen. Aber sie lassen ein Individuum erkennbar werden in jenem uns bisher weitgehend unbekannten Kollektiv - ein Armist in der Roten Armee.


Titelbild

Wladimir Gelfand: Deutschland-Tagebuch 1945-1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten.
Ausgewählt und kommentiert von Elke Scherstjanoi.
Übersetzt aus dem Russischen von Anja Lutter und Hartmut Schröder.
Aufbau Verlag, Berlin 2005.
357 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3351025963

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