Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Kassner und der moderne Essay
Zu Klaus E. Bohnenkamps anregender Sammlung von Briefen und Dokumenten und Slawomir Lesniaks wenig hilfreicher Typologie des modernen Essays
Von Simon Jander
Der Philosoph und Schriftsteller Rudolf Kassner (1873-1959) gehört zu den wenig bekannten und erforschten Autoren der Moderne, und seine insgesamt spärliche Rezeption ist zudem eng an zwei berühmte Freunde gebunden: Rilke und Hofmannsthal. Literaturgeschichtlich taucht sein Name in der Regel nur in ihrem Kontext auf, die Philosophiegeschichte kennt ihn so gut wie gar nicht. Die Freundschaft mit Rilke und Hofmannsthal bedeutet für Kassner also Segen und Fluch zugleich: Einerseits bewahrt sie ihn vor dem Vergessen, andererseits reduziert sie ihn zu einer interessanten philosophischen Fußnote. Kassner aus dieser rezeptionsgeschichtlichen Sackgasse herauszuführen und vor dem heutigen Leser in ein objektives historisches Licht zu setzten, scheint das Ziel der Editionen des Kassner-Experten Klaus E. Bohnenkamp zu sein. Nachdem er vor einigen Jahren bereits die Freundschaft zwischen Kassner und Rilke ausführlich dokumentiert hat, ist nun ein Band mit Briefen und Dokumenten zu Kassner und Hofmannsthal erschienen.
Bohnenkamp wählt ein sehr leserfreundliches Prinzip für seine Zusammenstellung, indem er die Beziehung zwischen Kassner und Hofmannsthal anhand des Materials (neben dem Briefwechsel selbst auch Briefe an Dritte, Erinnerungen und andere Aufzeichnungen) chronologisch dokumentiert und jeweils im Anschluss ausführlich erläutert. Diese Erläuterungen sind durchweg kenntnisreich und verzichten wohltuend auf Wertungen und Spekulationen, die dem Leser überlassen bleiben. So ergibt sich eine stringent geordnete Sammlung verschiedenartiger Texte, die einen dreifachen Einblick ermöglicht: in das nicht immer unkomplizierte Verhältnis beider Autoren, in die schwer zugängliche Gedankenwelt Kassners und schließlich in das intellektuelle und kommunikative Leben Wiens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts - und das, obwohl der Herausgeber selbst die Editionsgrundlage der Korrespondenz als insgesamt unbefriedigend bezeichnet, da zahlreiche Briefe, vor allem Hofmannsthals, nicht erhalten sind. Dazu kommt, dass der Hauptteil des Austauschs im direkten Gespräch stattfand, wovon zahlreiche schriftliche Verabredungen zu Treffen vor allem bei den Hofmannsthals in Rodaun Zeugnis geben.
Der erhaltene Briefwechsel zwischen den beiden Schriftstellern beginnt 1901 und bricht zunächst 1907 wieder ab, um nach einer längeren Pause erst wieder in den 20er Jahren bis zu Hofmannsthals Tod fortgesetzt zu werden. Die Jahre dazwischen füllt ein lebhafter Briefwechsel zwischen Kassner und Hofmannsthals Frau Gerty, der einen sehr viel humorvolleren und persönlicheren Ton besitzt als der teilweise etwas angestrengte intellektuelle Austausch zwischen den beiden Autoren.
Dieser ist von Beginn an von hohem gegenseitigem Respekt geprägt, vor allem Hofmannsthal rühmt Kassner als philosophischen Schriftsteller höchsten Ranges und wertvollen persönlichen Gesprächspartner. Bereits in seinem ersten Brief an Kassner schreibt er über dessen gerade erschienenen Erstling "Die Mystik, die Künstler und das Leben": "Ich glaube, daß niemals in einem Buch so tief eindringende Gedanken über Künstler und Kunstwerke ausgesprochen worden sind; alles von Nietzsche ist ja viel allgemeiner." Anhand der frühen ästhetischen Schriften Kassners kann Hofmannsthal seine eigenen, oft etwas vagen und allgemeinen ästhetiktheoretischen und poetologischen Reflexionen schärfen, noch wichtiger aber ist etwas anderes: Im Spiegel der Texte Kassners begegnet sich Hofmannsthal selbst als Künstler. Eine sehr persönliche und existenzielle Lektüre führt ihn zu einem "Begreifen, warum man dichtet, was das ist, wenn man dichtet, was es mit dem Dasein zu tun hat." Kassners bildreiche Antizipationen des Künstlers als mystischer Weltdeuter und -verwandler bescheren Hofmannsthal "Glücksgefühle des Lesens und Verstehens" - und das heißt vor allem: des Selbstverstehens.
Ein ganz anderes Bild ergibt sich in umgekehrter Richtung: Kassners Reaktionen auf die Schriften Hofmannsthals sind betont analytisch, scharfsichtig und durchaus kritisch. Während er Werke wie die "Elektra", den Chandos-Brief oder den Schiller-Essay hoch schätzt, finden sich deutlich kritische Bemerkungen zu den Dramentexten "Ödipus und die Sphinx", "Das gerettete Venedig" und "Das Salzburger Große Welttheater" sowie zu dem wichtigen Essay "Der Dichter und diese Zeit". Von Kassner stammt auch eines der ersten differenzierten Urteile zu Hofmannsthals berühmter Schrifttums-Rede (erschienen 1927), deren problematische Vermischung von ästhetischem und politischem Diskurs er klar herausstellt: "Ich liebe sie als große, als noble Prosa sehr. Der Schluß ist etwas wolkig. Auch mag ich das 'conservative Revolution' nicht. Das ist so neudeutsche 'politisch-philosophische' Ideologie u. stimmt nur an der Oberfläche und paßt nicht zur echten Getragenheit des Anfangs."
Es mögen diese Momente der Skepsis und auch Kassners zunehmende Konzentration auf nicht-ästhetische philosophische Themen gewesen sein, die dazu geführt haben, dass die Kommunikation zwischen beiden eine gewisse Distanz letztlich nie überwunden hat. Andererseits ist gerade diese Distanz wohl für die Kontinuität des freundschaftlichen Verhältnisses verantwortlich - eine Eigenschaft, die bei Hofmannsthals krisenreichen Freundschaftsverhältnissen eher unüblich ist. In erster Linie aber zeigt Bohnenkamps Dokumentation einen Kassner, der eigenständig und urteilsfreudig - manchmal emphatisch, häufiger aber ironisch-skeptisch - mitten in seiner Zeit steht: kein elitärer Einzelgänger, zu dem er später oft genug stilisiert worden ist, sondern ein wacher und durchaus herzlicher Zeitgenosse.
Eine literaturgeschichtliche Verbindung jenseits der persönlichen Beziehung besteht zwischen Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Kassner auch darin, dass sie beide als wichtige Repräsentanten des modernen Essays gelten. Die ersten Jahrzehnte nach der Jahrhundertwende sind oft und zu Recht als große Epoche des Essays beschrieben worden, in der diese kreative Textform zwischen philosophischer oder wissenschaftlicher Reflexion einerseits und subjektiver, oft genuin literarischer Artikulation andererseits eine quantitative und qualitative Hochzeit erlebt. Von einer zufrieden stellenden Erforschung der vielgestaltigen Essayistik um und nach 1900 kann indes nicht gesprochen werden, ebenso wenig von einer regen historischen und theoretischen Essayforschung insgesamt. Insofern sind Untersuchungen wie die nun erschienene von Slawomir Lesniak, die anhand der Autoren Thomas Mann, Max Rychner, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Kassner eine Typologie des modernen Essays entwickeln möchte, erst einmal sehr zu begrüßen.
Lesniaks Ansatz erscheint zunächst auch als plausibel: Entgegen der üblichen Fokussierung auf den kritischen und experimentellen Charakter des Essays - ein Verständnis, das einschlägigen, ideologiekritisch ausgerichteten Positionen vor allem Adornos, Benjamins oder Musils folgt - will er die besonderen Qualitäten der üblicherweise als konservativ bezeichneten Essayistik herausstellen und diese dadurch rehabilitieren. Die grundlegende Problematik des Buchs liegt auch nicht in diesem Vorhaben selbst, sondern in seiner methodischen Umsetzung und offenbart sich bereits in der Einleitung. Erstens findet Lesniak nicht zu einem präzisen essaytheoretischen Vokabular, sondern verbleibt in vagen metaphorischen Andeutungen, wenn er zum Beispiel den Essay als "Gefüge von dynamischen Kraftfeldern und Konfigurationen" bestimmt. Zweitens, und das wiegt schwerer, entwickelt er seine Typologie nicht aus der Textanalyse heraus, sondern gibt sie von vornherein vor und veranschaulicht sie dann nur noch in den einzelnen Kapiteln. Drittens schließlich sind die drei unterschiedenen Essaytypen - der Essay als Maßgebung (Thomas Mann), als Bewahrung (Max Rychner) und als magische Verwandlung (Hofmannsthal und Kassner) - weder an sich originell noch in der Zuordnung überraschend.
Die Folgen der Orientierung an den eigenen begrenzten Vorgaben werden dann in den einzelnen Kapiteln zu den Autoren offensichtlich, wobei hier nur das mit Abstand längste erwähnt werden soll, das sich mit Hofmannsthal und Kassner befasst - für Lesniak die eigentlichen Heroen des modernen Essays. Er gibt für ihre "essayistische Prosa des Magiertyps" zunächst einen Merkmalskatalog an: Ergriffenheit, Positivität, Anschaulichkeit, Exklusivität, Offenheit, Stilhöhe und die Technik des Verbergens seien kennzeichnend für ihre Texte. Auch abgesehen davon, dass solche Zuschreibungen schon in der älteren Forschung zu beiden Autoren gang und gäbe sind, stehen sie hier einer produktiven Lektüre eher im Weg als sie zu ermöglichen. Lesniak, der durchaus ein genauer Leser sein kann, gelangt dadurch in seiner Lektüre leider oft zu Allgemeinplätzen und kann sich zudem von seiner hagiografischen Perspektive nie lösen. Er folgt den - in der Selbststilisierung sehr geschickten - Autoren distanzlos in ihren Selbstkommentaren und spricht nicht selten von der "Zauberwirkung" oder "Erweckungskraft" ihrer Texte. Vor allem im Falle Kassners ist dieser exklusive und dabei uneigenständige Ton der Verehrung eher kontraproduktiv, bedeutet er doch letztlich Wasser auf die Mühlen derer, die in Kassner nur einen nebelhaften Rauner sehen, dem man nicht auf den Leim gehen sollte (wie zum Beispiel Christian Schärf in seiner einschlägigen Geschichte des Essays). Eine kritische, historisch würdigende Einschätzung der Bedeutung vor allem des frühen Kassner jenseits von Verehrung und Polemik steht also weiterhin aus.
Für das wichtige Forschungsfeld der modernen Essayistik ist Lesniaks Untersuchung also nur in begrenztem Maße hilfreich; viel versprechender ist hier der von Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann herausgegebene Band "Essayismus um 1900", der nun in der Reihe "Beihefte zum Euphorion" erscheint.
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