Der Expatriierte
Georg Herweghs Briefe 1832-1848 in der historisch-kritischen Werkausgabe von Ingrid Pepperle
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas editorische Vorhaben einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Georg Herweghs ist ein Teil deutsch-deutscher (Wissenschafts-)Geschichte. Die Anfänge dieses Unternehmens reichen bis in die 1960er Jahre zurück. Unter Leitung von Bruno Kaiser sollte an einer Arbeitsstelle der Akademie der Wissenschaften der DDR eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Herwegh'schen Schriften entstehen, von der aber nur der erste Band im Jahre 1971 erschienen ist ("Frühe Publizistik 1837-1841"). Als Bearbeiterin war unter anderen damals schon Ingrid Pepperle an dem Band beteiligt.
Über 30 Jahre später liegt nun mit Band 5 ("Briefe 1832-1848") zugleich der erste Band der in Verbindung mit Volker Giel, Heinz Pepperle, Norbert Rothe und Hendrik Stein von Ingrid Pepperle herausgegebenen kritischen und kommentierten Gesamtausgabe der Werke und Briefe Georg Herweghs vor. Das Scheitern der DDR-Ausgabe erklärt Pepperle in ihrem Vorwort mit der "Ungunst der Zeitumstände" und meint damit die Verschlechterungen der (politischen) Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit dem Mauerbau. Dass die damit verbundenen Repressionen wie "Reisebeschränkungen und fehlende Devisen" nicht nur den gemeinen Mann betrafen, sondern auch mithin die Wissenschaft und Forschung lähmen konnten, musste die Herausgeberin am eigenen Leib erfahren.
In der auf insgesamt sechs Bände angelegten Ausgabe sind jeweils zwei Bände für die Gedichte, Prosa und Briefe vorgesehen, die einer streng chronologischen Gliederung folgen, wobei der erste Band einer Werkgruppe mit dem Jahr 1848 endet und der zweite von 1849 bis 1875, dem Todesjahr Georg Herweghs, reicht. In dieser Bandzäsur, die sich, so die Herausgeberin, "sowohl aus dem Charakter als auch dem Umfang der Überlieferung" ergibt, spiegelt sich zudem die gerade in der Vormärzforschung immer wieder ausführlich diskutierte Frage der literaturgeschichtlichen Relevanz der gescheiterten Revolution von 1848/49. Die Bewertung von 1848/49 als epochengeschichtlicher Zäsur ist indes keine Erfindung der modernen Literaturwissenschaft, sondern geht letztlich auf die zeitgenössische Literaturgeschichtsschreibung - wenn auch von unterschiedlichen Standpunkten aus - eines Robert Prutz und Julian Schmidt zurück. Es wird nach Abschluss der Ausgabe zu prüfen sein, in welchem Maße sich diese Zäsur in den Herwegh'schen Schriften tatsächlich bemerkbar macht oder ob die Einteilung der Bände nicht besser mit editorischen und pragmatischen Argumenten zu begründen gewesen wäre. Denn anders als manche seiner liberalen Zeitgenossen, die sich, wie etwa Ferdinand Gregorovius, nach der Revolution enttäuscht von der Politik abwandten, hat Herwegh seine fundamentale radikal-demokratische Gesinnung und den Glauben an die Verwirklichung dieser Ideen - ähnlich wie später Johann Jacoby oder Carl Vogt - nie aufgegeben, geschweige denn eine Entwicklung zum Realpolitiker oder Liberalen wie Johannes von Miquel nach 1848 durchgemacht. Aussagen über epochengeschichtliche Zäsuren sollten nicht generalisierend, sondern jeweils differenziert aus biografischer, politischer, mentaler und ästhetischer Sicht getroffen werden.
Die Einrichtung der Ausgabe soll nach Wunsch der Herausgeber nicht nur modernen text- und quellenkritischen Ansprüchen genügen, sondern darüber hinaus auch noch die Grundlagen für "neue Forschungsansätze, versachlichte Auseinandersetzungen und differenziertere Wertungen" schaffen. Letzteres bleibt angesichts des immer noch weitgehend aus Anekdoten zusammengesetzten, maßgeblich von den Spekulationen über den so genannten 'Herwegh-Zug' (1848) geprägten Autor-Bildes und der außerhalb der Vormärz-Forschung weit verbreiteten Meinung vom bloßen rhetorisch-appellativen Charakter der Werke von Vormärzautoren zu hoffen. Was die Darbietung des Materials und den Apparat zumindest des jetzt vorliegenden ersten Briefbands anbelangt, kann nur von einem mustergültigen und viel versprechenden Auftakt dieser Edition die Rede sein.
Von den insgesamt 272 Briefen sind knapp 100 Erstveröffentlichungen, deren Handschriften zum größten Teil im Herwegh-Archiv in Liestal in der Schweiz - wo sich auch das Grab von Herwegh befindet - und im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar liegen. Sie umfassen den Zeitraum von Herweghs Aufenthalt im theologischen Seminar in Maulbronn (1832) über seine Tübinger Stiftszeit (ab 1835) und Schweizer Exiljahre in Emmishofen und Zürich (1839-1842) bis hin zu seinen durch wenige Reisen unterbrochenen und biografisch-weltanschaulich folgenreichsten Jahren in Paris von 1844 bis zur Revolution 1848. Viele der Briefe waren indes schon in älteren, von Marcel Herwegh (dem Sohn des Dichters) besorgten Ausgaben greifbar, allen voran die Briefe an Herweghs spätere Frau Emma Siegmund ("Georg Herweghs Briefwechsel mit seiner Braut", Stuttgart 1906) und jene an die Pariser Berühmtheit und 'Salonbetreiberin' Gräfin Marie d'Agoult, die spätere Frau Franz Liszts und Schwiegermutter Richard Wagners ("Au printemps des Dieux. Correspondence inedité de la comtesse Marie d'Agoult et du poète Georg Herwegh", Paris 1929).
Der Vorteil dieser älteren Briefbände besteht sicherlich auch darin, dass neben den Briefen von Herwegh, auch die jeweiligen Antwortschreiben abgedruckt sind. Da aber nicht nur die einzelnen Briefe hier erstmals in vollständiger Version, sondern auch das Briefmaterial insgesamt zusammenhängend und in chronologischer Reihenfolge vorliegen, wird diese Ausgabe in Zukunft maßgeblich sein. Doch selbst das Fehlen der Antwortschreiben, die man - zugegeben - oftmals gerne gelesen hätte, stört das Verständnis der Briefinhalte kaum. Hauptsächlich liegt das an dem hervorragenden und vorbildlichen Kommentar, der neben den üblichen editorischen Vermerken wie Handschriften-Standort und gegebenenfalls frühere Publikationen auch Stellenkommentare zu Personen der Zeitgeschichte, politischen Ereignissen und Sachbegriffen enthält. Sehr benutzerfreundlich sind zudem das übersichtliche und umfangreiche Namensregister, die vielfach in den Kommentaren angegebene Forschungsliteratur zu einzelnen Komplexen und - gar nicht genug zu loben - die Hinweise auf zeitgenössische Quellenliteratur. Ein Fehler, der sich im Siglen- und Abkürzungsverzeichnis zu wichtigen Publikationen und Editionen eingeschlichen hat, fällt dabei nicht so schwer ins Gewicht: im Stellenkommentar wird auf die Abkürzung "Lyrik I" verwiesen, die im Verzeichnis als Band I der hier vorliegenden historisch-kritischen Ausgabe aufgeschlüsselt und mit dem Erscheinungsjahr 2004 versehen wird. So sehr es zu wünschen wäre: Erschienen ist dieser Band noch nicht!
Aus Herweghs Briefen setzt sich die Lebensgeschichte eines mehrmals zwangsweise "Expatriierten" zusammen, dessen Interesse an Vaterland, Nation und Volk alles andere als oberflächlich war - so zumindest erscheint es in den Briefen (an Wilhelm Gerstel, 23. August 1839): "So leicht ich unter anderen Umständen mein Vaterland meiden könnte, so ungern meide ich es jetzt, weil ich muß." Selbst aus den Beschimpfungen des deutschen Volkes in seinen Briefen aus Paris ab 1844 an Madame d'Agoult, in denen er die Deutschen als "feige" und "niederträchtig" bezeichnet (8. März 1844), spricht nicht so sehr Verachtung, sondern eher Verbitterung über politischen Stillstand und Ahnungslosigkeit. Manche Diagnosen und Beurteilungen gerade der deutschen Mentalität (der Zeit) decken sich nicht nur mit modernen historischen Erkenntnissen und Einschätzungen, sondern vermögen auch zu dokumentieren, mit welcher Klarsicht bisweilen die Außenperspektive auf das Vaterland erfolgt. So schreibt Herwegh am 22. Januar 1846 Karl Heinzen aus Paris: "Sie [die Revolution] wird kommen - ja, aber ich fürchte wie ein Naturereigniß, und die brutale Explosion kann uns Alle mit in die Luft führen. Der Deutsche will nun einmal nicht eher in's Wasser gehen ehe er schwimmen kann und nicht durch's Feuer ohne sich ein Bischen die Finger zu verbrennen."
Im politisch-ideologischen Werdegang Herweghs zeichnet sich auch das Profil einer ganzen Epoche in ihren grundlegenden (literatur-)ästhetischen und politischen Tendenzen ab. Noch aus der Zeit seiner 1841 zum ersten Mal und mit enormen Erfolg publizierten "Gedichte eines Lebendigen" - in denen sich mitnichten ausschließlich politische Gedichte finden lassen - finden sich Briefe, die mehr einen Liberalen, Konstitutionellen durchscheinen lassen, der "weder an die Monarchie noch an die Republik" glaubt: "Dreißig Constitutionen sind mir in der Seele zuwider, Eine deutsche soll mir willkommen sein; dreißig Könige u. Herzöge möchte ich zum T. jagen, Ein Fürst soll mir willkommen sein." (an Max Cohen, 29. Juli 1841).
Gegen Mitte der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts tritt uns allerdings ein weitaus radikalerer Herwegh entgegen, was sich zunächst in seinen bitteren Verwünschungen der Liberalen äußert, "die bis auf den letzten Mann ausgerottet werden müssen" und "die wie wir gern so ein Stückchen Freiheit hätten, wenn sie ihnen nur gebraten ins Maul flöge" (an Emma Siegmund, 18. Februar 1843). Herweghs zunehmend radikal-demokratische Gesinnung, die ihm den von Heine geprägten Beinamen "Eiserne Lerche der Revolution" einbrachte, schlägt sich nicht zuletzt auch in der Wahl der Briefpartner, wie Julius Fröbel und Johann Jacoby, nieder. Für den im 19. Jahrhundert orientierungslosen Leser mögen manche persönlichen Angriffe auf sonst unter dem Begriff des 'Jungen Deutschland' zusammengefassten Autoren bzw. Politiker merkwürdig erscheinen. So nennt Herwegh Karl August Varnhagen van Ense eine "Canaille", Heine ist "nicht gut und nicht schlecht, etwas falsch, höchst kokett und sehr gutmütig" und Johann August Georg Wirth findet er "unerträglich". Aus den bissigen Kommentaren zu den fürstlichen 'Pensionären' Ferdinand Freiligrath und Franz Dingelstedt spricht weniger der Neid - Herwegh war seit der Heirat 1843 durch seine Frau finanziell recht gut gestellt - als vielmehr die Enttäuschung über ehemals 'Verbündete'.
Mit den politischen Strömungen und Parteien ist gleichsam ein Komplex angesprochen, der in den letzten Jahren von der historischen Forschung vielfach und äußerst differenziert behandelt wurde. In dieser Edition von Herweghs Briefen zeigt sich einmal mehr, wie wichtig es für das Verständnis von Vormärzautoren ist, bei der Zuordnung eines Autors zu einer bestimmten politischen Strömung äußerst differenziert und präzise zu sein. Die wechselseitigen Konflikte zwischen Einheit, Freiheit und Gleichheit wurden eben nicht zwischen den 'Reaktionären' und 'Oppositionellen' ausgetragen, die Fronten verliefen - bei allen Gemeinsamkeiten - im Lager der letzteren. Wer die Briefe Herweghs aufmerksam liest und ergänzend dazu den sehr informativen Kommentar benutzt, wird viel von diesem Konflikt erfahren.
Bei all dem ist die Lektüre der Briefe alles andere als trocken. Im von Herwegh vielfach geäußerten "Drang zum Briefeschreiben" kommt die Ureigenschaft des Mediums, nämlich Informationsvermittlung und Gedankenaustausch, in sehr eindrucksvoller Weise zum Ausdruck. Auch die teilweise von 'glühender Leidenschaft' geprägten gut 50 Briefe an Madame d'Agoult vor allem aus den Jahren 1844 und 1845 - als Herwegh schon verheiratet war - machen uns zu Zeugen einer wenn auch nicht ausgelebten, doch beginnenden, zuweilen nicht nur unterhaltsamen, sondern auch mitreißenden Liebesgeschichte.
Dass ausgerechnet die historisch-kritische Werkausgabe eines Autors, der wie kaum ein anderer mit der Zensur und Repressionen durch die staatlichen Ordnungsmächte zu kämpfen hatte, gerade durch freiheitsfeindliche politische Umstände und Ereignisse einst nicht zustande kam, mag fast dazu verleiten, so manche Passage aus diesem Briefband auch auf die deutsche Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem auf die Deutsche Wiedervereinigung hin zu lesen und im Zustandekommen dieser nun so hervorragend begonnenen Ausgabe die Bestätigung dieser Aussagen - auf der Ebene der Allgemeingültigkeit - zu sehen: "Aber so muß es kommen; sie treiben uns selbst mutwillig dem Ziele entgegen, an dem die ganze jetzige Lügenwirtschaft scheitern muß. Sie sollen fühlen, was Menschen im Stande sein werden, denen die Freiheit Religion ist." (an Emma, 6. Januar 1843).
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