Der Kontrakt des Dichters

Marc Petits kurioses kleines Goethebuch

Von Jan WesterhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Westerhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Morgen des 1. Oktober 1831, vierundzwanzig Jahre nach dem 1. Oktober des Jahres 1807 springt ein junger Amerikaner über die Gartenmauer von Goethes Haus am Frauenplan. Sein Ziel ist eine frühe Variante der homestory: "A Day in the Life of Jouhän Wuolfgäng Gouthee", dem gefeierten Autor des "Wörhter", "Eggmount" und "William Master" für eine transatlantische Provinzpostille.

Dies ist der Auftakt, mit dem der französische Germanist und Literaturprofessor Marc Petit sein kurioses kleines Goethebuch beginnen läßt. Zuerst wähnt man sich inmitten einer Journalistensatire: In althergebrachter Paparazzomanier versucht der junge Lucian Blackwell sich in Goethes Haushalt einzuschleichen, um an druckreife intima aus dem Alltag des Weimarer Titanen zu gelangen. Dies gelingt jedoch nur bedingt. Zuerst landet der irritierte Amerikaner in der Dachstube der Ottilie von Goethe, die ihn unter Rezitation schmachtender Byronverse zu sich aufs Kanapee zu ziehen versucht, wo er nur mit Mühe der Gefahr entgeht, von den vierzig Bänden der Cotta'schen Ausgabe erschlagen zu werden.

Doch hierbei wird es nicht bleiben. In diesem, wie auch in den anderen vertrackt gebauten Romanen Petits, die in Deutschland teilweise hymnische Besprechungen erlebten, ist nichts so wie es zunächst scheint. Geheimrat Goethe gibt sich seinem Besucher gegenüber zunächst gar nicht so unwillig, wie man es vielleicht vermuten sollte. Im Gegenteil, mit Goethes Genehmigung schlüpft der Verwandlungskünstler Blackwell in die verschiedensten Rollen, und beide, Blackwell und Goethe, gestalten jenen 1. Oktober als Echtzeitinszenierung des damaligen, uns in Band 13 der Goetheschen Tagebücher überlieferten Besuchsprogramms. Zunächst werden Sekretär John alias Blackwell einige Briefe und Abschriften zur Erledigung gegeben, es folgt ein Mittagessen mit Hofrat Dr. Vogel - wiederum alias Blackwell -, ein Hauskonzert mit dem klavierspielenden "automatischen Engel" Clara Wieck, eine Kupferstichauswahl mit Hofrat Meyer und so weiter und so weiter bis zum Ende des vollgeladenen Audienzprogramms. Und als es Nacht wird am Frauenplan inzeniert das Duo Blackwell/Goethe selbst des Dichters Träume von den schwankenden weiblichen Gestalten seiner Jugend mit Hilfe einer laterna magica.

Im Lauf des Tages beginnt jedoch langsam durchzuschimmern, was dieser Mr. Blackwell wirklich im Sinne hat - nämlich an das letzte, gut gehütete, versiegelte geheimrätliche Geheimnis Weimars zu kommen: den zweite Teil des "Faust", der in irgendeinem Sekretär des Hauses auf seine Eröffnung nach des Meisters Tod wartet. Doch Marc Petit wäre nicht er selbst, wenn das schon die letzte Volte dieses tadellos durchkonstruierten und rücksichtlos anspielungsreichen Romans wäre, der für Goethekenner und Weimarbesucher gleichermaßen eine literarische Delikatesse darstellen dürfte. Denn erst ganz zum Schluß wird klar, um wen es sich bei jenem alten und weitgereisten Herrn handelt, der sich hinter der Maske Lucian Blackwells verbirgt, und weshalb Goethe mit ihm auf so vertrauten Fuße steht. Der Originaltitel ist hier wesentlich eindeutiger: Ist Goethe der "dritte Faust", scheint es nicht weiter unklar, welcher Handlungsreisende kurz vor Goethes Lebensende hier noch einmal vorbeischaut, um die eine oder andere Frage zu klären...  

Titelbild

Marc Petit: Goethes letztes Geheimnis. Roman, dt. von Rolf und Hedda Soellner.
dtv Verlag, München 1999.
174 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3423202688

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