Zwischen Engagement und Schöngeist

Eine neue Biografie über Harry Graf Kessler

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch beginnt mit einem Motto aus einem Brief von Richard Dehmel an Harry Graf Kessler und skizziert den Beschreibungsgegenstand der Biografie: "Ich meine, Sie werden die Memoiren unserer Zeit schreiben. Das ist gerade richtig für Sie, daß Sie alle Leute, die Etwas bedeuten, in allen Lebenslagen kennen lernen müssen. Ich beneide unsere Enkel darum, daß sie das lesen können." Allerdings erweitert sich die Bedeutung des Zitats um weitere Interpretationsebenen, wenn man die Bibliografie erst einmal vollständig gelesen hat.

Im positiven Sinne ist es genau das von Dehmel beschriebene Szenario, das den Leser erwartet. Ein Blick in die europäischen Metropolen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, von einem Weltreisenden, oder besser, vor allem von einem Europareisenden. Morgens ist Kessler in Paris, am Mittag in London, dann in Berlin und zum Abendessen speist er wieder in Paris... und so fort, Tag für Tag. Hinzu kommen die Begegnungen Kesslers mit Diplomaten und Künstlern, Literaten und Musikern, dem europäischen Adel und Vertretern der Politik. Kesslers Biografie wird damit indirekt zu einem Spiegel der kulturellen Vielfalt Europas.

Wenn man allerdings den Klappentext des Bands mit dem Leseerlebnis der Biografie vergleicht, kann man den Erläuterungen darin nicht folgen, die bei Kessler von der "Entdeckung einer Jahrhundertfigur" sprechen. Diese Aspekte seines Lebens wurden auch schon in den beiden Biografien von Peter Grupp (Harry Graf Kessler 1868 - 1937. Eine Biographie, 1995) und Burkhard Stenzel (Harry Graf Kessler. Ein Leben zwischen Kultur und Politik, 1995) erörtert und man ist eher gewillt, die lesenswerten Aspekte der Arbeit Eastons woanders zu suchen: "Und wie betriebsam sein Leben war, genau das ist Thema dieses Buches. [...] An der Verbreitung der modernen Kunst in Deutschland wirkte er [...] mit. Er spielte eine entscheidende Rolle bei dem Bemühen, die impressionistische und nachimpressionistische Malerei aus Frankreich nach Deutschland zu holen." Und die Aufzählung wird noch fortgesetzt mit Kesslers gescheiterten Bemühungen in der Weimarer Museenlandschaft, seinem Engagement für das Theater und als Leiter der Weimarer Cranach-Presse. Und damit wird Kessler zu einem Homo movens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, ein Repräsentant der Moderne und ihrer im Vergleich zum 19. Jahrhundert erheblich erhöhten Geschwindigkeit - und damit auch ein Modell für die der damit einhergehenden Oberflächlichkeit, Austauschbarkeit und Ermüdung durch kulturelle Vielfalt und Übersättigung: "Gewisse Obsessionen, vorgefaßte Meinungen und Themen geraten zu Mustern, die dem aufmerksamen Leser kaum entgehen werden."

Im negativen Sinne interpretiert, und vor allem wenn man dem schnellen Leben des Grafen nicht so viel abgewinnen kann, könnte der nicht so wohlwollende Betrachter die Geschwindigkeit und vor allem die Flüchtigkeit der Kessler`schen Begegnungen, die Beliebigkeit der Ortswechsel und der sich wiederholenden Reise- und Begegnungsrituale auch als die Biografie einer Persönlichkeit lesen, die sich in der Zerstreutheit und Beliebigkeit der Moderne verliert und damit natürlich auch ein Paradigma des 20. Jahrhunderts liefert. So betrachtet kann die Monographie als die Beschreibung eines paradigmatischen Lebens am Beginn und gleichzeitig am Ende der Moderne gelesen werden - im repräsentativen Sinne.

Allerdings gibt es auch noch einen weiteren Aspekt der Biografie des Grafen zu entdecken: sein politisches Engagement und seine Wandlung vom Diplomaten des Deutschen Reichs zum Pazifisten: "Er zählte überdies zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Demokratischen Partei, der drittgrößten Partei zu Anfang der Republik, die ein Kernelement der Weimarer Koalition bildete. Zu jener Zeit geschah es, dass seine Feinde auf der politischen Rechten Kessler als den "roten Grafen" brandmarkten."

Damit werden die Bereiche miteinander verbunden, die Kesslers Biografie besonders interessant und vielleicht auch einzigartig machen, das Zusammenspiel von "Politik" und "Kultur". Die Zusammenschau dieser Begrifflichkeiten rekurriert immer wieder auf dem Kesslers Lebensorganisation zugrunde liegenden Begriff der "Ästhetik", in der Kunst sowohl als auch im Staat. Kessler ist ein Paradigma für das Wechselverhältnis von Kunst und Politik und wie man Politik durch ein ästhetisch überprüfbares Programm zu einer Politik der Verständigung und des Pazifismus führen und entwickeln kann - und natürlich auch wie man mit so einem Konzept an der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts scheitert - als Ausstellungsmacher, als Diplomat und letztendlich auch als Leiter der Cranach-Presse. Und gerade mit diesem Scheitern gehört Kessler zu den exponierten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Dieses in vielen Bereichen hermetische Leben mit Transparenz und Sinn zu füllen, das kann man dem Biografen vorwerfen, der seinem eigenen Vorgaben mehr als nur gerecht wird, wenn er über seine Aufgaben räsoniert: "Es geht darum, unserem Dasein und der Welt, in der wir leben, einen Sinn abzugewinnen." Ein gutes Ansinnen, das da auf nahezu jeder Seite exemplifiziert wird, auch wenn gerade in den schließenden Bemerkungen vielleicht ein wenig über das Ziel hinaus geschossen wird: "Kessler beeindruckt auch als Prophet, der die Welt, in der wir leben, und jene, die möglicherweise noch kommen wird, vorhergesehen hat."

Dies kann man dem Autor nachsehen, hat er doch eine großartige, unterhaltsame, kompetente und sehr ausgeglichene Biografie vorgelegt, die den verschiedenen Aspekten der Kessler`schen Existenz vermutlich sehr nahe kommt.


Titelbild

Laird McLeod Easton: Der rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Klaus Kochmann.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
575 Seiten, 39,50 EUR.
ISBN-10: 3608936947

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