Demonstrare contra docere - Figuren des Unbestimmbaren

Roland Barthes "Neutrum"

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich handelt es sich bei Barthes "Neutrum" um keinen zur Veröffentlichung konzipierten wissenschaftlichen Text, sondern um recht ausführliche Notizen zu einer Vorlesung, welche der Romanist während eines dreizehnwöchigen Sommersemesters im Jahre 1978 am Collège de France hielt. Ebenso ungewöhnlich wie die Legung der Lesung auf einen Samstag ist das Verweigern einer systematischen Vorgehensweise bei der Präsentation der 23 (ursprünglich 30) Figuren, an denen Barthes das Neutrum vorführt. Die gewollt arbiträre Vorgehensweise erstreckt sich von der willkürlich-begrenzten Literaturauswahl - der Bibliothek seines Sommerhauses entstammend - über die Reihenfolge der Abhandlung selbst, welche sich an einer Tabelle aus einer Statistiken-Zeitschrift orientiert.

Was genau aber ist das Neutrum für Barthes?

"Ich definiere das Neutrum als dasjenige, was das Paradigma außer Kraft setzt, oder besser: Neutrum nenne ich dasjenige, was das Paradigma außer Kraft setzt. Denn ich definiere nicht ein Wort; ich benenne eine Sache [...]." Das Paradigma verwendet Barthes dabei synonym mit 'Konflikt'. Das Neutrum meidet den sinnerzeugenden Konflikt, der aus der Realisierung einer Option unter Zurückweisung der anderen Möglichkeiten entsteht, was für Barthes stets die Opferung eines Sinns mit sich führt. Als ein sogenanntes "Tertium" unterläuft es die binäre Struktur, die dem Paradigma innewohnt. Konsequent ist daher auch die gewählte aleatorische Darstellungsweise, indem sie auf formaler Ebene das Komplement ihres Inhalts stellt: Da das Neutrum "vom Zugriff des Sinns gelöst ist", d. h. da es sich der Dogmatik entzieht, musste das Paradigma zugleich in der Darstellungsweise vermieden werden, da es ansonsten dem Prinzip des Neutrums auf formaler Ebene widersprochen hätte.

Zu den Figuren (im Sinne von Erscheinungsbildern), die Barthes in seinem Versuch, das Neutrum aufzuzeigen, dem Rezipienten präsentiert, zählen unter anderen das Zartgefühl, die Farbe und das Adjektiv. Dabei zeigt sich das Neutrum im Zartgefühl als das Prinzip, das einen Genuss des Analysierens einer verbalen Operation bedeutet, welche "das Erwartete unterläuft [...] und andeutet, daß das Zartgefühl eine Perversion ist, die mit dem überflüssigen (funktionslosen) Detail spielt" in Form einer Zerlegung und Zweckentfremdung; es ist das Ordnungslose, Sukzessive, das Barthes als "'anekdotischen' Diskurs" begreift. Im Bereich der Farben hingegen offenbart sich das Neutrum im Farblosen, wobei der Semiologe das Farblose in der Farbe Grau von dem Transparenten differenziert betrachtet, da es ihm insbesondere um die "bedeutungstragende Opposition [...] zwischen dem Farbigen und dem Farblosen" geht. Barthes setzt die klassische Opposition zwischen Schwarz und Weiß implizit außer Kraft, indem diese beiden Farben auf semantischer Ebene gegenüber dem Farblosen gemeinsam in die Klassifikationsreihe der betonten Farben fallen, während das Farblose über das semantische Merkmal [unbetont] sich antithetisch zu Schwarz und Weiß verhält. Diese Opposition sei jedoch schwierig zu denken, da sie sich selbst zerstöre, indem sie sich zwischen "Unterscheidung und Ununterschiedenheit" setzt. Genau dies sei das Prinzip des Neutrums und mache es zu etwas Schwierigem, Provokantem und Anstößigem: "weil es ein Denken des Nichtunterschiedenen beinhaltet, die Versuchung des letzten (oder ersten) Paradigmas: des Unterschiedenen und des Nichtunterschiedenen."

Hierbei gerät das Neutrum für Barthes zum Reflektor der Ambivalenz. Es verhält sich keineswegs neutral. Seine Funktion der Aufhebung des Konflikthaften erfüllt das Neutrum durch sein Dazwischentreten gegenüber den ambivalenten Termen als ein dritter, komplexer Term, der jedoch für den Semiologen kein Nullterm ist, wie er am Beispiel des Adjektivs und seiner "Qualität des Begehrens" demonstriert. Vielmehr besetzt das Neutrum die Position eines Gradienten, was die Einführung der Subtilität in die paradigmatische Struktur zur Folge hat.

Roland Barthes wurde am 12. November 1915 in der französischen Hafenstadt Cherbourg geboren. In den 30er Jahren begann er an der Pariser Sorbonne sein Studium der Klassischen Literatur, Grammatik und Philologie. Die Erkrankung an Tuberkulose und der daraus folgende mehrjährige Aufenthalt in Sanatorien verhinderte die Erlangung der Doktorwürde, so dass Barthes zunächst als Gymnasiallehrer an verschiedenen französischen Schulen unterrichtete. Ende der 40er-Jahre lehrte er am Französischen Institut in Bukarest und an der Universität von Alexandrien in Ägypten. 1962 ernannte man ihn zum Studiendirektor an der École Pratique des Hautes Études. Im Jahre 1976 wurde er Professor am Collège de France, wo man ihm einen Lehrstuhl für literarische Semiologie einrichtete, den er bis zu seinem Tod am 26. März 1980 innehatte.

Barthes selbst ordnete seine publizierten Werke drei verschiedenen Phasen zu. In der ersten Phase, die ungefähr in die erste Hälfte der 50er-Jahre fällt, wendet er sich mit "Am Nullpunkt der Literatur" und "Mythen des Alltags" der Sprache bzw. dem Diskurs zu und intendiert - angeregt durch die Schriften de Saussures - "die Verurteilung der kleinbürgerlichen Mythen" über die Semiologie. Sie findet ihre Ablösung im Jahre 1957 in der wissenschaftlichen Phase, die die Zeit zwischen 1957 und 1963 markiert, wo Barthes an einer semiologischen Analyse der Mode arbeitete, bis er sich in seiner dritten und letzten Phase verstärkt dem Text zuwendet, in die auch das "Neutrum" hineinfällt.

Dabei markieren die Jahre 1966 und 1967 den thematischen Bruch, der sich für Barthes durch die Rezeption der Schriften des Dekonstruktivisten Jacques Derrida ereignete. Bei Barthes, der zuvor als Schüler Roman Jakobsons - dem Begründer des Prager Strukturalismus - der strukturalistischen Theorie anhing, vollzog sich nun eine Umorientierung, indem er sich dem Verfahren der Dekonstruktion und der von Derrida propagierten "Öffnung des Zeichens" zuwandte. Obgleich Barthes dem semiologischen Ansatz treu blieb, rettete er sich vor der logozentristischen Ausrichtung auf den Zeichenbegriff de Saussures durch die Einbeziehung der intertextuellen Verfahrensweise in sein literatursemiologisches Projekt.

Weniger ging es Barthes um die Dekonstruktion der Texte an sich. Im Vordergrund stand für ihn vielmehr das Spiel mit ihrer Lesart. Diese Bedeutung des Spiels findet sich radikalisiert im "Neutrum" wieder, wo das Herauslesen der einzelnen Figuren, in denen das Neutrum aufzufinden ist, aus diversen, nach dem Zufallsprinzip zusammengestellten Texten erfolgt. Dabei fügt sich das "Neutrum" aufgrund des freien Stils, in dem es verfasst ist, gleichsam in das Gesamtwerk des Professors; immer wieder stößt der Rezipient bei der Lektüre der einzelnen Figuren auf intertextuelle Bezüge zu vorangegangenen Werken Barthes - wie etwa seine beiden Aufsätze "Sade 1" und "Sade 2" über die Strukturen der pornographisch-philosophischen Schriften des Marquise de Sade oder aber seine essayistische Abhandlung "Am Nullpunkt der Literatur".

Bisher wurde dem "Neutrum" von der Forschungsliteratur nahezu keine Beachtung geschenkt, obgleich es gerade den 'veränderten' Barthes im Signum seines Spätwerks näher charakterisiert. Dies erfolgt in seiner Vorlesung einerseits über die vom Zufall bestimmte Vorführung des Neutrums und sein spielerisches Unterlaufen des Paradigmas. Andererseits tritt in seinen Notizen zum "Neutrum" zugleich der sich radikalisierende Hang zum Literarisch-Artifiziellen zum Vorschein, welcher sich in dem Suchen des Neutrums in dem Diskurs nach Art einer Abschweifung des Begehrens offenbart.


Titelbild

Roland Barthes: Das Neutrum.
Herausgegeben von Eric Marty.
Übersetzt aus dem Französischen von Horst Brühmann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
347 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3518123777

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