Zettelkastens Alptraum

Klaus von Beyme schreibt viel und erklärt nichts. Pech für den Leser

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die kunsthistorische Zunft ist, scheint's, deutlich gesprächiger, wenn nicht schwatzhafter als die literaturwissenschaftliche. Wo in der Literaturwissenschaft die Detailstudien und die Sammelbände das Feld beherrschen, lassen sich in der Kunstgeschichtsschreibung eigentlich zu jedem Thema und Zeitabschnitt umfangreiche Monografien finden. Dass Klaus von Beyme dem "Zeitalter der Avantgarden" eine eigene Abhandlung widmet, ist also nicht ungewöhnlich, dass sie knapp 1000 Druckseiten umfasst, hingegen dann doch. Die Erwartungshaltung, vom Autor in seiner Einleitung kräftig geschürt, ist entsprechend hoch. Haben wir es hier mit einem künftigen Standardwerk, mit der wenigstens für eine gewisse Zeit gültigen Abhandlung zum Thema zu tun?

Von Beyme selbst lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass genau das sein Ziel ist: Kunst, Gesellschaft, Analyse sind die Stichwörter schon im ersten Satz. Dem folgt beinahe unmittelbar die Beifall heischende These, dass die "beispiellose Theoretisierung der Kunst immer auch eine Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Heillosigkeit dieser Welt gewesen" sei und der Hinweis auf die wohl für alle Theoriegebäude kompatible Behauptung von der besonderen Sensibilität der Künstler. Indem von Beyme darauf hinweist, dass die formalästhetische Diskussion zwar der Entwicklung von Stilen und der Abfolge der Stilbrüche folgen kann, sie aber nicht erklärt, rührt er zudem an einem wunden Punkt. Allerdings irritiert die Lektüre schon bald, trotz des Vorschusses, den man dem Buch bereitwillig gibt. Denn die "ganzheitliche Betrachtung von Künstlern und Werken", die in der Postmoderne angeblich gefordert werde, versteht von Beyme erst einmal beinahe umstandslos so, dass nicht nur Werk und Theorie, sondern eben auch die Lebensumstände, ja, die "Frauengeschichten" beispielsweise Picassos Berücksichtigung finden müssten, selbstverständlich auf hohem Niveau.

Eine derartige "analytische Totalität" verspricht von Beyme denn auch zu liefern. Aber weder die Frauen- noch die Kunstgeschichten, die dann folgen, geraten auch nur in die Nähe von Analyse oder Totalität. Wir haben es lediglich mit einem in einigermaßen stimmigen Fluss gebrachten Druck eines zugegeben riesigen Zettelkastens zu tun. Nach einer Lektüre von 870 Druckseiten (die abschließenden 130 Seiten werden vom Literaturverzeichnis eingenommen) ist keine der Fragen, die zum Komplex der Avantgarde möglich wären, wirklich gestellt oder gar beantwortet. Weder die Entstehung der Avantgarde noch ihre Geschichte werden geschildert, analysiert oder erklärt. Von Beyme hat anscheinend weder interessiert, in welchem Verhältnis die Avantgarde zu ihren konventionellen Vorläufern wie Kombattanten stand, noch hat er sich auf eine Soziologie der Kunst konzentriert. Er folgt weder dem Ansatz Pierre Bourdieus und lokalisiert die Avantgarde im sozialen Feld noch orientiert er sich an Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Georg Lukács oder Peter Bürger, um nur ein paar der gesellschaftswissenschaftlich argumentierenden Theoretiker anzuführen (die immerhin als eine Art Theorie-Sternschnuppen am Firmament von Beymes erkennbar werden).

Stattdessen legt von Beyme ein einigermaßen grobes Raster zugrunde, in dem zwar die sozialen Grundlagen und die Theorien der Avantgarde wie ihr Verhältnis zur Politik unstrittige Elemente sind. Aber die insgesamt 23 Kapitel werden bevorzugt mit Charakterisierungen und Skizzen gefüllt, die nie auch nur ansatzweise reflektiert oder systematisiert sind. Natürlich ist es interessant zu erfahren, welche Varianten der "Einheit von Leben und Kunst" in der Avantgarde kurrent waren und wie die Versuche aussahen, sie zu realisieren. Natürlich ist die Frage von Belang, wie die geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen und -konzepte in der Avantgarde aussahen. Natürlich sind die Strategien aufschlussreich, mit denen die Avantgardekünstler den Kunstmarkt zu besetzen suchten, und nicht weniger interessant ist ihr Verhältnis zur Demokratie und zu den verschiedenen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Aber wenn denn nun die Avantgardisten meistens Männer waren und meistens arg konventionell bis rüde mit ihren Lebensgefährtinnen umgingen, wäre doch wohl nicht zuletzt eine Erklärung dieses Widerspruchs zu erwarten. Weshalb also hie Umwälzung der Verhältnisse, dort aber ihre bedingungslose Bestätigung? Von Beyme antwortet darauf nicht, wie er auf vieles andere nicht antwortet. Weder erklärt er das Skandalon der Avantgarde, noch beschreibt er es. Weder begründet er das widersprüchliche Auftreten der Dadaisten, die die Kunst ebenso vorantrieben wie ihre Auflösung in gesellschaftliche Aktion behaupteten, noch schreibt er die Geschichte dieses Teils der Avantgarde.

Dabei hat gerade eine sozialwissenschaftlicher Perspektive der Kunst besonders viel zu bieten. Immerhin entstehen die historischen Avantgarden im selben Zeitraum, der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in der sich die Industriegesellschaften der nördlichen Hemisphäre ihr uns heute so vertrautes Gesicht geben. Sie entstehen in dem Moment, in dem die bislang vergleichsweise gemächliche Entwicklung der Gesellschaft sich rasant beschleunigt. Bisher selbstverständliche Denk- und Handlungsmuster, ja ganze Orientierungssysteme verfallen binnen weniger Jahre. Walter Benjamins Satz von der Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren sei, nach dem Krieg aber in einer Welt stehe, in der nichts unverändert geblieben sei als der nackte Leib des Menschen selbst und der Himmel über ihm, zeigt die enormen Brüche an, die die Zeitgenossen der Avantgarde erlebten. Und Benjamin hatte, als er diese Bemerkung schrieb, weder den Holocaust noch die atomare Bedrohung vor Augen. Zudem sind damit die Entscheidungszwänge auch der Avantgarde in den verschiedenen politischen Systemen nicht einmal berührt. Solche Hinweise zeigen, dass gerade für die Frage nach den Hintergründen der Politisierung von Kunst wie dem Verhältnis von Kunst und Politik von Seiten der Sozialwissenschaften ganz andere Thesen zu erwarten wären als von der Ästhetik oder der Kunstkritik.

Dem aber verweigert sich von Beyme. Er verzichtet auf eine theoretische Richtschnur, die es ihm erlauben würde, seine Darstellung von der Materialsammlung zur Studie, ja zur Analyse zu machen. Stattdessen wertet er die einschlägigen Künstlermonografien und Quellen aus und sortiert seine Exzerpte in ein Raster ein, das wohl eher einer weiter nicht hinterfragten Konvention als einer Argumentation oder einer durchgängig verfolgten These geschuldet ist. Das führt zu Redundanzen und Anachronismen, von den zahlreichen Stilblüten und kaum nachvollziehbaren, dafür aber gern beiläufig eingestreuten Urteilen einmal abgesehen. Dass Georg Grosz beinah "lächerlich" amerikophil gewesen sei, erfahren wir gleich mehrfach. Wyndham Lewis lobt Hitler auch mindestens zweimal dafür, dass er den Sumpf der Homosexualität in Berlin trocken gelegt habe. Ob man in einer Analyse homosexueller Paare "gedenken" muss, wage ich zu bezweifeln. Schließlich kann man ja über Georg Lukács Rolle in den Literaturdebatten der zwanziger und dreißiger Jahre geteilter Meinung sein. Wenn ihn aber von Beyme als willfährigen Helfer Stalins charakterisiert, wäre dafür in einer Studie zur Avantgarde eigentlich eine einigermaßen nachvollziehbare Begründung zu erwarten gewesen. Davon fehlt aber jede Spur. Dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts - Benjamin folgend - die Aura des Kunstwerks verschwunden sei, bedürfte eigentlich auch einer näheren, vielleicht sogar kritischen Erläuterung. Auch davon nichts.

Am Ende der Lektüre stehen also vor allem eine lange Mängelliste und zahlreiche Fragezeichen. Das Fehlen eines eigenen theoretischen Zugriffs oder auch nur eines spezifischen Darstellungsinteresses, das über Sammelleidenschaft hinausgeht, ist erschreckend bemerkbar. Eine Analyse der historischen Avantgarden jedenfalls hat Klaus von Beyme nicht vorgelegt, und das ist wirklich sehr schade.


Titelbild

Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
996 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3406535070

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