"Nur" eine Tagung?

Über den zwölften Band des Johnson-Jahrbuches

Von Rainer Paasch-BeeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Paasch-Beeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur, weil das erste Spiel der Fußballweltmeisterschaft immer näher heranrückt, lohnt es sich, einen Blick auf die in diesem Metier gepflegten Weisheiten zu werfen. Dazu gehört sicher diejenige, die besagt, dass das zweite Jahr immer sehr schwer wird. Das gilt für eine Mannschaft, die nach dem Aufstieg in eine höhere Spielklasse, idealerweise natürlich die Bundesliga, dort in ihrem ersten Jahr für Furore gesorgt hat. Erfahrene Beobachter wissen, dass es immer wieder schwer fällt, dieses Niveau auch im Folgejahr zu halten. Nicht wenige Mannschaften sind daher in ihrem zweiten oft sang- und klanglos abgestiegen. Ähnliches gilt auch bei einem Trainerwechsel: Hat "der Neue" in seinem ersten Jahr noch frische Impulse gesetzt und problemlos Begeisterung geweckt, so kehrt auch hier oft schnell Ernüchterung ein.

Man durfte daher gespannt sein, wie sich das Johnson-Jahrbuch in seinem zweiten Jahr nach dem Trainer-, pardon: Herausgeberwechsel auf Michael Hofmann präsentieren würde. Zuerst die gute Nachricht. Der Herausgeber und seine Assistenten haben die Klasse gehalten, die Fans und Leser können sich auch auf das neue Team verlassen. Das Jahrbuch ist pünktlich und im gewohnten Umfang erschienen. Dafür stehen nicht zuletzt die 14 unterschiedlichen Beiträge.

Aber der zwölfte Band des Jahrbuches sorgt nicht für Aufsehen, ja, vielleicht schwächelt er sogar ein wenig. Woran liegt das? Vor allem daran, dass der Herausgeber sich in dem zweiten von ihm verantworteten Band zu sehr zurückgezogen hat. Denn eigentlich ist diese Anthologie eher eine Tagungsdokumentation denn ein Johnson-Jahrbuch, wie es seine Leserinnen und Leser seit 1994 gewohnt sind. Der Band enthält und präsentiert nämlich die meisten Beiträge der Bremer Johnson-Tagung vom Juni 2005 und daneben leider nur noch je einen Text in den Rubriken "Analyse" und "Kritik". Hofmann hat sogar auf seinen Herausgeberanteil im "Editorial" verzichtet und dieses Feld komplett den Initiatoren der Bremer Tagung überlassen. Kein Wunder also, dass diese sich bei ihm für "die Öffnung dieses Forums und die redaktionelle Betreuung der Beiträge" bedanken. Und tatsächlich ist es bemerkenswert, dass in diesem Jahrbuch nicht einmal ein halbes Jahr nach dem Ende der Tagung fast alle Beiträge abgedruckt werden können. Gewiss keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich vor Augen hält, wie lange man sonst oft warten muss, bis die so genannten "Tagungsbände" endlich das Licht der Leserwelt erblicken.

Einerseits also sicher erfreulich, dass die Johnson-Interessierten so schnell nachlesen und bewerten können, was auf der wichtigsten Johnson-Veranstaltung im zurückliegenden Jahr vorgetragen und diskutiert wurde. Andererseits aber waren alle bisherigen Ausgaben des Jahrbuchs doch mehr als ein "bloßer Tagungsband", auch wenn Holger Helbig und seine Mitherausgeber natürlich immer wieder eine Reihe von Beiträgen der unterschiedlichsten Johnson-Tagungen in den 90er Jahren veröffentlicht hatten. Mit Interviews, Neuentdeckungen aus dem Archiv, streitbaren Analysen und nicht zuletzt einem umfangreichen und lebendigen Kritikteil bildete es stets das breite Spektrum der Forschungen und Aktivitäten zu Uwe Johnson ab. All das fehlt aber fast ganz im vorliegenden zwölften Band. Man fragt sich natürlich, ob das der Herausgeber wirklich so gewollt hat, oder ob ihn nicht die Spielerinnen und Spieler, sprich: die vielen Johnson-Philologen und -Aktivisten, im Stich gelassen haben. Vielleicht gab es ja auch nur keine Angebote, vielleicht gab es keine neuen Arbeiten, die vorzustellen oder zu kritisieren waren? Bleibt zu hoffen, dass der nächste Band diese Befürchtung aus der Welt schaffen kann.

Zurück zu den Beiträgen der Bremer Tagung. Ihre Initiatoren haben die drei Schwerpunkte "Erzählverfahren", "Gedächtnisräume" und "Identitätskonstruktionen" gesetzt, die im Rahmen des Bandes ungefähr den gleichen Raum einnehmen. Weil letzterer die interessantesten Beiträge stellt, soll er hier im Mittelpunkt stehen. Moritz Baßler widmet sich in seinem Text über "Deutsch-englische Hybridbildungen" der Tatsache, dass im "hochdeutsch verfassten" Roman "Jahrestage" in der erzählten Welt kaum je Hochdeutsch gesprochen wird. Verantwortlich dafür ist zum einen der Schauplatz New York, zum anderen aber auch Gesine Cresspahls Tochter Marie, die hier aufwächst, sozialisiert wird und das amerikanische Englisch quasi als zweite (Mutter-)Sprache erlernt. Es dürfte lohnenswert sein, Baßlers Text mit dem Beitrag des Erlanger Übersetzers Andreas Lorenczuk zu vergleichen, den dieser auf der Londoner Tagung 2004 geleistet hat.

Matteo Galli von der Universität in Ferrara begibt sich auf die Suche nach den "Urfragen", die im Hinblick auf den hoch komplexen Roman "Jahrestage" immer noch auf eine Lösung warten. So macht auch er sich auf die Suche nach den Traumata, die die Protagonistin auf ihrem Weg durch die fast 1900 Seiten des Romans begleiten. Und auch er stellt die Frage nach der Bedeutung Prags und den mit den Ereignissen des Augusts 1968 gescheiterten Hoffnungen - nicht nur für Gesine.

Nachdem sich bereits im letzten Band des Jahrbuches gleich drei unterschiedlich gelungene Beiträge mit dem Verhältnis der Texte Johnsons zu Christa Wolf befassten, ergreift nun auch Odile Jansen ("Die Wahrheit der Erinnerung") das Wort in dieser Debatte. Wir erfahren dabei viel und zweifellos Interessantes über Benjamin und Adorno, hätten uns aber auch über einige Neuigkeiten zu dem von ihr aufgegriffenen Thema gefreut. Denn dass Wolfs und Johnsons literarische Bewältigungsversuche persönlicher und nationaler Traumata "grundverschieden" sind, wird den meisten Lesern nicht unbekannt sein. Und auch Jansens Behauptung, dass Wolfs Roman "Kindheitsmuster" sich "in mancherlei Hinsicht wie ein Doppelgänger zu den Jahrestagen verhält", ist nicht gerade neu. Ob sie hingegen auch richtig ist, darüber hätte man gerne mehr gelesen. Es wäre sicher reizvoll, einmal zu fragen, was die "Betroffene" von Jansens Beschreibung Christa Wolfs als "sein [d. i. Johnsons] in vielerlei Hinsicht ähnliches weibliches Ebenbild" hält. Johnson hätte sich wahrscheinlich über eine solche Zuschreibung gewundert. Gar nicht einverstanden wäre er aber damit gewesen, wenn Jansen schreibt, dass Johnson einen Großteil seiner Kindheit im pommerschen Cammin, heute Kamién Pomorski, verbracht habe. Denn dort wurde er nur geboren.

Wolfgang Emmerich, der schon häufig in gewichtigen Beiträgen für Uwe Johnsons herausragenden Platz - auch innerhalb der DDR-Literatur - gestritten hat, widmet sich diesem spannenden Thema hier noch einmal unter dem "Zeichen der Gründungsmythen". Kein Zufall, dass er dafür die Antipoden Hermann Kant und Johnson gegenüberstellt. Emmerich beschäftigt sich ausführlich mit Johnsons Aufsatz "Versuch eine Mentalität zu erklären". Dieser kleine Text von 1970 ist zu Unrecht bis heute immer wieder unterschätzt worden. Emmerich unterstreicht erfreulicherweise seinen Rang bei der Beschäftigung mit Johnsons Sichtweise auf die DDR, dem Land, das er zwar 1959 endgültig verlassen, das er aber nie aus den Augen verloren hat.

Dafür, dass es dann doch kein "reiner Tagungsband" geworden ist, sorgt der verdienstvolle Beitrag des Tübinger Mediziners und Ethikers Matthias Bormuth, der sich in einem sehr differenziert argumentierenden Text nach vielen anderen noch einmal mit der schwer zu fassenden "Figur" der Lisbeth Cresspahl, der Mutter Gesines, beschäftigt. Er tut dies unter dem Titel "Der Suizid als Passionsgeschichte" und kommt dabei zu Erkenntnissen, die zukünftige Untersuchungen nicht werden übersehen können. Es ist dabei sicher sehr hilfreich, dass sich mit Bormuth ein Exeget an dieses schwierige Thema gemacht hat, der sowohl mit dem notwendigen Vokabular als auch dem medizinisch-psychlogischen Wissen ausgestattet ist. Nach manchen verwirrenden Thesen in der "Jahrestage"-Literatur stellt Bormuths (in Anlehnung an Karl Jaspers und dessen Schüler Kurt Schneider entwickelte) Bezeichnung von Lisbeth als einer "selbstunsicheren Persönlichkeit" eine solide Grundlage dar, mit der die Johnson-Philologie in Zukunft gut wird arbeiten können. Bleibt zu ergänzen, dass Bormuth seine Ausführungen zu Lisbeth Cresspahl dezidiert in den Kontext der Auseinandersetzung mit der Shoah stellt. Seine Andeutungen in Hinblick auf den Einfluss Hannah Arendts auf Johnson lassen auf weitere Funde hoffen.

Ganz am Ende dieses versteckt etikettierten "Tagungsbandes" steht dann unter "Kritik" ein Beitrag Roman Kerns, der sich einer ganz anderen Tagung widmet. Kern stellt die Vorträge der Londoner Johnson-Tagung vom September 2004 vor. Wer nicht warten möchte, bis der einschlägige Tagungsband zu der Londoner "Jubiläumstagung" im Frühjahr 2006 erscheint, kann bei Kern schon einmal einen Vorgeschmack bekommen.

Während nun alle auf das erste WM-Spiel der deutschen Mannschaft warten, sammelt Michael Hofmann schon längst wieder Beiträge für das neue, das dann dreizehnte Johnson-Jahrbuch. Wir freuen uns auf spannende Spiele und auf ein lebendiges Johnson-Jahrbuch 2006.


Titelbild

Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 2005. 12. Jahrgang.
Herausgegeben von Michael Hofmann.
V&R unipress, Göttingen 2005.
211 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-10: 389971251X

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